Kapitel 47


Ahilea

Nach meinem gestrigen Gespräch mit Lillian waren meine Eltern nach Hause gekommen. Und so hatte ich dann alles zum zweiten Mal erzählt. Auch meine Eltern unterstützten mich. Sie hatten mich und Lillian stets behandelt, als wären wir ihre leiblichen Kinder und nicht adoptiert. Für sie hatte es nie einen Unterschied gemacht. Das war eines der Dinge, die ich an ihnen so sehr schätze. Sie hatten mich aufgenommen, als es mir schlecht ging und mir dabei geholfen, mich mit meinem neuen Leben zurecht zu finden. Ich hatte es ihnen ganz bestimmt nicht immer leicht gemacht, insbesondere gerade jetzt in diesem Moment. Durch meine Beziehung zu Ash gefährdete ich nicht nur uns beide, sondern meine ganze Familie. Doch ich war egoistisch genug, um das ausser Acht zu lassen. Gerade handelten Ash und ich wider jeder Vernunft und das sah mir so gar nicht ähnlich. Ich war stets darauf bedacht gewesen, es allen recht zu machen und auch ja alles korrekt auszuführen. Doch Vampire änderten sich, selbst wenn es dafür über 70 Jahre brauchte, wie es bei mir der Fall war.

Sie hatten mir aufmerksam zugehört und mich nur hie und da unterbrochen, um bei etwas genauer nachzuhaken. Ansonsten hatten sie mich einfach erzählen lassen, wofür ich ihnen sehr dankbar war. Ich mochte es nicht, mitten im Redefluss unterbrochen zu werden.

Nachdem ich mir auch ihre Unterstützung zugesichert hatte, ging ich ins Bett. Wie vorhergesehen war ich einem Fresskoma nahe. Mein Bauch schmerzte und daher kam ich auch nur langsam voran. War wohl doch keine gute Idee gewesen, nachher noch mit meinen Eltern zu Abend zu essen. Zumal es Kartoffelgratin gegeben hatte und ich einfach nicht hatte widerstehen können. Natürlich war es eine komische Zeit gewesen, um dreiundzwanzig Uhr noch gross etwas zu essen, aber das kam bei uns öfters vor, da wir als Vampire nicht auf die Mahlzeiten angewiesen waren, und somit unserer Essenszeiten sehr flexibel waren.

Schweissgebadet erwachte ich und blickte mich keuchen um. Es war nur ein Albtraum gewesen, redete ich mir gut zu. Doch vielleicht hatte mein Unterbewusstsein mir auch einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben, um mich daran zu erinnern, dass wir nicht in Sicherheit waren. Nein, das waren wir ganz sicher nicht. Im Gegenteil, an jeder Strassenecke konnte eine Gefahr lauern. Sei es nun Mr Night oder die Familie DeLaria, die mich suchte. Bis jetzt hatten sie mich zwar nicht gefunden, aber ich wollte mir nicht zu viel darauf einbilden. Das wäre zu unvernünftig gewesen. Und dies bescherte mir auch des Öfteren Albträume, in denen sie mich fanden und dazu zwangen, mit ihnen zu gehen.

Ein Blick auf den Wecker zeigte mir, dass es gerade mal halb fünf Uhr früh war. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Wenn ich innerlich unruhig war, hörte ich Musik oder machte einen Spaziergang. Letzteres konnte ich aber vergessen, da es noch finster war und ich es hasste, im Dunkeln nach Draussen zu gehen. Also griff ich nach meinem angefangenen Buch, welches neben mir auf dem Nachttisch lag. Meine leibliche Mutter hatte mir früher, als ich ein Kind gewesen war, jeden Abend eine Geschichte vorgelesen, bevorzugt Märchen. Es waren die für mich schönsten Momente meiner nicht gerade einfachen und unbeschwerten Kindheit gewesen. Die Momente, in denen wir keine Sorgen hatten.

Von meiner Mutter hatte ich auch meine Leidenschaft fürs Lesen geerbt. Wenn sie nicht gerade in der Schneiderei arbeitete, oder mit mir beschäftigt war, liebte sie es, ein gutes Buch zur Hand zu nehmen und in einer fiktionalen Welt zu versinken. Dann hatte sie auch nichts mehr dazu bringen können, das Buch wieder wegzulegen. Und wie so oft überwältigten meine Gefühle mich wieder. Ich vermisste sie jeden verdammten Tag und wünschte mir wie immer, ich hätte sie retten können. Die Schuldgefühle waren nach wie vor vorhanden und ich glaubte auch schon lange nicht mehr daran, dass ich sie irgendwann loswerden würde. Dafür war einfach zu vieles geschehen, dass ich mir nicht verzeihen konnte. Ich schüttelte meinen Kopf, um die unliebsamen Gedanken loszuwerden und wandte mich wieder meinem Buch zu, welches ich zu lesen gedachte. Und das tat ich dann auch, selbst wenn ich mich nicht zu hundert Prozent darauf konzentrieren konnte, was der Hauptfigur alles so passierte.

