Kapitel 27 - Juli 1965
Ahilea
Nun war es also so weit. Ahilea stand vor der gepflasterten Auffahrt, die zum Anwesen der Familie DeLaria führen würde. Die Allee, welche aus mächtigen Eichen bestand, hatte eine eindrucksvolle Auswirkung auf sie und wirkte stark und beständig. Sie hatte nichts bei sich, nur die Kleider, die sie am Leib trug. Man hatte ihr nicht erlaubt, ihre persönlichen Sachen von zu Hause zu holen und mitzubringen. Sie war direkt vom Gefängnis aus hierhergebracht worden. Die Fahrt hatte etwa eine Stunde gedauert und Ahilea hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie war nie zuvor so weit von ihrer Heimatstadt entfernt gewesen, was eine Tatsache war, die sie unheimlich beunruhigte. Und da sie auch keine Ahnung davon hatte, wie es ausserhalb aussah, konnte sie sich auch daran nicht orientieren um herauszufinden, wo sie war. Zwar hatten sie einige Städte durchquert, aber es hatte Ahilea nicht weitergeholfen, da sie nicht gewusst hatte, um welche es sich dabei handelte. Sie mochte es nicht, wenn sie jegliche Orientierung verlor. Aber jetzt konnte sie auch nichts mehr daran ändern. Man würde ihr hier auch bestimmt nicht mitteilen, wo sie sich befand.
Nach wie vor hatte sie jedoch die Hoffnung, ihrer Mutter immer noch helfen zu können. Es war eine Hoffnung, an die sie sich festklammerte. Sie wusste, dass sie von den DeLarias nicht zu viel erwarten sollte, aber insgeheim tat sie es doch, so wie fast jeder es tun würde. Spätestens als ihr das gesamte Ausmass des Anwesens bewusst geworden war, hatte sich die Hoffnung, die DeLarias könnten ihr helfen, ihrer Mutter die nötigen Medikamente zu beschaffen, verfestigt. Doch wer war sie schon, so etwas zu verlangen, oder eher zu wünschen. Sie war ein Niemand, eine Straftätige, fast noch ein Kind. Ja, das war sie, Ahilea Glenn. Das und nichts mehr.
Tief atmete sie noch einmal durch und lief dann auf das riesige Anwesen zu. Der Weg dahin erschien ihr unendlich lang, was vermutlich an der Nervosität lag. Sie fühlte sich unwohl und schutzlos, so alleingelassen. Zudem war sie auch ein wenig verwirrt, denn bis jetzt war sie noch keiner Menschenseele begegnet. Das Anwesen machte einen beinahe gespenstigen Eindruck, so verlassen wie es wirkte. Und die Stille, die herrschte, trug auch nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Daher begann sie auch, immer schneller zu laufen, bis sie beinahe schon rannte. Sobald sie die Haustür erreicht hatte, klopfte sie an und wartete, bis die Tür sich öffnete. Es hätte ihr nichts gebracht, stundenlang vor der Tür zu stehen, in der Hoffnung, ihr schneller Herzschlag würde sich beruhigen. Sie war sich ziemlich sicher gewesen, dass dem nicht so sein würde.
Nachdem etwa zwei Minuten, es konnten aber auch mehr gewesen sein, vergangen waren, wurde die Tür geöffnet. Ihr gegenüber stand eine ältere Frau, die sie freundlich betrachtete. «Du bist bestimmt Ahilea Glenn, habe ich recht?», fragte sie und lächelte die verängstigte junge Frau vor sich beruhigend an. Zögerlich nickte Ahilea und sobald sie die Vermutung der Älteren bestätigt hatte, wurde sie auch schon hereingebeten, was sie etwas überrumpelte. Aber was hatte sie sich denn gedacht? Das man sie noch durchsuchen würde? Sie hatte ja schliesslich nicht bei sich, was gefährlich war.
Also folgte sie der Älteren und staunte nicht schlecht, als sie eine pompöse Eingangshalle betraten. Ja, diese Beschreibung passte wie die Faust aufs Auge. Etwas derartiges hatte sie nie zuvor gesehen. Der Grund dafür war schlicht und einfach, dass ihre Familie nicht in diesen Kreisen verkehrte. Die Glenns waren arm und lebten gerade so am Existenzminimum. In ihrer Welt gab es keinen Luxus und unsinniges Geldverschwenden. Nein, bei Ahilea Zuhause hiess es sparen, und zwar so viel und oft wie nur möglich. Ein solches Leben war anstrengend und voller finanzieller Sorgen, die einem Tag und Nacht plagten. Man konnte sie nie vergessen oder verdrängen, sie waren überall. Andauernd wurde man daran erinnert, sei es nun die billige, abgetragene Kleidung, das Hungergefühl oder andere Dinge.
Sie drehte sich im Kreis und liess die gesamte Pracht auf sich wirken. Sie saugte jedes noch so kleine Detail auf, die Gemälde an den Wänden, welche hauptsächlich Landschaften, aber auch Porträts darstellten, den marmornen Boden, die schicken Blumen in den kristallenen Vasen, es handelten sich um Rosen in den Farben rot und gelb, sowie pink und weiss, und noch Vieles mehr. Sie hätte stundenlang hier so stehen können, aber das Räuspern der Frau hinter sich, riss sie aus ihrer Gedankenwelt. «Ich bringe dich erst einmal auf dein Zimmer, wo du dich gleich umziehen kannst. Es gibt hier gewisse Kleiderregeln, die einzuhalten Pflicht sind», fügte sie mit Blick auf Ahileas ausgeleierte Kleider hinzu. Hitze stieg in die Wangen der jungen Frau. Sie war sich ihrer schäbigen Kleidung nur allzu deutlich bewusst, wahrscheinlich stärker als nie zuvor. «Danach werden ich dich im Haus umherführen und dir die ersten Anweisungen geben. Ist soweit alles klar», fuhr sie fort und beobachtete Ahileas Reaktion. Diese riss sich zusammen und murmelte ein leises ja. Zu mehr war sie gerade nicht in der Lage.
