Kapitel 56


Ashton

Keine Minute zu spät erreichte ich unseren Treffpunkt und sah auch schon Ahilea und Ashley warten. Ahilea sah ein wenig so aus, als würde sie sich nicht ganz wohl fühlen. Natürlich konnte ich dies verstehen, für sie war alles noch so neu hier. Die Umgebung, die Mitglieder und noch einiges mehr. Doch mir war es wichtig, dass sie trainierte, um stärker, schneller und besser zu werden. Wir alle benötigten ein Training, doch Ahilea besonders, zumal sich ihre Gabe auch noch nicht gezeigt hatte. Doch Ben und ich waren der Hoffnung, dass wir dies heute ändern konnten. Wir hatten einige Übung darin, Vampiren beim Aufspüren ihrer Gabe zu helfen und den nötigen Antrieb dazu zu geben. Wir wussten also definitiv, wie wir die Sache angehen mussten. Gerade auch für Ahilea war es momentan sehr wichtig, gut aufzupassen und wenn möglich ihre Gabe zu gebrauchen, da man nie wissen konnte, ob nicht plötzlich eines ihrer ehemaligen Clanmitglieder auf die Idee kommen würde, ihr aufzulauern und anzugreifen. Es war nicht einmal so abwegig, dass dies geschah und daher sollte sie darauf vorbereitet sein. Und ich würde ihr dabei helfen.

«Seid ihr bereit?», fragte ich die beiden Frauen, sah dabei aber meine Freundin an. Es fühlte sich so unglaublich gut an, Ahilea so zu bezeichnen. Denn genau dies war sie. Meine Freundin. Beide nickten, die eine sehr begeistert, die andere ein bisschen zurückhaltender. Für Ashley war es aber auch nicht ihr erstes Training und sie kannte alle schon. Und sie war auch nicht so schüchtern wie Ahilea, die doch auch ziemlich introvertiert war. Ich klatschte euphorisch in die Hände und bedeutete ihnen, mir zu folgen.

Auf dem Weg zum Trainingsplatz, erklärte ich Ahilea die wichtigsten Dinge. «Wir lernen hier zu kämpfen und wie wir unsere Gaben richtig einsetzen können. Wichtig dabei ist, dass niemand hier verletzt wird. Es ist nur Übung, was einige manchmal vergessen, da sie sich selbst oder anderen etwas beweisen wollen.» Ich deutete auf den kreisrunden Platz, den wir mittlerweile erreicht hatten. Es waren ausser uns noch fünf andere Clanmitglieder, inklusive Ben, anwesend. Dieser kam auf uns zu, ein breites Lächeln auf dem Gesicht. Ben war fast immer gut drauf. Es gab nur selten Momente, in denen er niedergeschlagen war. Und wütend hatte ich ihn noch nie erlebt.

«Wie schön, dass ihr da seid. Ashley, du kannst gleich zu den anderen gehen und dich einwärmen. Ich habe ihnen schon Anweisungen gegeben, worum es heute geht. Ich werde mit Ash und Ahilea arbeiten.» Ashley nickte und weg war sie. Ben nickte uns freundlich zu und nahm Ahilea damit ihre Nervosität. Ihre Schultern entspannten sich sichtlich. Seltsamerweise schien es, als vertraute Ahilea ihm, obwohl sie ihn kaum kannte. Natürlich konnte mein Gefühl mich auch trügen, doch das tat es eher selten.

Ben wies uns an, ihm zu folgen, da er etwas abseits trainieren wollte, was mir recht war. Ahilea sah mich zögerlich an, kam Bens Aufforderung dann aber nach. Dieser drehte sich zu uns um und fixierte Ahilea. «Ich schlage vor, wir fangen heute mit ein paar Verteidigungsübungen an und gehen später dazu über, deine Gabe herauszufinden. Bist du damit einverstanden, Ahilea?» Sobald diese ihre Zustimmung gegeben hatte, begannen wir auch schon, uns mit Dehnungsübungen einzuwärmen. Ahilea stellte sich dabei recht geschickt an, doch ich hatte auch nichts anderes von ihr erwartet, um ehrlich zu sein.

