Kapitel 23

Ahilea

Die Stunden zogen sich ewig und ich hatte schon längst das Gefühl, ich würde hier unten verrotten. Ja, ich gab es zu, ich neigte dazu, gerne etwas zu übertreiben, aber in diesem Fall war es eindeutig gerechtfertigt, das schwöre ich. Ashton hatte mich nur ein weiteres Mal besucht, ansonsten war ich vollkommen alleine. So hatte ich wenigstens viel Zeit um nachtzudenken. Und zwar über alles Mögliche. Über mich und meine Beziehung zu Ashton, aber auch über das Vampirdasein generell. Und langsam aber sicher begann ich, meine Entscheidungen in Frage zu stellen. War es möglich, dass ich zu vorschnell gehandelt hatte? War ich zu unvernünftig gewesen? Und konnte es sein, dass meine Gefühle für Ash doch nicht echt waren? Ja, eventuell und nein, ganz bestimmt nicht. Doch ich versuchte nicht, meine kreisenden Gedanken zu stoppen, was jedoch nur dazu führte, dass ich noch verwirrter wurde, als ich zuvor schon gewesen war. So verging die Zeit wenigstens schneller. Sehr viel Zeit, um genauer zu sein.

Ich hatte keinen blassen Schimmer davon, wie viele Stunden inzwischen vergangen waren, aber ich war sicher schon einige Tage hier unten. Einmal hatte mich Mr Westfall besucht und versucht, mit mir zu reden. Dies hatte jedoch nur dazu geführt, dass ich krampfhaft versucht hatte, meine Gedanken vor ihm zu verbergen und davon stechende Kopfschmerzen bekommen hatte. Und da ich mich vollkommend darauf konzentriert hatte, meine Gedanken hinter einer beständigen Mauer zu verbarrikadieren, war es auch nicht wirklich zu einer Unterhaltung gekommen. Daher hatte unser Gespräch, wenn man es denn so nennen konnte, da es sehr einseitig gewesen war, ziemlich schnell ein Ende gefunden. Doch dies war mir recht gewesen, immerhin wusste ich nicht, für wie lange meine Mauer standhalten würde. Und es war mir fast so erschienen, als wäre Mr Westfall skeptisch geworden, da er von mir so gar nichts Nützliches hatte aufschnappen können, doch er hatte mich nicht darauf angesprochen und war kommentarlos wieder gegangen. Erst Minuten später hatte ich mich wieder sicher genug gefühlt, um tief durchatmen zu können und der Schock seines plötzlichen Besuches sass auch jetzt, Stunden später, noch tief in meinen Knochen. Und daran würde sich in absehbarer Zeit wahrscheinlich auch nichts ändern, da ich nun in der ständigen Angst lebte, er könnte erneut hereinplatzen. Es war gut möglich, dass ich beim zweiten Mal nicht schnell genug sein würde, meine Mauer hochzuziehen. Beim ersten Mal hatte ich einfach verdammt viel Glück gehabt. Zu meiner Erleichterung hatte Mr Westfall jedoch keinen weiteren Versuch unternommen, meine Gedanken zu lesen. Oder besser gesagt; noch nicht.

Ich fragte mich, was meine Freunde und Verwandten über mein plötzliches Verschwinden dachten. Denn dieses war bestimmt nicht unbemerkt geblieben, schon gar nicht von meiner Familie, die ich jeden Tag sah. Schliesslich lebten wir ja unter demselben Dach. Ich meine, es kam, glaube ich, noch nie vor, dass ich in der Schule gefehlt hatte, ohne meinen Freunden vorher Bescheid zu sagen. Eigentlich fehlte ich nie, da ich keinen schlechten Eindruck bei meinen Lehrern hinterlassen wollte. Eine meiner weiteren negativen Eigenschaften war, dass ich das Gefühl hatte, immer alles perfekt ausführen zu müssen, um auch ja niemanden zu enttäuschen. Und das führte auch öfters dazu, dass ich am Ende war und einen mentalen Zusammenbruch erlitt. Meine Mutter hatte mich schon öfters darauf aufmerksam gemacht, dass ich irgendwann ein Burnout haben würde. Und ich wusste, dass sie damit absolut richtig lag. Ich war eindeutig überarbeitet und gestresst.

