Kapitel 5

Am nächsten Morgen wurde ich von einem Gong geweckt. Verschlafen schälte ich mich aus der Bettdecke und stand auf.

Mein Kopf brummte. Inzwischen bereute ich es, dass ich gestern Abend nicht noch einmal zurück zur Bar gegangen war, um meine Panik mit Alkohol zu betäuben. Auch ohne fühlte ich mich schon wie Dreck. Die Erinnerungen von gestern waren wie in meinen Verstand eingebrannt. Diese grünen Augen. Die Wut darinnen. Selbst den Waldgeruch hatte ich noch in der Nase.

Es klopfte. Doch dieses Mal überkam mich bei diesem Geräusch zum Glück kein weiterer Anfall von Panik.

"Arin?", ertönte Wilmas Stimme aus dem Flur. "Bist du wach?"

Ich ging zur Tür und öffnete.

"Guten Morgen, meine Liebe. Hast du gut geschlafen?", fragte Wilma mich. In ihrer Hand hielt sie ein silbernes Frühstückstablett mit einer Schüssel Müsli, kleinen Schokoladenpfannkuchen und einem Glas Orangensaft.

Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich auch groß sagen? Gestern hatte ich nicht nur erfahren, dass ich tot war, ich hatte auch meinen Mörder höchstpersönlich getroffen und meinen eigenen Tod wiedererlebt. Keine Überraschung, dass es mir nicht gerade gut ging. Aber immerhin war es eine traumlose Nacht gewesen. Die Bilder, die mich verfolgt hätten, hätte ich nicht noch einmal ertragen.

"Keine Sorge. Das wird schon", versuchte Wilma mich aufzuheitern. "Es geht vielen Ankömmlingen in den ersten Tagen so. Es ist nicht einfach am Anfang. Sehr viel auf einmal, in so einer kurzen Zeit. Aber du wirst sehen, bald hast du dich hier eingelebt und dann geht es besser. Okay?"

Ich nickte, wenn auch nicht ganz überzeugt. Wilma reichte mir das Tablett. "Wenn du Appetit hast, lass dir Zeit für ein kleines Frühstück und mach dich dann fertig. Wenn nicht kannst du auch gleich zu deiner Einzelstunde gehen. Erlo wartet in seinem Büro auf dich."

"Wie?", fragte ich. "Ich dachte, Erlo hat mich nur für gestern übernommen. Er hat gesagt, Ramona ist ab jetzt wieder meine Betreuerin."

"Ja, das dachte er auch", sagte Wilma kopfschüttelnd. "War ein ganz schönes Theater heute Morgen. Aber es ändert nichts. Die Regeln sind eindeutig. Nach der Ankunft darf der Betreuer nicht gewechselt werden, es sei denn es gibt wichtige Gründe dafür und der Wechsel wurde von der Abteilungsleitung genehmigt. Die Bindung, die über die Einzelstunden zwischen Betreuer und Ankömmling aufgebaut wird, ist ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses und-"

Ich sah sie schockiert an.

"Entschuldige. Ich fasel wieder. Mach dich einfach fertig und geh zu ihm ins Büro. Den Weg kennst du ja. Okay?"

Ich nickte.

"Wir sehen uns heute Nachmittag in der Gruppenstunde, wenn ich mich richtig erinnere. Ich hab dich heute Morgen auf meiner Liste gesehen." Sie zwinkerte mir zu. "Also viel Erfolg und bis später."

Ich schloss die Tür, wand mich aus dem Kleid und öffnete den Kleiderschrank neben dem Bett. Wahllos nahm ich eine Jogginghose und ein T-Shirt raus und zog beides an. Dann ließ ich mich aufs Bett fallen, zog das Tablett auf meinen Schoß und begann zu essen.

Ich hatte zwar noch immer keinen Hunger, doch es beruhigte mich, etwas zu haben, mit dem ich mich ablenken konnte, bevor ich zu Erlo gehen musste. Es war nicht so, dass ich Angst vor ihm hatte. Nein, es war das, worüber er mit mir reden würde, was ich fürchtete. Also zögerte ich es lieber hinaus und aß so langsam, wie es mir nur irgendwie möglich war. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen schaffte ich es nicht ganz, zu verhindern, dass meine Gedanken zurück zu meiner Familie wanderten. Zurück zu der Zeit, in der ich noch gemeinsam mit ihnen am Frühstückstisch gesessen hatte und meinem Vater dabei zugesehen hatte, wie er meinem Bruder seine kleinen Toasthappen zurechtschnitt, während ich meine morgendlichen Cornflakes löffelte.