«Du musste schneller sein, Ahilea! Schneller und besser», belehrte Ben sie, nachdem sie zum dutzendsten Mal voll auf dem Hintern gelandet war. «Glaub mir, das weiss ich auch», sagte sie frustriert und stellte sich wieder in der Anfangsposition auf. Nur um gleich darauf wieder auf dem Allerwertesten zu landen. Wieder und wieder, es nahm einfach kein Ende. Langsam tat sie mir echt leid. Zumal Ben auch nicht aussah, als hätte er vor, diese Tortur in den nächsten Minuten zu beenden. Nein, wie ich ihn kannte würde er es erst tun, sollte sie es beherrschen. Und das könnte noch eine ganze Weile dauern.

«Ja, das ist besser so, Ahilea», rief er irgendwann nach gefühlten Stunden. «Langsam hast du den Bogen raus, schätze ich.» Diese Worte bescherten Ahilea ein Lächeln, so strahlend schön wie die Sonne an einem wolkenlosen Tag.

Nachdem etwa zehn weitere Minuten vergangen waren, stoppte Ben und stellte sich breitbeinig auf. Er winkte Ahilea näher zu sich und begann zu erklären. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, da ich diese Verteidigungsart schon längst beherrschte. Und das sollte jetzt nicht eingebildet wirken, doch ich hatte bereits über hundert Jahre Training hinter mir und eine solche Übung forderte mich schon längst nicht mehr heraus. Also begnügte ich mich dabei, zuzusehen, wie Ben sie Ahilea erklärte. Oder besser gesagt, ich begnügte mich damit, Ahilea anzustarren. Sie machte aber auch eine hammer Figur in ihrer enganliegenden Kleidung, die ihre Kurven gut in Scene setzte.

«Bei dieser Strategie geht es darum, den Gegner gegen sich selbst auszuspielen und sich seine eigenen Vorteile zu Nutze zu machen. Das wäre in deinem Fall deine geringere Körpergrösse und deine Schnelligkeit. Man könnte meinen, dass ich im Vorteil bin, da ich grösser, stärker und schwerer bin, doch dem ist nicht so. Du bist durch deine geringere Körpermasse viel beweglicher und schneller, das musst du ausnutzen. Hast du soweit alles verstanden?» Ahilea nickte und weiter ging es. Jetzt hatte es einmal einen Vorteil, dass sie so klein und zierlich war. Und es erweckte auf mich auch den Eindruck, als würde sie etwas auftauen und nicht mehr allzu nervös sein. Ich wandte mich ab und begann, mein eigenes Programm durchzuziehen.

Eine gute Stunde später war ich komplett mit Schweiss überströmt. Er lief nur so an mir herunter, doch da ich es wir gewöhnt war, störte es mich nicht gross. Eine heisse Dusche und die Welt war wieder in Ordnung. Ahilea ging es ähnlich, auch sie war vollkommen verschwitzt und sie sah ziemlich erschöpft aus. Doch der wirklich anstrengende Teil für sie kam erst jetzt. Ben, sie und ich setzten uns im Schneidersitz in einen Kreis. Das Ziel war es, dass Ahilea tief in sich hineinhörte und nach ihrer Gabe rief. Mit geschlossenen Augen kam sie dem auch nach, das Gesicht vor Anstrengung zu einer Grimasse verzogen. Es verging eine Minute, dann fünf und schliesslich zehn. Und immer noch war nichts geschehen.