Ich würde jetzt so gerne anrufen und alle beschwichtigen, insbesondere auch Lillian und den Rest meiner Familie. Meine grosse Schwester war schon immer sehr ängstlich gewesen und begann schnell, Panik zu schieben. Und das war etwas, was ich eigentlich verhindern wollte. Ich wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machten. Es ging mir hier nicht schlecht. Ich meine, es fühlte sich jetzt auch nicht gerade wie ein fünf-Sterne-Hotel-Aufenthalt an, aber was hatte ich denn erwartet? Schliesslich war ich kein Gast, sondern eine Gefangene. Oder so fühlte es sich zumindest an. Trotzdem war es einigermassen auszuhalten. Nicht zuletzt aufgrund von Ashtons Besuch, welcher mich aufgemuntert hatte und mir die Kraft gegeben hatte, ein paar weitere einsame Stunden hier unten zu verbringen. Trotzdem hätte ich nur zu gerne etwas Gesellschaft, selbst wenn es sich dabei um Mr Westfall persönlich handeln würde.

Ungewollt wanderten meine Gedanken immer wieder zu dem Grund, weshalb ich mich überhaupt hier unten in dieser verzwickten Situation befand. Aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass tatsächlich ein Angriff geplant war. Dafür war es meiner Meinung nach noch viel zu früh. Es sei denn, Mr Night wollte nichts riskieren und den Westfall-Clan besser früher als später vertreiben, um somit für Sicherheit zu sorgen. Aber ich hatte auch keinerlei Unruhen in meinem Clan bemerkt, allerdings wusste Mr Night auch, wie man Dinge gut verbergen konnte. Daher konnte ich nicht darauf zählen, was ich mit eigenen Augen mitbekommen hatte.

Die aufgehende Tür riss mich aus meinen tiefsinnigen Gedanken und sofort schlich sich ein breites und ehrlich erfreutes Lächeln auf mein Gesicht, als ich Ashton mit einem Tablett voller Essen ausmachen konnte. Und auch mein Magen begrüsste ihn ähnlich begeistert und knurrte lautstark, was mir wieder in Erinnerung rief, wie lange ich schon nichts mehr gegessen hatte. Dies liess mich auch unweigerlich daran denken, dass es bald Zeit wurde, Blut zu mir zu nehmen. Schliesslich hatte ich keine Lust darauf, hier noch einen Schwächeanfall zu erleiden. Doch wie es aussah, musste ich mich vorerst mit normalem Essen begnügen. Doch darüber würde ich mich gewiss nicht beklagen, dafür war ich zu ausgehungert.

Die Tür wurde hinter Ash geschlossen und er stellte das vollbeladene Tablett auf dem Boden ab. Ich konnte unter anderem Sandwiches, Obst und ein Stück Himbeerkuchen ausmachen. Ansonsten hatte ich immer nur einen Teller mit bereits erkalteter Suppe und ein trockenes Stück Brot erhalten. Ein bisschen so, wie es im Gefängnis der Fall war. Aber ich wollte mich nicht beklagen, da es besser war als gar nichts. Mein Magen zog sich in freudiger Erwartung darauf, das Essen geniessen zu können, zusammen und knurrte laut. Ashton zog grinsend eine Augenbraue hoch. Eigentlich sollte mir das jetzt peinlich sein, doch so war es nicht. Ich stürze mich förmlich auf das Essen, ganz so, als wäre ich ein ausgehungertes Tier. Innerhalb weniger Minuten hatte ich alles in mich hineingestopft und wir hatten dabei kein Wort gesprochen. Erst nach und nach begann ich zu realisieren, dass Ashton sich neben mich auf den Boden gesetzt hatte. Ich konnte seine Körperwärme fühlen, was mir eine angenehme Gänsehaut bescherte.

