Kapitel 16 - Juli 1965

Ahilea

Ahilea war immer noch unwohl bei dem Gedanken daran, was sie gedachte, heute zu tun. Doch sie sah keinen anderen Ausweg, um ihrer Mutter zu helfen. Und um dies zu tun, würde sie alles riskieren. Ahilea liebte ihre Mutter über alles, nicht zuletzt, weil sie auch der einzige Mensch war, der ihr zuhörte und sie unterstützte. Schon traurig, aber ihre Mutter war ihre einzige Vertrauensperson. Ahilea hatte keine Freunde, da sie ihre Freizeit damit verbrachte, wie eine Wilde zu lernen und ihrer Mutter im Haushalt zu helfen. So war ihr keine Zeit dafür geblieben, Freundschaften zu schliessen, wie es andere in ihrem Alter oder bereits schon viel früher getan hatten.

Ahilea hatte niemandem von ihrem bevorstehenden Plan erzählt und gedachte auch nicht, dies jetzt noch zu ändern. Sie wollte es einfach still und heimlich durchziehen und hoffte dabei, dass alles unbemerkt blieb. Und mit ein bisschen Glück war dies auch machbar.

Dass sie niemandem davon erzählt hatte, kam davon, dass sie einfach niemandem genug vertraute, selbst Mrs. Meyer nicht, die ihr stets geholfen hatte. Ahilea hatte Angst davor gehabt, man wolle ihr diesen Plan ausreden und sie wollte nicht, dass sie noch selbst daran zu zweifeln anfing. Was sie aber ehrlich gesagt schon längst tat. Doch jetzt war keine Zeit für einen Rückzieher, dafür war sie schon zu weit gekommen. Also würde sie es jetzt auch durchziehen.

Nach Einbruch der Dunkelheit verliess die junge Frau die Schneiderei und lief schnell nach Hause. Wie jeden Abend fühlte sie sich unwohl, so alleine in dieser engen, schwach beleuchteten Gasse. Sie war schon immer eine eher ängstliche Person gewesen und die momentane Situation führte dazu, dass sie sich noch unwohler fühlte, als eh schon. Über ihren Körper kroch eine feine Gänsehaut und sie erschreckte sich furchtbar an einer schwarzen Katze, die plötzlich vor ihr über die Pflastersteine rannte. Langsam wurde sie richtig paranoid, ständig hatte sie das Gefühl, an der nächsten Ecke würde ihr jemand auflauern, sei das nun ein Betrunkener oder ein Polizist, der von ihrem Vorhaben mitbekommen hatte und sie nun verhaften wollte. Doch dies war vollkommen unmöglich, denn niemand konnte davon wissen. Absolut niemand.

Ihre Gedanken begannen wieder, um ihre Mutter zu kreisen. In den letzten zwei Tagen hatte sich ihr Zustand noch einmal drastisch verschlechtert, was Ahilea in ihrem Vorhaben noch einmal bestärkt hatte. Sie sah kurz noch einmal nach ihrer Mutter, die unruhig schlief und suchte anschliessend alle Sachen zusammen, die sie für ihr Vorhaben brauchen würde. Ihr Vater war nicht anwesend, aber darüber war Ahilea froh. Sie wollte sich nicht erklären müssen, was sie zu so später Stunde noch draussen zu suchen hatte. Sie würde auf sehr wenig Verständnis stossen. Mit einem letzten Blick auf ihre schlafende Mutter verliess sie die Wohnung und zog die Tür leise hinter sich zu.

Darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden, schlich sie die dunkle Strasse entlang, bis sie schliesslich ihr Ziel, die kleine Apotheke, erreicht hatte. Niemand kreuzte ihren Weg, alle Bürger befanden sich schön brav zu Hause in Sicherheit. Es war allgemein bekannt, dass sich nur das Gesindel zu solch später Stunde noch auf den Strassen herumtrieb und Ahilea verspürte nicht gross Verlangen danach, solchen Menschen alleine zu begegnen, zumal sie körperlich auch eindeutig unterlegen war. Nicht zum ersten Mal verfluchte sie ihre geringe Körpergrösse und ihre zerbrechliche Gestalt, doch es war auch nicht verwunderlich, dass sie dünn war, schliesslich hatten sie nicht genug Geld, um sich mehr Essen zu leisten.

Mit klopfendem Herzen sah sie sich noch einmal um und machte sich dann daran, das Türschloss zu knacken. Dies war leichter gesagt, als getan, aber nach fünf Minuten hatte sie den Dreh raus und die Tür schwang mit einem lauten Quietschen auf. Stocksteif blieb Ahilea stehen und lauschte, ob jemand dieses Geräusch vernommen hatte. Man sollte diese Tür dringend wieder einmal ölen. Nachdem sie einige Minuten ausgeharrt hatte, betrat sie so leise wie möglich den dunkeln Vorraum und sah sich suchend um. Sie konnte nicht viel erkennen und wagte es auch nicht, Licht einzuschalten, da man dies dann von Draussen gesehen hätte. Anschliessend lief sie zum Regal, in dem die Medikamente fein säuberlich aufbewahrt wurden, um diejenigen zu suchen, die ihre Mutter benötigte, um wieder gesund zu werden. Ihr Blick schweifte über die Namen auf den Etiketten und wenig später hatte sie alles beisammen. Es erschien ihr alles viel zu leicht, doch in ihrer Erleichterung, bald wieder zu Hause in Sicherheit zu sein, war sie nicht misstrauisch darüber.

Trotzdem war ihr auch nicht wohl dabei, vor allem, da sie eigentlich keine Diebin war. Nein, sie war ein ehrlicher und gerechter Mensch, der nur mit fairen Mitteln handelte. Ihre Mutter hatte ihr stets beigebracht, ehrlich zu sein und nie zu stehlen. So unter dem Motto «lieber arm, als Reichtum durch Betrug zu erlangen» und dieser Meinung war Ahilea ebenfalls. Ihr wurde immer wieder aufs Neue übel, wenn sie die ganzen reichen Leute sah, die ihr Geld dadurch machten, dass sie andere, vor allem ärmere Menschen, abzockten und betrogen. Nein, da war sie lieber arm. Viel lieber. Heute war das erste Mal, dass Ahilea diese Vorsätze brechen würde und es war auch etwas, wofür sie gerne bereit war, solange sie ihrer Mutter nur helfen konnte. Denn Ahilea konnte nicht untätig dabei zusehen, wie ihre Mutter starb. Ihr Wohlergehen lag der jungen Frau sehr am Herzen, nicht zuletzt weil sie ihre einzige verbliebene Bezugsperson war.

Von ihrem alkoholabhängigen Vater konnte Ahilea nicht viel Unterstützung und Zuwendung erwarten, was sie auch nicht tat, und sie liess ihn auch lieber in Ruhe, anstatt geschlagen zu werden. Denn egal wie liebenswert ihr Vater in nüchternem Zustand war, betrunken war er unberechenbar. Dies war etwas, was Ahilea die letzten Tage ziemlich beschäftigt hatte. Ihrem Vater ging es ziemlich schlecht, und zwar nicht erst seitdem ihre Mutter so krank geworden war. Nein, sein Zustand hatte schon vor einigen Monaten begonnen, langsam aber sicher schlechter zu werden. Anfangs war er nur öfters gereizt gewesen, doch dann kam auch noch der Alkohol und die Gewalt dazu. Von ihrer Mutter wusste Ahilea, dass ihr Dad lange vor ihrer Geburt alkoholabhängig gewesen war und nun hatte er einen Rückschlag erlitten, was Ahilea ziemlich belastete. Und da war sie nicht die einzige, denn auch ihre Mutter hatte es mitbekommen, was aber auch kein grosses Wunder war. Wenn man so eng aufeinander lebte, konnte man nicht viel vor den anderen verstecken.

