Kapitel 63 - Dezember 1965

Ahilea

Schon seit zwei Tagen hatte Ahilea Peter nun nicht mehr gesehen. Zwei Tage waren vergangen, seit sie erfahren hatte, dass ihre Eltern nicht mehr am Leben waren. Zwei Tage, in denen sie alles hatte stehen und liegen lassen und die Flucht ergriffen hatte. Und eine noch viel längere Zeit war vergangen, seit sie das letzte Mal Blut getrunken hatte. Langsam aber sicher war der Durst nicht mehr auszuhalten. Tag und Nacht knurrte ihr Magen protestierend und warnte sie, was mit ihr geschehen würde, sollte sich nicht bald etwas daran ändern.

Um sich abzulenken, betrat Ahilea eine kleine Bar, damit sie sich wenigstens etwas zu trinken gönnen könnte, wenn sie schon kein Blut hatte. Es war zwar nicht die beste Alternative, so etwa, als würde man statt Wein Traubensaft bekommen, aber immerhin besser als nichts.

Die Bar erweckte einen einigermassen seriösen Eindruck und war eigentlich ganz schön eingerichtet. Der Boden war aus grauem Stein, die Wände mit Tapeten verkleidet und es gab gemütlich aussehende Sitzecken, die aus Sofas in Blautönen bestanden. Doch Ahilea schnappte sich einen Hocker an der Bar. Somit konnte sie auch den Eingang gut im Blick halte, schliesslich war es Peter gut zuzutrauen, dass er jeden Moment hier hereinspaziert kommen könnte.

Ein freundlich aussehender Mann Mitte fünfzig brachte ihr den gewünschten Cocktail, welchen sie in einem Zug leerte und einen neuen verlangte. Normalerweise war sie keine grosse Trinkerin, doch gerade in diesem Augenblick konnte sie etwas Ablenkung dringend gebrauchen. Und um einmal ehrlich zu sein, dieser pinke Cocktail, der Himbeere beinhaltete, schmeckte einfach himmlisch. Doch als sie das zweite Glas vor sich hatte, starrte sie es lediglich an. Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich eine ihr bekannte Frau auf den Hocker neben ihrem eigenen schob und sie anlächelte.

Erstaunt sah Ahilea in Lillian Watsons hübsches Gesicht. «Lillian? Was machst du denn hier?», wollte sie überrascht wissen. Lillian zuckte mit den Schultern. «Ich habe mitbekommen, was mit dir geschehen ist und daher habe ich einige Zeit damit verbracht, herauszufinden, wo du bist, damit ich mich persönlich davon überzeugen kann, dass es dir gut geht. Was aber anscheinend nicht der Fall ist», fügte sie mit einem Blick auf Ahileas Cocktail hinzu. Diese seufzte. Sie wollte nicht, dass Lillian sie für eine Trinkerin hielt, wollte aber auch ehrlich mit ihr sein. Und auch mit sich selbst, denn es brachte garantiert nichts, sich, sowie anderen, etwas vorzugaukeln. «Mir geht es beschissen. Ständig habe ich Angst, dass Peter mich findet und dazu bringt, mit ihm zurückzugehen. Und das kann ich nicht. Ich will es auch nicht», sprach sie daher die Wahrheit aus.

Lillian nickte verständnisvoll. «Das kann ich gut verstehen, nach all dem, was sie dir angetan haben.» Dann schwieg sie kurz. «Aber was machst du jetzt, Ahi? Du hast keine Familie mehr, kein Job, kein Geld, keine Wohnung?» Ahilea seufzte. «Ach, Lil. Wenn ich das nur wüsste.»

Nachdenklich musterte Lillian sie. «Ich könnte dich mit zu mir nach Hause nehmen und du könntest ein Mitglied meines Clans werden.» Erstaunt horchte Ahilea auf. «Das würde gehen? Aber was ist mit Mr Und Mrs Watson, bei denen du lebst? Würden sie einfach so noch eine weitere Person in ihrem Haushalt aufnehmen?»

