Kapitel 4
Am Buffet lud ich meinen Teller mit Nudelsalat, Kräuterbaguette und Käsespießen auf, dann suchte ich mir einen Platz und fing an zu essen. Ich hatte keinen Hunger, wenn ich so darüber nachdachte hatte ich seit meinem Erwachen hier keinen Hunger gehabt, doch dass Essen schmeckte trotzdem genau so, wie es schmecken sollte. Vielleicht noch ein wenig besser. Es war ein willkommener Funke an Normalität, mit der Gabel im Nudelsalat herumzustochern und nebenbei das Brot in kleine Stücke zu reißen. Als ich mit dem Essen fertig war, brachte ich mein Geschirr weg und wollte gerade zur Tanzfläche gehen, als mich eine bekannte Stimme rief.
Ich drehte mich um. Wilma stand am Eingang und winkte mich zu sich. Ich schlängelte mich durch die Menge zu ihr und folgte ihr durch die Glastür auf den Gang. "Ich hab vorhin nochmal mit Martin gesprochen bezüglich deiner-"
Nach Worten ringend sah sie sich um. "Situation", beendete sie den Satz dann mit gesenkter Stimme.
Ich presste die Lippen aufeinander und nickte. "Ja?"
"Der Junge hat zugestimmt, sich heute Abend von dir fernzuhalten, das hat mir sein Betreuer versichert."
"Okay, gut", sagte ich erleichtert. Nach all dem, was ich gerade gesehen hatte, hatte ich den Typen schon fast vergessen. Dabei war er derjenige, der mich hier hergebracht hatte, nicht Navarro.
"Ich möchte, dass du das auch tust", sagte Wilma streng.
"Mach ich", versprach ich.
"Mit Fernhalten meine ich Fernhalten, Fräulein."
Ich nickte. Ich hatte es auch schon beim ersten Mal verstanden. Außerdem hatte ich nie vorgehabt, auch nur in seine Nähe zu kommen. Mit meinem Mörder Smalltalk an der Bar zu halten oder was auch immer Wilma gerade so durch den Kopf ging, war nicht das, was ich für diesen Abend geplant hatte. Doch Wilma schien noch immer nicht zufrieden zu sein.
"Ich bleibe mit den anderen Betreuern am Buffet, falls du mich brauchst."
"Danke", sagte ich und lächelte. Dann kam mir ein Gedanke.
"Hast du das Mädchen gesehen, das neben mir gesessen hat? Sie ist am Anfang der Rede mit einem Jungen rausgegangen."
"Das Mädchen ist zurück in ihre Abteilung gebracht worden. Keine Ahnung wie sie hier hergefunden hat. Da hat mal wieder einer nicht aufgepasst. Aber es ist nichts, worüber du dir noch Gedanken machen solltest. Wir haben uns schon darum gekümmert."
Ich nickte, wenn auch nicht ganz überzeugt.
"So, aber jetzt genieß den Abend", sagte Wilma und scheuchte mich zurück in den Saal. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie an mir vorbei zu den anderen Betreuern ging. Inzwischen war die Musik so weit aufgedreht, dass man eine Unterhaltung vergessen konnte. Das große Deckenlicht war ausgeschaltet worden und durch wild blinkende Scheinwerfer auf der Tanzfläche ersetzt worden.
Unsicher, wohin ich gehen sollte, blieb ich mitten in der Tür stehen. In meinem Leben war ich auf hunderten von Partys gewesen. Seit ich studierte so gut wie jede Nacht. Doch nie hatte ich mich so unwohl und allein gefühlt wie jetzt. Früher hatte ich meine zwei besten Freunde gehabt, die mir nie von der Seite wichen, Menschen, die ich seit fast einem Jahrzehnt kannte. Von den hundert Gästen im Saal kannte ich keinen und nach all dem, was ich über sie wusste, wollte ich es vermutlich auch gar nicht.