Ich versuchte, diese Gedanken beiseite zu schieben, doch so sehr wie ich mich auch bemühte, es war vergeblich. Schließlich gab ich auf, stellte das hab gegessene Frühstück auf den Schreibtisch und band meine Haare zu einem Zopf. Dann verließ ich das Zimmer und lief den Gang entlang bis zu Erlos Büro.

"Tür zu", begrüßte Erlo mich, ohne auch nur den Kopf zu heben. Wie gestern auch saß er am Schreibtisch und tippte etwas in den Computer ein.

Ich machte ein paar Schritte in den Raum hinein, blieb dann aber stehen.

"Setz dich."

Ich tat wie geheißen.

"So", begann Erlo. "Arin." Er sah zu mir hoch. "Wilma hat dir bestimmt erzählt, dass wir die morgendlichen Einzelstunden zusammen haben werden, solange du hier bist."

Ich nickte.

"Gut. Hat sie schon was zur Gruppenstunde gesagt?"

"Sie meinte, ich sehe sie heute Nachmittag da."

"Also nicht."

Fragend sah ich ihn an.

"Okay, also, nun -wie soll ich das am besten sagen- grundsätzlich sind die Gruppenstunden dazu da, das in den Einzelstunden gelernte zu vertiefen und mit den Erfahrungen der anderen Teilnehmer zu verknüpfen. Viele Ankömmlingen fällt es durch den Austausch leichter, sich in der Zwischenwelt zurecktzufinden und eine Basis zu schaffen, auf der sie in den späteren Einzelgesprächen aufbauen können. Genau wie die Einzelstunden sind die Gruppenstunden daher verpflichtend und sind Montags bis Freitags in deinem Stundenplan eingetragen. Den bekommst du später noch. Die Gruppen werden nach Ankunftsreihenfolge eingeteilt-"

Eine Weile sah Erlo so aus, als hätte er den Faden verloren, fing sich dann aber wieder und fuhr fort. "Wilma meinte, ich soll dich vorwarnen. Du und der Junge, Lucas, ihr seid in einer Gruppe."

"Was?", fragte ich entsetzt. "Aber- das kann nicht sein. Wilma hat doch selber gesagt, ich soll ihm aus dem Weg gehen. Und nach gestern- ich meine nach gestern Abend- ich- wie soll ich das tun, wenn ich mit ihm in einem Raum sitzen muss?"

Erlo zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Wilma hat gestern versucht, die Genehmigung für einen Wechsel zu bekommen, aber der wurde abgelehnt."

Ich blinzelte. Tränen der Verzweiflung schossen mir in die Augen. Wie sollte ich es schaffen, mit meinem Mörder in einem Raum zu sitzen? Wie sollte ich mit den anderen über meinen Tod reden, wenn er direkt daneben saß? Wollte ich überhaupt wissen, was er dazu zu sagen hatte?

"Denk einfach nicht drüber nach. Es wird schon nichts passieren", sagte Erlo, als er meinen Gesichtsausdruck sah.

"So wie gestern Abend nichts passiert ist?", fragte ich mit zittriger Stimme.

"Hmmm?"

"Ich hab ihn gesehen. Im großen Saal. Er hat- ich hab Dinge gesehen. Erinnerungen. Von-" Ich schluckte.

"Von deinem Tod?", fragte Erlo, auf einmal sehr viel interessierter.

Ich nickte.

Erlo runzelte die Stirn. "Okay. Das ist-unüblich." Er überlegte einen Moment. "Was hast du denn gesehen?"

Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. "Ich weiß nicht. Es ging alles so schnell. Da war ein Wald. Ich glaube wir waren im Wald."

"Wir?"

"Ich, Navarro und -ähm- Lucas."

"Navarro ist der, den du für deinen Mörder gehalten hast, richtig?"

Ich nickte.

"Interressant. Und diese-" er machte eine kleine Pause und sah mich nachdenklich an. "Diese Erinnerung. Hast du die nur so erinnert oder warst du richtig drin?"

"Es war genau so, als würde ich sie noch einmal durchleben. In meinem eigenen Körper, mit meinen eigenen Gefühlen."