Lillian nickte. «Auf jeden Fall. Wie du bestimmt weisst, lebe ich auch erst seit kurzer Zeit bei ihnen, aber sie sind für mich jetzt schon wie Eltern geworden. Ich habe auch schon angetönt, dass ich dich möglicherweise mit nach Hause bringen würde und sie waren sofort damit einverstanden. Sie vertrauen mir, da sie wissen, dass ich über gute Menschenkenntnisse verfüge, oder besser gesagt Vampirkenntnisse», verbesserte sie sich mit einem Blick auf Ahileas nun nicht mehr menschliches Erscheinungsbild. Dann sah sie Ahilea fragend an. «Aber würdest du mit mir kommen wollen?» Fast sofort nickte Ahilea zustimmend. Sie brauchte auf Dauer eine Bleibe. «Gerne», sagte sie dankbar. Daraufhin zog Lillian sie von ihrem Hocker hoch und legte beschützend einen Arm um sie. «Dann lass uns gehen.»

Lillian legte noch ein paar Dollar auf den Tisch, um für Ahileas Getränke zu bezahlen, dann verliessen die beiden Frauen Seite an Seite die Bar. Lillian war mit dem Auto hergekommen, weshalb Ahilea nun vor genau diesem stand. Es hatte sie ein bisschen erstaunt, dass Lillian über ein Auto verfügte, denn dies bedeutete zu dieser Zeit, dass man wohlhabend war. Andererseits waren so ziemlich alle Familien eines Clans einflussreich und besassen so vermutlich auch reichlich Geld. Genug, um sich ein Auto zu kaufen. Aber sie sollte sich hier kein voreiliges Urteil bilden, immerhin ging es dabei um die Familie, bei der sie bald schon leben konnte. Tief atmete sie noch einmal durch, zog dann die Tür auf und setzte sich auf den Beifahrersitz. Konnte es wirklich möglich sein, dass dies gerade wirklich geschah? Konnte sie so viel Glück haben, dass sie womöglich bald eine neue Familie hatte und einem Clan angehören würde? Die Antwort lautete ja.

Während der Fahrt redeten die beiden nicht viel. Ahilea hing ihren Gedanken nach und Lillian konzentrierte sich auf die Strasse und den Verkehr, welcher um diese späte Uhrzeit jedoch schon nachgelassen hatte. Und viel zu schnell war die Fahrt auch schon zu Ende. Zögerlich stieg Ahilea aus und betrachtete das Haus, vor welchem sie angehalten hatten. Es war weiss gestrichen und freistehend. Das Dach war grau, doch das konnte Ahilea nur erahnen, da es schon beinahe dunkel war zu dieser Zeit. Auffordernd winkte Lillian, die mittlerweile vor der Haustür stand, Ahilea zu sich und diese kam dem langsam nach. Sie war furchtbar nervös. Zwar hatte sie Mr Und Mrs Watson schon aus der Ferne gesehen, aber noch nie ein Wort mit den beiden gewechselt. Natürlich war sie in der Annahme, dass die zwei nett waren, doch sie war Fremden gegenüber schon immer vorsichtig gewesen. Schliesslich wusste sie so gut wie gar nichts über die Watsons.

Lillian klopfte an und keine Sekunde später wurde die Tür auch schon aufgerissen und das Gesicht von Mrs Watson erschien im Türrahmen. Sie hatte lange schwarze Haare und strahlend blaue Augen. Zudem war sie hochgewachsen und hatte eine kurvige Figur. Alles in allem eine atemberaubende Erscheinung. Freundlich lächelnd bat sie die Beiden herein und Lillian führte sie ins Wohnzimmer, wo sich auch Mr Watson befand. Er hatte ebenfalls dunkle Haare und ebenso dunkle Augen, die aber freundlich wirkten.

«Ahilea, es freut uns, dich kennenzulernen», sagte er herzlich und zog sie in eine Umarmung. Damit überrumpelte er die nervöse Ahilea zwar, jedoch war ihr der plötzliche Körperkontakt keineswegs unangenehm. Ganz im Gegenteil, sie fühlte sich sicher und geborgen in seinen starken Armen. Sobald er sie losgelassen hatte, wurde sie auch von Mrs Watson umarmt.

«Es ist schön, dich wiederzusehen, mein Kind.» Ahilea lächelte dankbar. «Danke, dass ich hier sein darf, Mrs Watson.» Diese machte eine wegwerfende Handbewegung. «Nicht so förmlich. Ich bin Eleanor und das ist Ethan.»