Ehe ich mich versah war es auch schon Zeit, aufzustehen und in die Schule zu gehen. Und das hiess für mich, dass ich Ashton wiedersehen würde. Dementsprechend gut gelaunt erreichte ich das Schulgelände. Fast sofort entdeckte ich Ashtons blonden Haarschopf und rannte förmlich auf ihn zu. Natürlich bemerkte er mich, noch bevor ich ihn erreichte und streckte die Arme nach mir aus. Ich war mich hinein und er wirbelte mich lachend einmal im Kreis. Dann setzte er mich ab und sah mir zärtlich in die Augen. Kurzerhand stellte ich mich auf die Zehenspitzen, zog seinen Kopf zu mir hinunter und strich mit meinen Lippen sanft über seine. Ashton schien keineswegs überrascht zu sein, dass ich ihn auf diese Art begrüssen wollte und machte sofort mich. Er legte einen Arm um meine Taille und zog mich enger an sich. Unser Kuss war nun nicht mehr sanft, sondern wurde dominiert von der Aufregung sowie der Sehnsucht, die uns beide in den letzten Tagen und auch Wochen wohl zerfressen hatte. Ich konnte immer noch nicht glauben, wie lange ich es ausgehalten hatte, mich Ashton nicht auf diese Weise zu nähern und mich von ihm fern zu halten. Ich wünschte mir, wir könnten den Kuss vertiefen, aber schliesslich löste ich mich keuchend von ihm.

«So schön das auch ist, aber wir kommen zu spät zum Unterricht.» Ashton grinst: «Ich weiss, aber dich zu küssen ist etwas, wofür ich mir immer Zeit nehmen werde.» «Gut zu wissen.» Ich zwinkerte ihm zu, drehte mich um und lief zum Eingang. Ich drehte mich nicht um, um nachzusehen, ob er mir folgte. Unsere Wege würden sich eh spätestens im Gebäude trennen, daher machte es keinen grossen Unterschied, ob wir das Schulhaus gemeinsam betraten oder nicht. So würden mir auch einige dumme Blicke erspart werden, die mich nur verunsichern würden. Aber halt, nein, die neue Ahilea würde sich nicht mehr verunsichern lassen. Sie war selbstbewusst und interessierte sich nicht für die Meinung von anderen.

Der Unterricht zog sich grausam in die Länge und mein einziger Lichtblick war die Mittagspause, die ich mit Ash alleine verbrachte, was aber auch dazu führte, dass wir nicht gerade viel Zeit zum Essen hatten. Nein, wir waren anderweitig beschäftigt. Wir hatten uns draussen auf eine freie Bank gesetzt und genossen die Zweisamkeit. Drinnen in der Mensa war es viel zu laut und stickig gewesen und ausserdem war das Wetter herrlich. Sonnenschein und strahlend blauer Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen. Ashton hielt meine Hand und ich stahl mir auch den ein oder anderen Kuss von ihm, während wir über belangloses redeten. Es fühlte sich fast schon an, als wären wir ein normales Paar. Zwei Menschen ohne Sorgen. Doch der Schein trügte. Ich stand sowieso schon auf der Abschussliste von Richard Night und Ashton würde sich sicher eine Menge Ärger einhandeln, wenn er seinen Clan gefährdete. Doch anscheinend hatten seine Eltern nichts gegen unsere Beziehung, genauso wie meine eigenen. Widerwillig lösten wir uns voneinander und gingen zurück zu unserem jeweiligen Unterricht. Für mich hiess das nur noch eine Lektion, für Ash waren es noch ganze vier.

Deshalb machte ich mich auch alleine auf den Weg nach Hause, da auch Lil noch länger Schule hatte. Eine Tatsache, um die ich sie absolut nicht beneidete. Es musste schrecklich sein, mit zwanzig noch zur Schule zu gehen. Doch es war ihr letztes Jahr, wirklich ihr allerletztes. Sie hatte mit Mr Night ausgehandelt, dass es für sie jetzt an der Zeit war, mit dem Studieren zu beginnen. Und darauf widerum war ich schon neidisch. Aber meine Zeit würde auch noch kommen. Nur einfach noch nicht jetzt gleich.

Beschwingt schloss ich die Haustür auf, doch sobald ich eingetreten war, wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Und dieses Gefühl hatte mich noch nie getrügt. Ich hatte mich immer auf meine Wahrnehmung verlassen können. Und so war es auch jetzt. Etwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. Dafür war es viel zu ruhig hier. Misstrauisch legte ich meine Tasche ab und verharrte einen Moment auf derselben Stelle. Dann fasste ich mir ein Herz und betrat zögerlich das Wohnzimmer.

Meine Mutter sass auf der Couch, vor ihr auf dem Tisch lag ein Brief. Ich eilte zu ihr und warf über ihre Schulter einen Blick auf den Absender. Richard Night, wer denn sonst? «Was steht da drin, Mom?», fragte ich misstrauisch. Sie schluckte und sah mich an, sagte aber nichts. Sie wirkte geradezu verstört, was für sie sehr untypisch war. Normalerweise brachte meine Mom nicht so schnell aus der Ruhe. Eine Eigenschaft, von der ich nicht behaupten konnte, dass ich ebenfalls darüber verfügte. Zudem war auch Geduld nie eine meiner Stärken gewesen. Also griff ich mir den Brief kurzerhand einfach selbst und begann zu lesen. Meine Augen wurden immer grösser und als ich geendet hatte, sah ich Mom ungläubig an.

«Das ist nicht sein Ernst, das kann er nicht machen!», rief ich aufgebracht aus. Mom sah seufzend zu mir auf. «Er hat dich mehrfach davor gewarnt, Ahilea.» Ich wusste, dass sie recht hatte, doch wie hatte er überhaupt davon erfahren. Und dann wurde es mir klar. Cal. Ich hätte ihm nicht vertrauen sollen. Doch anscheinend besass ich ein Talent dafür, genau das bei den falschen Personen zu tun. Ash und ich hätten vorsichtiger sein sollen, was ihn betraf, doch jetzt war es dafür eh schon zu spät.

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