Nachdenklich blickte er an die Wand gegenüber und ich räusperte mich, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. «Gib es schon Neuigkeiten?», wollte ich gespannt wissen. Natürlich hatte ich keine grossen Hoffnungen, trotzdem war es einen Versuch wert, ihn zu fragen. Ashton wandte sich mir zu und zuckte die Schulter. «Bis jetzt wurden wir noch nicht angegriffen und die Lage hat sich etwas beruhigt. Ich denke, du wirst nicht mehr lange hierbleiben müssen. Vielleicht noch ein, zwei Tage. Aber ich kann es dir nicht genau sagen.» Er wirkte missmutig auf mich, doch für mich waren es gute Neuigkeiten. Trotzdem wollte ich mir nicht zu grosse Hoffnungen machen, da sich alles noch ändern konnte. Und zwar von einer Sekunde auf die nächste und vollkommen unvorhersehbar. Das wusste ich aus eigener Erfahrung, wenn ich an meinen Aufenthalt bei der Familie DeLaria zurückdachte, während dem das ganze Drama eigentlich erst seinen Lauf genommen hat. Ich schüttelte den Kopf, um nicht mehr daran zu denken. Ich hatte mir fest vorgenommen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, was sich als gar nicht so einfach herausstellte, insbesondere jetzt, wenn ich den ganzen Tag Zeit hatte, um mir unnötige Gedanken zu machen.

«Jedenfalls habe ich meinen Vater dazu überredet, dich für eine halbe Stunde mit mir nach Draussen gehen zu lassen», sprach Ashton weiter. Ich sprang auf. «Und das sagst du mir nicht gleich? Ich kann es kaum erwarten, hier rauszukommen», meinte ich euphorisch und packte ihn bei der Hand. Ich konnte es kaum erwarten, dieser stickigen Zelle zu entkommen, sei es auch nur für kurze Zeit. «Lass uns gehen, die Zeit zählt.» Ashton lachte über meine Begeisterung und bremste mich. «Die halbe Stunde beginnt erst, wenn wir diesen Raum verlassen haben. Wir haben also alle Zeit der Welt», sagte er im Versuch, mich dazu zu bringen, langsam zu machen. Er war aber auch nicht derjenige gewesen, der die letzten Stunden eingesperrt in der Einsamkeit verbracht hatte. Für ihn war es etwas anderes, eine halbe Stunde nach Draussen zu können, als für mich. Und gerade war ich einfach nur dankbar, dass ich überhaupt die Möglichkeit dazu hatte.

Doch das hielt mich nicht davon ab, so schnell wie möglich zur Tür zu eilen und laut zu klopfen. Wenig später öffnete die Wache die Tür und liess mich unter wachsamem Blick heraustreten. Draussen auf dem Gang entdeckte ich einen weiteren Vampir, dessen Aufgabe vermutlich ebenfalls daraus bestand, sicherzustellen, dass ich hier unten nicht irgendeinen Blödsinn anstellte. Aber wie hätte ich das denn bitte sehr anstellen können? Diese Frage stellte mich vor ein Rätsel welches ich aber nicht zu lösen gedachte. Es war nicht wichtig genug. Und ich würde später noch genügend Zeit haben, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, sollte ich dann immer noch daran denken.

