Kapitel 45 - November 1965

Ahilea

In den letzten drei Tagen hatten sich hier auf dem Anwesen der DeLarias so einige komische Dinge zugetragen. Gestern war Ahilea mitten in der Nacht vom durchdringenden Schrei einer Frau geweckt worden. Hellwach war sie ihm Bett aufgesessen und hatte die Augen entsetzt aufgerissen. Doch der Schrei wiederholte sich nicht und alles blieb still. Daher wollte sie nicht noch einmal auf eigene Faust etwas unternehmen. Beim letzten Mal war dies furchtbar schief gegangen. Also legte sie sich wieder hin, doch schlafen konnte sie danach nicht mehr. Sie wollte unbedingt wissen, woher und vor allem von wem der Schrei stammte.

Doch als sie Peter heute darauf angesprochen hatte, hatte er sie abgeblockt und gesagt, sie hätte sich das lediglich eingebildet. Die beiden hatten zusammen in einem kleineren Salon, der im Retro Vintage-Look gehalten war, einen kleinen Imbiss genossen. Oder besser gesagt, Peter hatte ihn sich schmecken lassen. Denn Ahilea hatte die Tatsache, dass er sie für dumm  verkaufte, gründlich den Appetit verdorben. Nur schon wenn sie daran dachte, rebellierte ihr Magen. Denn Ahilea war sich sicher, dass es nicht bloss Einbildung gewesen war. Nein, ganz bestimmt nicht. Dafür hatte es sich viel zu real angefühlt.

Aber das war typisch für die DeLarias. Hier wurde immer alles totgeschwiegen und verheimlicht. Sie wollte gar nicht wissen, wie viel Geheimnisse Peter noch so vor ihr hatte. Denn sie war sich sicher, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde. Nein, dafür schätzte sie Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit viel zu sehr. Ihre Mutter hatte ihr das auch stets eingetrichtert. Sie konnte heute noch ihre Stimme in ihr Ohr flüstern hören: Denk daran, Ahilea. Freundlichkeit in Worten schafft Vertrauen. Freundlichkeit im Denken schafft Tiefe. Freundlichkeit im Geben schafft Liebe.

Was sie ebenfalls beunruhigte, war die Tatsachen, dass sie heute beim Putzen in Mr DeLarias Arbeitszimmer Blutspuren entdeckt hatte. Es war etwas, das sie verängstigte, da sie nicht wusste, was sie davon halten sollte. Wie kam das Blut in sein Zimmer? Es konnte ja nicht sein, dass der Hausherr sich lediglich in den Finger geschnitten hatte, da es deutlich mehr Blut auf dem Boden gehabt hatte, als ein blosser Schnitt zur Folge gehabt hätte. Ausserdem hätte ein kleiner Schnitt nur Tropfen verursacht und sicher nicht eine Blutspur. Nein, irgendetwas stimmte hier nicht. Mit diesem Haus und der gesamten Familie DeLaria. Ich lebe in einer Welt voller Menschen, die vorgeben etwas zu sein, was sie nicht sind, schoss es ihr durch den Kopf. Sie verheimlichten irgendetwas, das für sie aber von grosser Bedeutung war. Und Ahilea war fest entschlossen, dieses Geheimnis aufzudecken. Koste es, was es wolle.

Doch hätte sie damals gewusst, welche schwerwiegenden Folgen dies schon wieder für sie haben würde, hätte sie es sich lieber noch einmal überlegt und ihre Neugier besser im Zaum halten sollen. Aber wie hiess es so schön: Erfahrung ist die Summe der Fehler, die man gemacht hat. Nur das sie in diesem Fall getrost auf die Erfahrung hätte verzichten können.

So aber liess sie es sich nicht nehmen und begann, das Haus auf eigene Faust zu durchsuchen. Wider Erwarten fand sie nichts, was irgendwie seltsam erschien, egal wie lange sie auch suchte. Sie stellte beinahe das gesamte Haus auf den Kopf, sah in jeder noch so kleinen Ecken ach, ob nicht doch etwas zu finden war. Immer mit demselben Resultat: nämlich nichts.

Doch das änderte sich, als sie schliesslich noch stundenlanger Suche, die bis dahin leider erfolglos verlaufen war, in der Küche angelangt war und den Kühlschrank öffnete. Es fühlte sich schon beinahe krank an, selbst den Kühlschrank zu durchsuchen. Doch nachdem sie sonst nicht gefunden hatte, beschloss sie, dass es einen Versuch wert war. Und dieser hatte sich auch gelohnt.

Zuerst sah sie nichts Aussergewöhnliches. Käse, Fleisch, Aufstrich, Gemüse, Wein, und, und, und. Doch etwas an dem Wein liess sie innehalten. Sie betrachtete ihn genauer und fand, dass er eine seltsame Farbe aufwies. Sie nahm ihn heraus und roch daran. Beinahe hätte sie den Krug fallengelassen, so geschockt war sie. Das war gar kein Wein, sondern Blut. Was zur Hölle? Schnell stellte sie ihn wieder zurück und knallte die Kühlschranktür zu. Matt liess sie sich gegen die Küchenkombination sinken und atmete tief ein und aus, um die Übelkeit loszuwerden, die der Geschmack des Blutes bei ihr ausgelöst hatte. Es widerte sie regelrecht an, diese ekelhaft dickflüssige rote Substanz. Und es war auch nicht gerade wenig gewesen.