Die beiden Frauen stiegen die breite Marmortreppe im Eingangsbereich hinauf, liefen durch unzählige Gänge mit hunderten Abzweigungen und erreichten schliesslich einen etwas schmaleren Gang. Bis dahin hatte Ahilea bereits vollkommen die Orientierung verloren und war sich sicher, dass es sie einige Zeit kosten würde, bis sie sich hier frei bewegen konnte, ohne sich andauernd zu verlaufen. Und dies würde sie garantiert einige Nerven kosten «Hier sind die Bediensteten untergebracht. Ausser dir und mir wohnt aber nur noch der Koch hier, ein alter Griesgram, den du besser nicht verärgerst. Die DeLarias bevorzugen es, ihre Privatsphäre zu haben, daher halten sie die Anzahl der hier arbeitenden Personen eher klein», erklärte sie Ahilea geschäftig. Es schien, als wäre sie ganz in ihrem Element.
Ahilea hingegen war ein bisschen skeptisch. Nur die ältere Frau, die sich inzwischen als Mrs Bell vorgestellt hatte, und sie waren hier für den Haushalt zuständig? Dieses Haus war riesig. Dies bedeutete, dass es hier eine ganze Menge zu tun gab und Ahilea war sich nicht so sicher, ob dies eine Tatsache war, die für sich sprach. Andererseits würde es so auch nie langweilig werden, zumal es ihr ja nicht erlaubt war, das Anwesen zu verlassen. Es würde genügend Arbeit sein, um sie abzulenken. Wahrscheinlich würde sie schon einen ganzen Tag brauchen, um nur den Boden zu wischen. Und bis sie damit fertig war, wäre er wahrscheinlich bereits schon wieder schmutzig. Trotzdem wollte sie sich Mrs Bells Warnung, den Koch nicht zu verärgern, zu Herzen nehmen und schrieb sich in Gedanken auf die Stirn, dass es vermutlich das Beste wäre, ihm einfach aus dem Weg zu gehen. Dann würde sie gar nicht in eine solche Situation kommen, was ihr garantiert so einiges ersparte.
Mrs Bell öffnete die schlichte Holztür zu Ahileas Zimmer, wobei das Wort Kammer zutreffender gewesen wäre. Es gab nur ein Bett und einen schlichten Kleiderschrank aus Holz, das war auch schon alles. Aber für Ahilea war dies kein grosses Problem, da sie es sich schon gewohnt war, mit wenig auszukommen. Und manchmal war weniger auch mehr. Auf dem Bett lag ein zusammengefaltetes Kleiderbündel, welches Ahilea nun genauer inspizierte. Mrs Bell bemerkte dies und meinte: «Zieh dich um, ich warte draussen auf dich, meine Liebe.» Mit diesen Worten liess sie Ahilea ihre Privatsphäre und schloss die Tür hinter sich.
Zögerlich trat Ahilea näher an das Bett heran und streckte die Hand nach der Kleidung aus, welche sich bei der sanften und zögerlichen Berührung ihrer Fingerspitzen unglaublich weich anfühlte. Nicht grob und rau, wie sie es sich von ihrer eigenen gewohnt war. Nein, diese hier fühlte sich an, wie diejenige, die sie in der Schneiderei ihrer Mutter hergestellt oder ausgebessert hatte. Nach dem Auseinanderfalten stellte sie fest, dass es sich um genau dieselbe Kleidung handelte, die auch Mrs Bell trug. Ein schwarzes Kleid und eine weisse Schürze zum darüber ziehen. Auch die passende Unterwäsche lag dabei und in einer Ecke auf dem Boden entdeckte Ahilea ein Paar schwarzer Schuhe.
Sie beeilte sich, die neue Kleidung anzuziehen und bestaunte anschliessend das weiche Gefühl, das der Stoff auf ihrer Haut auslöste. Diese Kleidung war bequemer als alles, was sie je zuvor getragen hatte. Sie war es sich nicht gewohnt, derartig hochwertige Kleidung zu tragen, da sie es sich nicht leisten konnten. Ausserdem passte die Kleidung wie angegossen, was sie ein wenig stutzig werden liess. Woher kannte man ihre Kleidergrösse so genau? Gleich darauf schalt sie sich innerlich für ihr Misstrauen. Vermutlich hatte jemand einfach nur gut geschätzt oder es war glücklicher Zufall gewesen. Beides war nicht sehr unwahrscheinlich, es gab also keinen Grund zur Sorge.
Sie faltete ihre alte Kleidung fein säuberlich zusammen, wie sie es schon hunderte Male getan hatte, und legte sie am Fussende des Bettes ab. Leicht strich sie mit den Fingerspitzen über den grauen Überwurf, welcher das Bett zierte. Doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, es noch unnötig länger heraus zu zögern. Sie war hier, um zu arbeiten und für nichts anderes. Daher atmete sie noch einmal tief durch und öffnete anschliessend die Tür, um mit ihrer Arbeit zu beginnen.
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