Erlo zog gedankenverloren die Lippen zusammen.

"Was?", fragte ich, als er weiter schwieg.

"Ach, nichts, nichts. Ich versuche nur gerade, mich an etwas zu erinnern." Er zuckte mit den Schultern. "Aber egal. Wo waren wir?"

Er kramte ein Stück Papier aus der Schreibtischschublade und überflog es.

"Gruppenstunde haben wir, Stundenplan übernimmt Wilma für euch alle, so, dann- achso, genau. Die Übersicht."

Er ließ den Zettel auf den Tisch fallen und sah mich an.

"Also. Du bist gerade bestimmt ein wenig durcheinander und fragst dich, was wir eigentlich mit der ganzen Therapie bezwecken."

Ich nickte.

"Hatte ich dir das mit dem Weitergehen schon erzählt?"

"Nicht wirklich."

"Okay, also. Für dich gibt es genau eine Möglichkeit, hier aus der Zwischenwelt rauszukommen. Wie ich dir gestern schon erzählt habe, gibt es für dich natürlich kein Leben mehr, also bleibt nur eines: Der Tod. Und das nennen wir hier in Etenia "weitergehen". Ganz simpel formuliert ist das also das Ziel der Therapie. Ich helfe dir dabei, deine Gefühle zu sortieren und eben diese Rachegedanken, die dich zurückhalten, zu lösen."

"Ich habe keine Rachegedanken", widersprach ich, doch Erlo sprach weiter, ohne auf meine Unterbrechung einzugehen.

"Heute haben wir leider nicht mehr genug Zeit, um richtig anzufangen, du bist schließlich erst zehn Minuten vor Stundenende hier aufgetaucht, aber morgen fangen wir erstmal damit an, zu besprechen, woran du dich überhaupt erinnern kannst. Von da aus geht es Schritt für Schritt weiter."

"Aber-" Ich stockte.

"Ja?"

"Und jetzt?", fragte ich.

"Jetzt bring ich dich zur Gruppenstunde", antwortete Erlo.

Ich schüttelte hektisch mit den Kopf. "Ich will da nicht hin. Ich kann nicht. Ich kann diesen- diesen Typen nie wieder sehen. Als ich ihn angesehen habe- mein ganzer Körper hat sich auf einmal so angefühlt, als wäre ich in Flammen aufgegangen und-"

"Ein wenig dramatisch dafür, dass du hier keine Schmerzen empfinden kannst, meinst du nicht?", unterbrach Erlo mich.

"Aber ich hab wirklich- naja ich glaube- ach egal. Ich kann da wirklich nicht hin."

"Du hast keine Wahl."

"Und wenn ich mich weigere?"

"Willst du es wirklich austesten?"

Ich zuckte mit den Schultern. Erlo sah auf seine Uhr.

"Ich habe gleich eine neue Ankunft, um die ich mich kümmern muss. Wenn du also nichts Wichtiges mehr zu sagen hast, würde ich sagen, gehen wir."

Er erhob sich aus seinem Stuhl und ging zur Tür. Ich nahm einen tiefen Atemzug, stand auf und folgte ihm. In meinem Inneren versuchte ich, sämtliche Gedanken, sämtliche Gefühle beiseite zu schieben und mein wild schlagendes Herz ein wenig zur Ruhe zu bringen.

"Denk dran, hier kann er dir nichts mehr tun", sagte Erlo und schloss die Bürotür hinter uns. Ein paar Meter liefen wie nebeneinander durch den Gang, dann blieb ich stehen, zupfte mein T-shirt zurecht und steckte es vorne locker in die Hose. Dann zog ich die Schultern nach hinten und hob das Kinn. Wenn ich mich schon nicht so fühlte, wollte ich wenigstens so aussehen, als ob ich die Stärkere von uns beiden war.

Erlo winkte mich ungeduldig weiter. „Komm. Beeil dich. Die Anderen sind bestimmt schon alle da."

Wir rannten fast durch die Gänge, bis Erlo schließlich vor einer Tür stehen blieb. "Gib dem ganzen eine Chance, okay?", verabschiedete er sich. "Je schneller du es akzeptierst, desto schneller bist du bereit und kannst weitergehen."

Dann drehte er sich um und ließ mich alleine im Gang stehen. Langsam schlossen sich meine Finger um die kalte Türklinke. Ich atmete tief durch, dann öffnete ich die Tür.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top