«Ich fühle nichts, Ben», zischte Ahilea durch zusammengebissene Zähne. «Da ist einfach nichts.» Doch mein Freund liess sich davon nicht beirren. «Natürlich ist da etwas in dir. Du musst es nur fest genug finden wollen.» Ahilea lachte bitter auf. «Ach, glaub mir, nichts lieber als das.» Natürlich konnte ich mir gut vorstellen, dass sie mittlerweile frustriert war. Mir würde es vermutlich ähnlich gehen. Nur dass ich mich nie in dieser Situation befunden hatte. Gott sei Dank. Sie verzog das Gesicht, ich konnte schon beinahe ihre Zähne knirschen hören, so fest hatte sie sie zusammengebissen. Das konnte doch nicht mehr angenehm sein!

Doch plötzlich spannte sich Ahilea sichtlich an und öffnete gleich darauf die Augen. Mir stockte der Atem, mein Mund sprang auf. In diesen wunderbaren grauen Augen wütete ein tosender Sturm und es schien fast so, als wäre Ahilea nicht ganz bei Sinnen. Plötzlich zog ein heftiger Wind auf und fuhr ihr durch die Haare, welch nach hinten geweht wurden. Dies entlockte ihr ein Lächeln, welches mir ehrlich gesagt ein wenig Angst einjagte. Abrupt verstummte der Sturm, als Ahilea eine kleine Handbewegung machte. Es schien fast so, als wäre ihre Gabe immer schon da gewesen, denn sie hatte sie vollkommen im Griff. Erneut hob sie die Hand und eine leichte Brise erfasste uns. Die Wolken, die sich bis soeben am Himmel befinden hatten, zogen von einem Augenblick auf den anderen in Windeseile weiter.

Meine Augen wurden grösser, wahrscheinlich ähnelten sie jetzt Untertassen. «Ahilea, weisst du, was das bedeutet?» Sie lächelte. »Scheint fast so, als hätte ich meine Gabe gefunden. Oder eher sie mich.» Ja, wahrscheinlich war es so herum. «Sie fühlt sich wie ein Teil von mir an», staunte sie. «Das habe ich dir doch auch oft genug gesagt, Ahilea», erinnerte Ben sie. «Deine Gabe ist ein Teil von dir, wenn nicht sogar ein sehr ausschlaggebender Teil.» Auch er wirkte sehr zufrieden, immerhin hatte es ihn bestimmt so einige Nerven gekostet. Und es war auch sein Verdienst, das Ahilea schliesslich Erfolg gehabt hatte. Er hatte sich jedoch nie etwas anmerken lassen, keine Sekunde lang und das rechnete ihm hoch an. Der Schlüssel zum Erfolg war eben doch Geduld, das hatte sich heute wieder einmal als richtig erwiesen. Immer noch lächelte Ahilea und ich konnte sie flüstern hören: «Ich habe sie endlich gefunden.»

Damit hatte sie natürlich recht, doch es war nicht bloss eine gewöhnliche Gabe. Nein, überhaupt nicht. Ihr war etwas vergönnt, das ein nur sehr seltenes Privileg war. Ein sehr mächtiges und bedeutendes Privileg. Bisher war mir nur jemand weiteres begegnet, der dies von sich behaupten konnte. Und dieser Jemand war mein Dad. Doch Lukas Westfall war auch ein absoluter Ausnahmefall. Er verfügte nämlich über zwei Gaben; Elementarmagie und auch noch Gedankenlesen. Dies machte ihn zu einem beinahe unbesiegbaren Gegner und ich vermutete, es war auch das ausschlaggebende Argument dafür gewesen, dass unser damaliger Anführer ihn zu seinem Stellvertreter gemacht hatte. Doch dies war lange vor meiner Zeit gewesen und also nur reine Vermutung. Ich hatte Dad nie darauf angesprochen.

Meine Gedanken wanderten wieder zurück zu Ahilea, die immer noch glücklich lächelnd neben mir sass und in den Himmel starrte. Sie beherrschte die Luft und verfügte somit über Elementarmagie. Dies machte sie zu einer sehr mächtigen Gegnerin und um ehrlich zu sein, ich wollte nicht in der Haut ihrer Feinde stecken. In der Haut unserer Feinde.

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