Kapitel 54 - November 1965
Ahilea
Immer noch war da diese Dunkelheit. Sie umhüllte Ahileas Verstand wie eine Wolke, doch war so unnachgiebig wie eine Mauer aus Stahl. Doch hie und da war da ein kurzer Lichtstrahl, der spielerisch um sie herumtanzte und Ahilea dazu aufforderte, dagegen anzukämpfen. Gegen den unsagbaren Schmerz, den sie jede Sekunde verspürte. Er war grausam und kaum auszuhalten, so, als würde eine ätzende Säure sie von innen heraus zersetzen. Wie ein Feuer, das in ihrem Körper wütete und nicht aufzuhalten war. Zwischendurch sah sie immer wieder das Gesicht ihrer Mutter, die ihr etwas mitteilen wollte. Doch Ahileas vernebelter Verstand konnte nicht verstehen, was ihre Mom ihr zu sagen hatte, egal, wie sehr sie sich anstrengte. Irgendwann hatte sie es schliesslich aufgegeben und stellte sich dem Schmerz.
Von diesem Augenblick an schien es, als würde sich ihr Zustand langsam aber sicher verändern. Verbessern. Es war, als wäre sie unter Wasser und schwämme auf die Oberfläche zu, aber etwas hielt sie zurück. So als wäre sie gefangen in Algen, die zu unnachgiebig waren, um sich von ihnen befreien zu können. Ahilea stiess ein wütendes und verzweifeltes Knurren aus und riss sich schliesslich mit einem Ruck los, der sie all ihre Kraft gekostet hatte, alle Energie, die noch verfügbar gewesen war. Sie schwamm auf die Oberfläche zu und durchbrach sie schliesslich keine Sekunde zu spät, kurz bevor ihr Atem versagte, weil sie keine Luft mehr übrighatte.
Laut nach Luft schnappend fuhr Ahilea kerzengerade hoch und sah sich panisch um. Wo war sie? Was war mit ihr geschehen? Irgendwie fühlte sie sich anders, besser als zuvor. Das Klicken einer aufgehenden Tür liess sie zusammenzucken. Sie vernahm das Geräusch viel schärfer, als sie sich zu erinnern meinte. Viel zu laut dröhnte das Geräusch in ihren empfindsamen Ohren und verursachten ihr stechende Kopfschmerzen. Ihre Hand schoss zu ihrer Stirn und sie stöhnte gequält. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie die noch leicht verschwommene Gestalt, die eintrat und schliesslich schärfer wurde, sobald die Kopfschmerzen sich etwas gelegt hatten.
Erleichtert konnte sie erkennen, dass es Peter war, der eingetreten war und die Tür hinter sich verschloss. Zögerlich trat er an das Bett, auf dem sie sass, und musterte sie. Er wirkte eigenartig nervös. Aber warum? Ahilea kam einfach nicht darauf. Aber ihr Verstand war auch noch etwas umwölkt. «Wie geht es dir, Ahilea?» Diese räusperte sich, da sie ihrer Stimme noch nicht so recht vertraute. «Ich fühle mich wie gerädert», krächzte sie. Mein Gott, sie klang beinahe wie eine Kettenraucherin! Ihre Kehle fühlte sich trocken an. Peter seufzte. «Mir ging es damals auch nicht anders, glaub mir.»
Diese Worte liessen Ahilea atemlos innehalten, die Schmerzen waren plötzlich in den Hintergrundgerückt und vergessen. «Was meinst du mit damals? Was hat das alles zu bedeuten, Peter? Sag mir die Wahrheit!», entfuhr es ihr geradezu panisch. Peter seufze tief und setzte sich zögerlich an die Bettkante, hielt jedoch genügend Abstand zu ihr, um sie mit der plötzlichen Nähe nicht zu überfordern oder gar zu erschrecken. Er wusste, dass sie sehr aufgebracht war und er es ihr schonend beibringen musste, um sie nicht noch mehr in Panik zu versetzen.
«Schau, Ahilea, du wärst gestorben. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Mein Dad hat dir zu viel Blut genommen, als dass dein Körper dies überlebt hätte.» Ahilea begann langsam, zu realisieren, was er ihr damit sagen wollte. Entsetzt weiteten sich ihre Augen und sie sagte panisch: «Sag mir nicht, dass es das ist, wovon ich denke, dass es ist.» Er sah sie mitleidig an, in den Augen grosses Bedauern. «Es tut mir leid, Lea. Aber es ging nicht anders. Du gehörst jetzt zu uns. Du bist ein Vampir.»
Dies hatte Ahilea schon befürchtet, doch als Peter es aussprach, war es so endgültig. Sie schluchzte erstickt und da konnte Peter sich nicht mehr beherrschen und zog sie an sich. Sie verbarg das Gesicht an seiner Brust und genoss seine vertraute Nähe, die sie in den letzten Wochen sosehr vermisst hatte. «Es tut mir so leid, Lea. Aber ich war egoistisch und konnte dich nicht sterben lassen. Dafür liebe ich dich zu sehr», flüsterte er ihr ins Ohr. Natürlich konnte Ahilea es verstehen und hätte an seiner Stelle vermutlich genau gleich gehandelt. Trotzdem erwiderte sie nicht darauf. Sie wusste einfach nicht, was sie hätte sagen sollen. Sie hatte nicht lügen und sagen wollen, dass es okay war. Denn das war es nicht, ganz und gar nicht. Peter schien es ihr jedoch nicht übel zu nehmen, sondern fuhr damit fort, ihr übers Haar zu streichen.