Warum in Gottes Namen hatten die DeLarias Blut in ihrem Kühlschrank? Was wollten sie damit? Verwirrt und auch ein wenig benommen ging sie zurück auf ihr Zimmer. Dafür brauchte sie gut doppelt so lange wie normalerweise. Sie konnte immer noch nicht so recht glauben, was sich da abgespielt hatte. War sie gerade wirklich in die Küche gegangen und hatte einen Krug voller Blut gefunden?

Sie schüttelte den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden, doch es funktionierte nicht. Zu tief sass der Schock über das soeben Gesehene. Das würde sie so schnell nicht vergessen können. Nein, keineswegs. Und das wollte sie auch nicht. Nein, sie wusste genau was sie wollte. In diesem Haus musste man endlich ehrlich miteinander sein und Peter sollte den Anfang machen.

Sie wollte endlich Klarheit und so stand sie entschlossen auf, um Peter zu suchen und ihn zu beten, endlich reinen Tisch zu machen. Sie war all diese Lügereien und Ausreden so satt. Wenn er wirklich eine Beziehung mit ihr führen wollte, wie er es ihr vorgestern gesagt hatte, musste er ehrlich mit ihr sein und ihr genug vertrauen, um ihr auch die unschönen Details über seine Familie zu erzählen.

Energisch klopfte Ahilea an Peters Tür, was aber nur dazu führte, dass sie anschliessend schmerzhaft das Gesicht verzog und ihre schmerzende Hand schüttelte. Sie hatte wohl etwas zu fest zugeschlagen. Normalerweise störte sie Peter auch nie beim Arbeiten, da sie wusste, dass er dies hasste, aber jetzt war es eine Ausnahme. Sie konnte einfach nicht länger warten, sondern wollte jetzt Gewissheit haben.

Peter riss die Tür mit verärgertem Gesichtsausdruck auf, welcher aber wieder verschwand, sobald er Ahilea entdeckte. Anscheinend hatte er nicht mit ihr gerechnet. Dies verschaffte ihr aber auch einen Vorteil, den sie jetzt ausnutzen wollte. «Ach du bist es, komm rein, Lea.» Sie liebte den Spitznamen, den er ihr vor einigen Tagen verpasst hatte, als die beiden nebeneinander in seinem Bett gelegen und sich in den Armen gehabt hatten. Es war ein intimer Moment gewesen, wie er ihr diesen Spitznamen ins Ohr geflüstert hatte und ihr dabei über die nackte Haut strich, was ihr eine Gänsehaut beschert hatte.

Sobald sie eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog Peter sie an sich, um ihr einen leidenschaftlichen Kuss zu verpassen. Ahilea erwiderte ihn zwar, doch als Peter den Kuss vertiefen wollte, zog sie sich zurück und liess von ihm ab. Schwer atmend standen sie beide da und starrten sich gegenseitig an. «Was ist den los? Habe ich etwas falsch gemacht?», wollte Peter verstört wissen. »Bis auf die Tatsache, dass du mich andauernd belügst, nicht.» Peter sah kurz verwirrt aus, doch dann schien er zu verstehen und die Falten, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten, glätteten sich wieder. Er sah irgendwie erleichtert aus, was Ahilea nicht verstehen konnte. Wen bitteschön erleichterte es schon, wenn ein anderer Blut im Kühlschrank gefunden hatte? Sie würde einmal behaupten, dass das nicht so oft vorkam. «Meinst du die Sache im Kühlschrank?», wollte er wissen. Ahilea nickte bestätigend und Peter atmete geräuschvoll ein. «Du musst ehrlich mit mir sein, Peter, ansonsten funktioniert das mit uns nicht!», warf sie ihm vor, was ihn das Gesicht verziehen liess. Was sollte das denn bitte? Vor zehn Sekunden hatte er noch erleichtert gewirkt und jetzt das? Anscheinend hatte er wohl doch nicht an das Blut gedacht. Es schien fast so, als hätte sie ihn damit kalt erwischt.

Er wandte sich abrupt ab und sagte mit steifen Schultern und dunkler Stimme: «Du willst also alles über mich wissen? Bist du dir sicher, Ahilea?» Seine Worte waren Unheil bedeutend und sie ahnte bereits, dass das, was sie gleicht hören würde, ihr nicht gefallen würde. Es würde ihre gesamte Sichtweise auf den Kopf stellen und sie würde sich umorientieren müssen. Doch was tat man nicht alles für die Person die man liebte? Trotzdem nickte sie, wurde sich dann aber bewusst, dass er sie ja nicht sehen konnte, da er sich mit dem Rücken zu ihr befand und sagte deshalb mit fester Stimme: «Ja, ich will jedes noch so kleine Detail über dich erfahren.»

Sobald sie zu Ende gesprochen hatte, fuhr Peter zu ihr herum, das Gesicht wütend verzerrt, was sie instinktiv einen Schritt zurückweichen liess. Gleich darauf wurde ihr aber bewusst, was sie hier tat. Sie wich vor ihrem Freund zurück! «Also schön, du hast es nicht anders gewollt», knurrte er. «Aber was du jetzt erfahren wirst, wird dir ganz gewiss nicht gefallen. Komm dann bloss nicht zu mir, wenn du vor lauter Albträumen nachts nicht mehr schlafen kannst.»

Seine Worte bescherten Ahilea eine Gänsehaut, doch sie hinderte ihn nicht daran, weiterzusprechen

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