Langsam schob ich mich durch die Menge in Richtung Bar. Je länger ich die tanzenden Menschen um mich beobachtete, desto mehr hatte ich das Bedürfnis, einfach zurück in mein Zimmer zu gehen. Erst das Gespräch mit Erlo, dann das Mädchen, dann das hier-
„Du siehst angespannt aus. Willst du etwas trinken?", brüllte mir eine männliche Stimme ins Ohr. Ohne mich umzudrehen oder zu antworten ging ich weiter.
„Sicher? Was hast du schon zu verlieren? Tot bist du sowieso schon", lallte die Stimme hinter mir weiter. Eine Hand klatschte auf meine Schulter. Ich beschleunigte meine Schritte, so dass sich die Hand von mir löste. Einige Schritte später sah ich mich um.
Der Typ, der mich gerade angesprochen hatte, lag sturzbesoffen auf dem Boden, sein nun leeres Glas noch immer in der Hand. Einige Gäste beugten sich besorgt über ihn. Obwohl ich unter normalen Umständen angeekelt von solch einer Begegnung gewesen wäre, breitete sich ein warmes Gefühl in mir aus. Wenn Alkohol hier genauso funktionierte wie vorher auch, konnte mich niemand davon abhalten, die Erlebnisse des heutigen Tages einfach zu ersäufen. Der Typ hatte recht. Ich hatte sowieso nichts mehr zu verlieren.
Doch bevor ich die Bar erreicht hatte, stieß ich mit der Schulter gegen jemanden.
„Hey", rief ich gegen die Musik an. „Pass doch auf."
Ich drehte mich um. Vor mir stand ein Typ, ungefähr in meinem Alter. Eine seiner braunen Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht, als er den Kopf verärgert in meine Richtung drehte. Unsere Blicke trafen sich. Plötzlich durchzuckte mich ein Schmerz, als würde mir jemand das Herz in der Brust zerquetschen. Ich keuchte auf. Der Typ vor mir schien sich ähnlich zu fühlen, denn seine Empörung wich einer schmerzverzerrten Grimasse. Ich stolperte nach hinten und brachte ein paar Schritte Abstand zwischen uns.
„Was zum," keuchte der Typ, dann gaben meine Beine nach und ich fiel auf die Knie.
Ich war wieder im Wald. Hämisch sah Navarro mich an. Meine Hand zitterte immer stärker, doch ich hielt die Waffe auf ihn gerichtet.
„Wie viele Menschen hast du umgebracht?", schrie ich ihm entgegen. „Wie viele Menschen werden es noch sein, bevor du endlich aufhörst?" Ich stolperte auf ihn zu. "Nenn mir einen Grund, warum ich nicht schießen sollte."
"Du bist keine Mörderin, Arin."
"Ein Leben gegen viele, hast du gesagt. Wenn ich dich jetzt töte, werden so viele mehr verschont."
Tränen liefen mir über die Wangen. Navarro schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf, als wäre ich ein kleines Kind, das eine Rechenaufgabe einfach nicht verstehen wollte. „Natürlich verstehst du es nicht. Du siehst nicht das ganze Bild."
„Ach ja?"
„Weißt du, manche Menschen verdienen den Tod. Manche Menschen sind nicht mehr zu retten. Ich dachte, du verstehst das." Er seufzte, als ich keine Anstalten machte etwas zu sagen. „Willst du noch schießen oder legst du die Waffe weg?"
„Ich kenne keinen Menschen, der den Tod mehr verdient als du es tust", zischte ich voller Abscheu und wischte mir mit dem Handrücken eine Träne vom Kinn.
Navarro sah mich abschätzig an. „Ich hatte wirklich mehr von dir erwartet, Arin"
Plötzlich knackte es laut. Ich fuhr herum und richtete meine Pistole in die Dunkelheit. Erst sah ich gar nichts. Dann kam eine schemenhafte Gestalt zum Vorschein. Langsam ging sie auf mich und Navarro zu. Es war zu dunkel, um das Gesicht zu erkennen, doch die Pistole in der Hand war nicht zu übersehen.
„Lassen Sie die Waffe fallen!"