Am liebsten hätte sie stundenlang in dieser Position verbracht, doch das hätte auch nichts mehr daran geändert. Sie war kein Mensch mehr. Nein, sie war jetzt ein blutsaugendes Monster. Dieser Gedanke führte sie wieder zurück zu ihrer brennenden Kehle. Auch Peter schien es nicht entgangen zu sein und er liess sie los. «Es ist ganz normal, dass ein frisch verwandelter Vampir Durst verspürt. Warte hier, ich bringe dir etwas, das dir helfen wird», beruhigte er sie. Ahilea war klar, dass er von Blut sprach. Ehe sie ablehnen konnte, war er auch schon verschwunden. Diese verdammte Teleportation!
Als sie sich im Raum umsah, viel Ahileas Blick auf ihr Spiegelbild und ihre Augen weiteten sich? War diese Frau im Spiegel wirklich sie? Denn dieses Wesen war wunderschön. Ihre Wimpern waren eindeutig dichter, ihre Haare glänzender und gesünder, die Farbe intensiver. Ihre Augen waren strahlender, die Wangenknochen höher und ausgeprägter. Sie hatte nicht mehr das runde Gesicht, dass sie so jung hatte aussehen lassen. Nein, vor ihr im Spiegel war eine Frau zu sehen. Eine atemberaubend schöne Frau. Und trotzdem sah sie noch aus wie die Ahilea, die sie zuvor gewesen war. Doch sie sah eindeutig nicht so aus, als wäre sie vorhin beinahe gestorben.
Dann viel ihr auf, wie viel schärfer ihre Augen nun waren und auch, dass ihr Gehör sich eindeutig verbessert hatte. Sie konnte an ihrem Handgelenk eine feine Narbe entdecken. Dabei handelte sich um Zahnabdrücke, die wahrscheinlich von Peter stammten. Doch man konnte es nur erkennen, wenn man ganz genau hinsah, da sie sehr hell und bereits verblasst aussah. Ein Mensch würde sie mit blossem Auge vermutlich gar nicht wahrnehmen. Dies würde aber auch gleichzeitig verhindern, dass unnötige Fragen aufkommen würden.
Peter riss sie aus ihren Gedanken, als er zurückkam. Und zwar genauso plötzlich, wie er auch verschwunden war. In seiner Hand hielt er ein Glas, in welchem sich eine rote Flüssigkeit befand. Blut. Instinktiv atmete Ahilea diesen herrlichen Geruch tief ein. Es roch würzig und einfach nur unglaublich gut. Gleich darauf schämte sie sich für diesen Gedanken. Was war nur in sie gefahren? Sonst hatte sie es immer gewürgt, wenn sie Blut nur gesehen, geschweige denn gerochen hatte. Und jetzt? Jetzt lief ihr das Wasser im Munde zusammen.
Peter lächelte ihr aufmunternd zu. "Trink das, dann wird dein Durst vorerst gestillt sein und du wirst dich besser fühlen." Als er ihren angewiderten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er noch erklärend hinzu: «Es handelt sich um Spenderblut aus dem Krankenhaus. Trink es ruhig.» Zögerlich streckte Ahilea die Hand nach dem Glas aus und hob es an ihre Lippen. Spenderblut war schliesslich okay, oder nicht? Immerhin hatte der Mensch, dem es gehörte, es freiwillig abgegeben. Zwar sicher nicht für diesen Zweck, aber es war immer noch besser, als dass man ihn gezwungen hätte. Trotzdem wolle sie besser nicht wissen, wie Peter an dieses Blut gelangt war. Vermutlich hätte ihr die Antwort eh nicht gefallen, daher war es besser, dass er es gar nicht erst erwähnte.
Doch schon nach dem ersten, vorsichtigen Schluck konnte sie sich nicht mehr beherrschen und leerte das Glas in einem Zug. Es war eine Wohltat, wie das würzige Blut durch ihre ausgedörrte Kehle floss und ihren Hunger stillte. Es fühlte sich in etwa so an, als hätte man tagelang nichts getrunken und würde erst jetzt ein Glas Wasser bekommen. Doch sobald sie das Glas geleert hatte, wurde ihr wieder bewusst, was sie soeben getan hatte und sie ekelte sich vor sich selbst. Mit einem lauten Knall stellte sie das nun leere Glas auf dem Nachttisch ab und verschränkte die Arme vor der Brust. Langsam wurde ihr alles schlicht und einfach zu viel. Sie konnte ihre Mauer nicht mehr lange aufrecht halten und wenn dies in sich zusammenfiel, wollte sie alleine sein. «Ich würde gerne einen Moment für mich haben», forderte sie Peter indirekt dazu auf, zu gehen. Dem kam dieser aber nur zögerlich nach, so als hätte er Angst, dass sie etwas dummes anstellen würde, sobald er weg war. «Ruf mir, wenn du etwas brauchst, versprochen?» Abweisend nickte Ahilea und war kurz darauf alleine.
Sie sackte in sich zusammen und alle Dämme rissen in ihr. Die Tränen liefen ihr nur so die Wangen hinab und sie wurde von lautlosen Schluchzern durchschüttelt. Sie versuchte auch gar nicht, das Gefühlschaos in ihr zu ordnen und ihre Nerven zu beruhigen. Nein, dazu fehlte ihr der nötige Antrieb. Wie hatte ihr so etwas nur passieren können? Das war sicher die Strafe dafür, dass sie die Medikamente hatte stehlen wollen. Sie wusste natürlich, dass dieser Gedanke Blödsinn war, aber es war ihr im Moment egal. Es war ihr gerad alle einfach zu viel. Viel zu viel. Und es gab nichts, was das Geschehene rückgängig machen könnte. Rein gar nichts. Sie war ein Vampir und würde auch für alle Ewigkeit einer sein. Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen und weinte sich in den Schlaf.
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