Zögerlich nickte Ahilea. Einen solch ungezwungenen Umgang war sie sich nicht gewöhnt. Doch zum Glück liess ihr Lillian keine Zeit, um lange darüber nachzudenken, sondern kam gleich zur Sache. «Mom, Dad, ich wollte euch fragen, ob Ahilea nicht hier wohnen könnte und ein Teil dieser Familie, ein Teil dieses Clans, zu werden?» Die Watsons schienen von dieser Frage nicht überrascht zu sein, denn Ethan stand augenblicklich auf und lief zu dem Telefon, welches an der Wand hing. Fragend sah Ahilea Eleanor an. Diese bemerkte ihren Blick und erklärte: «Ethan ruft Mr Night, unseren Clananführer an, um ihn um Erlaubnis zu bitten. Wir haben uns nämlich schon gedacht, dass Lillian uns darum beten würde, für den Fall, dass sie dich finden würde.» Das leuchtete Ahilea ein. Doch Eleanor fuhr fort. «Weisst du, Ahilea, Lillian hat uns viel über dich erzählt und wir würden dir wirklich gerne helfen, zumal du einen echt sympatischen Eindruck erweckst und wir nur Gutes über dich gehört haben. Du hast ein schönes Leben, eine Familie und einen Clan verdient.» Diese Worte rührten Ahilea zu Tränen und schniefend wischte sie sich über die Augen. Natürlich wusste Ahilea, dass es einige Zeit dauern würde, bis sie das Geschehene verarbeitet haben würde, doch hier bot sich ihr eine einmalige Chance auf ein glückliches Leben in Sicherheit.

Während Ethan telefonierte, erzählten Lillian und ihre Mom Ahilea einige Details über ihren Clan. Gespannt hörte Ahilea zu. Es lief hier alles ganz anders ab, als bei den DeLarias, viel besser. Hier gab es Regeln und Ordnung, die auch eingehalten wurden. Blut wurde meist nur von bereitwilligen Menschen konsumiert oder sogar nur dasjenige, dass aus dem Krankenhaus stammte. Es gab Versammlungen, in denen Probleme besprochen werden konnten und Tage, an denen man seine Anliegen persönlich mit dem Clananführer besprechen konnte. Alles war so viel geordneter und besser organisiert, als bei den DeLarias. Hier interessierte man sich für die einzelnen Mitglieder und zwang sie auch nicht dazu, zu bleiben. Jeder konnte von sich aus gehen, sollte er das wollen. Und diese Tatsache sprach eindeutig für den Clan.

Schliesslich kam Ethan zurück und alle drei sahen ihn fragend an. Als Lillians Dad lächelte, fühlte Ahilea sich unglaublich erleichtert. Und Lillian schien es ebenfalls so zu gehen, wenn man sie ihren Gesichtsausdruck richtig deutete. Aber wieso sollte es Lillian auch anders gehen, immerhin war sie diejenige, die Ahilea überhaupt erst hierhergebracht hatte. Diejenige, die dafür gesorgt hatte, dass Ahileas Leben von nun an bergauf gehen würde.

«Richard ist einverstanden, Ahilea soll morgen zu ihm kommen, damit noch alle Formalitäten geklärt werden können», erklärte Ethan, nachdem er immer noch fragend angesehen wurde. Auch er sah zufrieden aus. Es war schon ein wenig befremdlich, immerhin kannte er Ahilea erst seit ein paar wenigen Minuten. Umgekehrt war es aber genauso der Fall. Ahilea konnte noch immer nicht glauben, dass das alles so einfach war. Doch anscheinend war dem wirklich so. Das Schicksal war eindeutig auf ihrer Seite. Was sie aber auch verdient hatte, nachdem sie so viel Leid erfahren hatte. Entspannt lehnte sie sich zurück, ein glückseliges Lächeln auf dem Gesicht. Auch Lillian und ihre Adoptiv-Eltern wirken zufrieden, sowie erleichtert. Lächelnd stand Lil auf und schloss Ahilea in ihre Arme.

«Willkommen in der Familie, Schwester.»

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top