Ashton war mir gefolgt und führte mich nun die Treppe nach oben. Leicht wie eine Feder schwebte ich ihm hinterher, so befreit fühlte ich mich. Man wusste gar nicht, was man alles verpasste, wenn man einmal ein paar Tage in einem engen Raum verbrachte. Es war gar nicht so selbstverständlich, Kommen und Gehen zu können, wann es einem beliebte, das wurde mir jetzt klar. Man sollte es viel mehr schätzen zu wissen. Beschwingt lief ich durch das Wohnzimmer, welches immer noch so ordentlich aufgeräumt war, wie bei meinem Besuch auf der Party. Doch ich verschwendete meine Zeit nicht damit, mich genauer umzusehen, sondern folgte Ashton nach Draussen in den Garten, welcher einem Park gleichkam, so gross und weitläufig war er. Wir schlugen einen Kiesweg ein, der uns hinter das Haus zu einem kleinen Wäldchen führte, welches hauptsächlich aus Laubbäumen bestand. Der Kies knirschte unter unseren Schuhen und lautes Vogelgezwitscher war zu hören, welches immer lauter wurde, je näher wir dem Wäldchen kamen.

«Hat dein Vater gar keine Angst, dass ich die Chance ergreifen und abhauen würde?» fragte ich Ash neugierig. Er blieb stehen und sah mich warnend an. «Ich trage die Verantwortung für dich und wenn du keinen Ärger mit mir willst würde ich dir raten, es gar nicht erst zu versuchen.» Ich schüttelte den Kopf. Hatte er wirklich die Angst, ich würde es versuchen? Wenn dem so war, dann kannte er mich wirklich nicht. «Das war eine rein theoretische Frage, keine Sorge.» Ashton entspannte sich sichtlich. «Na, dann bin ich ja beruhigt.» Tief in meinem Inneren wusste ich aber, dass Ashton nicht wirklich geglaubt hatte, ich würde zu fliehen versuchen. Und das hatte ich auch nicht vor. Ich wollte einfach nur diese halbe Stunde Freiheit nutzen und sie geniessen, bevor man mich wieder in diese stinkende Zelle bringen würde, wo ich den ganzen Tag Trübsal blies und untätig herumsass. Und diese Zeit sollte garantiert nicht vorzeitig damit enden, dass man mich aufgrund eines gescheiterten Fluchtversuchs zurück in meine Zelle zerrte. Nein, ich würde auf eigenen Beinen dorthin zurückkehren.

Also setzten wir unseren Weg fort, passierten unterwegs einen kleine Lichtung, welche mich ein wenig an diejenige erinnerte, auf der dieses ganze Schlamassel seinen Lauf genommen hatte, und erreichten wenig später eine kleine Bank, welche wohl schon einige Jahre auf dem Rücken hatte, so abgesplittert, wie der weisse Lack aussah. Doch dies störte mich nicht, ganz im Gegenteil. Es zeugte davon, dass sie oft genutzt wurde, was ich aber auch gut verstehen konnte. Innerlich konnte ich mir schon vorstellen, wie Ashton hier mit einem Buch sass und stundenlang damit verbrachte, zu lesen. Doch dies war natürlich nur reine Vorstellung, ich wusste schliesslich nicht einmal, ob er gerne las. Ich hatte es einfach instinktiv angenommen, zumal ich in seinem Zimmer auch einige Bücher ausgemacht hatte. Ich fuhr mit den Fingern über den abgesplitterten Lack, völlig in Gedanken versunken.

Erst Ashtons leises Räuspern riss mich aus meiner Trance. Ich blickte auf und sah, wie er auffordernd mit dem Kinn auf die Bank wies. Wir hatten schliesslich nur begrenz Zeit, die wir hier verbringen konnten. Und diese kurze Zeitspanne sollten wir auch nicht damit verschwenden, uns gegenseitig anzuschweigen. Ich kniff die Augen aufgrund der Sonne zusammen, die durch die Blätter auf uns herabschien, und sah aus dem Augenwinkel, wie Ashton näher an mich herantrat, was mir sehr gelegen kam. Ich liebte es, seine wohltuende Nähe zu fühlen. Nicht zuletzt auch, weil sie eine beruhigende Wirkung auf mich hatte. Also setzten wir uns genossen und das herrliche Frühlingswetter, welches langsam aber sicher der Sommerhitze zu weichen begann.

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