Ich stolperte rückwärts. Im fahlen Mondlicht sah ich, wie die Gestalt stehen blieb. Mein Herz pochte mir bis zum Hals, als sich meine Finger um den Abzug legten. Dann drückte ich ab. Im selben Moment explodierte der Schmerz in meiner Brust.
Der Wald verschwand vor meinen Augen und ich sah wieder den weiß-silbernen Marmorboden. Ich schnappte nach Luft. Als der Schmerz zu einem leichten Pochen abschwoll, blickte ich wieder hoch.
Der Typ vor mir hatte noch immer die Hände auf den Boden gestützt und sah so aus, als ob er gleich zusammenbrechen würde. Auch er hob den Kopf und blickte mir direkt in die Augen. Wieder durchzuckte mich ein Schmerz, genau an der Stelle, an der ich die sternenförmige Narbe gefunden hatte. Dann traf mich die Erkenntnis. Vor mir kniete Lucas Brannigan. Mein Mörder.
Mit zitternden Knien rappelte ich mich auf und verließ fluchtartig den Saal. Mein Atem ging schneller. Ich rannte. In meinem Zimmer angekommen warf ich die Tür zu und verbarrikadierte sie mit dem Schreibtischstuhl. In der Mitte des Raumes ließ ich mich auf den Boden fallen und umschlang meine angewinkelten Beine so fest wie ich nur konnte. Doch auf dem Gang blieb es ruhig.
Während ich so da saß, den Kopf auf den Knien und den Blick auf die Tür gerichtet, kam mir ein Gedanke:
Ich will nach Hause
Es war ein dummer und wahnsinnig kindischer Gedanke. Es gab niemanden, der mich hiervor beschützen konnte. Nicht meine Eltern, nicht die Polizei, niemand. Ich war vollkommen auf mich alleine gestellt. Und doch hatte ich in diesem Moment ein solches Heimweh, wie ich es noch nie in meinem ganzen Leben gehabt hatte. Am liebsten hätte ich geheult. Doch es kamen keine Tränen. Selbst dazu war mein Körper nicht mehr in der Lage.
Ich ließ mich auf den Rücken fallen und schloss die Augen, versuchte mir vorzustellen, ich würde in meinem Zimmer liegen, auf dem flauschigen grünen Teppich vor meinem Schreibtisch. Das hatte ich schon als kleines Kind immer getan, wenn ich in Ruhe nachdenken musste. Vor meinem inneren Auge blickte ich nach oben, sah die zerrissenen Poster an der Schräge über meinem Bett und die Zimmertür, die von innen so sehr mit Jacken und Turnbeuteln behangen war, dass es jedes Mal ein kleines Abenteuer war, den Türgriff zu finden. Wie immer lag mein Unirucksack neben dem Bett, die Vorlesungsnotizen über den halben Boden verteilt.
Es dauerte eine Weile, bevor ich genug Kraft gesammelt hatte, um zu weinen. Doch irgendwann lief die erste Träne über meine Wangen. Als der Damm erst einmal gebrochen war, gab es keinen Halt mehr. Schluchzend rollte ich mich auf die Seite, zog die Beine hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. So blieb ich liegen, während die Tränenflut ein wenig dabei half, mein Innerstes zur Ruhe zu bringen. Doch die Schwere ums Herz, die ich jedes Mal spürte, wenn ich an meine Familie dachte, löste sich nicht.
Es klopfte. Ich riss panisch die Augen auf und sah zur Tür. Geräuschlos setzte ich mich auf, wischte mir mit dem Ärmel über das Gesicht und starrte mit klopfendem Herzen gegen die Tür. Weder sagte ich etwas, noch öffnete ich. Es klopfte noch ein paar Mal, doch als ich auch das ignorierte, hörte es schließlich auf.
Irgendwann, nachdem ich stundenlang zitternd auf dem Boden gesessen hatte, zog ich erschöpft die Decke vom Bett, wickelte sie um mich und schlief mitten auf dem Boden ein.
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