Plötzlich sah Ahilea einen Lichtstrahl und wenig später hörte sie auch leise Stimmen, die zu ihrem Entsetzen immer lauter wurden. Panisch sah sie sich nach einem Versteck oder einer Fluchtmöglichkeit um, doch es war zu spät. Sie blinzelte, als der blendende Lichtstrahl einer Taschenlampe auf sie fiel und als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatte, konnte sie zwei Polizisten entdecken. «Ich habe dir doch gesagt, ich hätte etwas gesehen», sagte der einte zum anderen. Verängstigt wich Ahilea in eine Ecke zurück, in der sich schon ein Besen befand, wie sie feststellte, nachdem sie ihn beinahe umgestossen hätte. Das alles fühlte sich wie ein Albtraum an, aus dem sie aber nicht erwachen würde.

«Was soll das werden, Mädchen? Was denkst du dir dabei, hier einfach bei Nacht und Nebel einzubrechen und zu klauen?», fragte der zweite Polizist, der schon etwas älter war, was unschwer an seiner faltigen Haut und den im Licht silbern schimmernden grauen Haaren zu erkennen war. Gerade als Ahilea den Mund aufmachte, um eine Antwort zu geben und um sich zu erklären, fuhr der erste sie an, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengepresst: »Spar dir deine Worte, die kannst du uns auf dem Revier mitteilen.» Ahilea wimmerte leise, und duckte sich. Wenn sie schnell genug war, könnte sie an den beiden Wachen vorbei nach Draussen, in die Freiheit, gelangen.

Ohne gross zu überlegen stürmte sie los, doch ihr Fluchtversuch fand ein jähes Ende, als der Ältere seinen Fuss blitzschnell ausstreckte und Ahilea darüber stolperte. Unsanft knallte sie auf den Boden und noch bevor sie aufspringen konnte, wurde sie auf den Boden gedrückt und ihre Hände auf den Rücken gezogen. Sie keuchte auf, da es für sie ziemlich schmerzhaft war. Der Polizist drückte sie mit seinem gesamten Gewicht auf den harten, kalten Boden und auch wenn Ahilea versuchte, seinen Arm, der sich schmerzhaft in ihre Seite bohrte, ein wenig wegzudrücken, so liess er sich jedoch keinen Millimeter bewegen. Wenig später spürte sie kaltes Metall, das ihre Handgelenke umschloss und sie an jeglichem weiteren Fluchtversuch hinderte. Unsanft wurde sie auf ihre Füsse gezogen und fand sich zwischen den beiden Wachmännern wieder, die grimmig auf sie herabschauten. Beide überragten sie um einige Zentimeter und wirkten so nur noch bedrohlicher, als sie mit ihren verschlossenen Gesichtern eh schon aussahen. Echt unheimlich.

«Du kommst jetzt mit uns mit, junge Dame. Und versuche nicht ein weiteres Mal, uns zu entwischen. Du machst es nur noch schlimmer, glaub mir», sagte der zweite Polizist drohend und stiess sie vorwärts. Tränen rannen über Ahileas Wangen, als man sie nach Draussen gezerrt hatte und die Strasse entlangführte. Zum Glück blieb ihr die Schande von neugierigen Zuschauern erspart, da sich keinerlei Menschen auf der Strasse befanden. Doch dies wäre Ahilea gar nicht aufgefallen, zu sehr war sie in Gedanken versunken. Sie hatte versagt. Ihre letzte Chance, ihrer todkranken Mutter zu helfen, war misslungen und Ahilea wusste, dass dies gleichzeitig das Todesurteil ihrer Mutter bedeutete. Und sie konnte nichts mehr daran ändern. «Verzeih mir, Mutter», flüsterte sie im Stillen.

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