Kapitel 37

Das Auto war wie die Wohnung von Max ein reiner Haufen Schrott, doch es fuhr und das war im Moment alles, was zählte. Während ich uns über die Autobahn in Richtung Norden lenkte, hatte Lucas auf dem Beifahrersitz seinen Laptop auf dem Schoß und wies mir den Weg. Der Friedhof lag an der nördlichsten Küste Dänemarks, etwa sechs Fahrstunden mit dem Auto entfernt. Mit der Schrottkarre von Max vielleicht acht. Es wunderte mich ein wenig, warum gerade dort die Lösung unseres Rätsels versteckt sein sollte, doch wenn ich in den letzten Monaten eines gelernt hatte, dann, dass ich Lucas in solchen Dingen vertrauen konnte. Er wusste, was er tat.

Als wir endlich am Friedhof ankamen, war es halb drei in der Nacht. Meine Beine waren schwer und mein Rücken schmerzte von der langen Fahrt. Mit einigem Abstand zum Eingang stellten wir den Wagen ab und stiegen aus.

Ich war noch nie nachts auf einem Friedhof gewesen. Als Lukas das rostige Eisentor zu den Gräbern aufschob, wusste ich auch sofort, warum. Schon der Anblick der schiefen, zu Teilen zerfallenen Steine ließ es mir kalt den Rücken hinunter laufen. Ich konnte nicht einmal Kirchen betreten, ohne darüber nachzudenken, über wie viele Leichen ich wohl gerade lief. Friedhöfe waren da nochmal eine ganz andere Nummer, gerade, wenn man kaum sehen konnte, wo man überhaupt hintrat. Oder auf wen.

Dass wir in Straßennähe auf die Unterstützung einer Taschenlampe verzichteten, um kein Aufsehen eventuell umliegender Häuser zu erregen, machte es auch nicht einfacher. In völliger Dunkelheit stolperten wir über den unebenen Boden. Es war deutlich wärmer, als ich es erwartet hatte. Vielleicht fehlte der steife Wind, den ich an diesen Küsten gewohnt war, vielleicht war es aber auch schon Sommer geworden, ohne, dass ich es bemerkt hatte.

"Das war mein Fuß", zischte Lukas plötzlich und blieb stehen. Das bemerkte ich aber erst, als ich mit voller Geschwindigkeit in seine Schulter lief.

"Aua", beschwerte ich mich und wollte zu meinem Handy greifen. Doch, als hätte er es bereits geahnt, tastete Lucas in der Dunkelheit über meinen Arm, fand das Handgelenk und zog es zu sich.

"Tut mir leid", flüstere er. 

"Es wär sehr viel einfacher, wenn wir einfach nur ein wenig Licht machen würden" beschwerte ich mich, ließ das Handy aber in der Tasche.

"Wir haben nur diese eine Nacht. Wenn jemand uns sieht, ist es vorbei."

"Ich weiß", seufzte ich und ging weiter. "Das setzt aber erstmal vorraus, dass hier jemand wohnt."

Da Lucas nichts erwiderte, liefen wir stumm weiter. Ich achtete darauf, meine Füße nicht zu schnell nach vorne zu bewegen, stolperte aber trotzdem einige Male und musste mich mit den Händen abfangen, um nicht Gesicht zuerst in die Gräber zu fliegen. Unter all dem, was hier schief gehen konnte, war das nämlich das Letzte, was ich wollte.

Plötzlich spürte ich warmen Atem in meinem Nacken. Ich fuhr herum und streckte dabei instinktiv meinen Arm in die Höhe. Meine Faust landete auf etwas Hartem.

"Fuck. Was sollte das?", ertönte Lucas schmerzverzerrte Stimme vor mir.

Ich presste mir die Hände auf die Brust und versuchte, mein panisch pochendes Herz zu beruhigen. "Du hast mich einen verdammten Schrecken eingejagt. Sag mir doch, dass du hinter mir stehst", fuhr ich ihn an.

"Ich stehe hinter dir Arin. Bitte schlag mich nicht", sagte Lucas trocken.

Auch wenn das Blut noch immer durch meine Adern rauschte, konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen. Irgendwie war Lukas Direktheit mir ans Herz gewachsen.

"Tut es doll weh?", fragte ich.

"Du hast ein verdammt harten Schlag drauf, weißt du das?"

"Jap. Und ich bin verdammt stolz darauf", antwortete ich noch immer lachend und tastete nach seinem Gesicht.

"Bluten tust du schonmal nicht", verkündete ich und ließ meine Hände sinken.

"Warte, lass deine Hände da, die sind so schön eiskalt."

Leise kichernd legte ich meine Hände an sein Kinn. "Das ist das erste Mal, dass meine immer kalten Hände zu was gut sind. Also, nach Angreifer K.O schlagen natürlich."

Lukas antwortete nicht. Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Stirn und hörte das gelegentliche Rascheln der Bäume, doch ansonsten blieb der Friedhof still. Als ich meine Hände schließlich runter nehmen wollte, spürte ich etwas Neues. Seine Lippen auf meinen. Überrascht riss ich meinen Kopf nach hinten.

"Sorry", entschuldigte Lukas sich sofort. "Ich hätte das nicht-" Doch dieses Mal brauchte ich nicht lange, um meine Überforderung zu überwinden. Mit einer Hand zog ich ich ihn zu mir runter, dann erwiderte ich den Kuss.

Lukas seufzte leise, als ich mit den Händen über seine Arme fuhr und ihn an mich heran zog. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, zumindest fühlte es sich so an, doch irgendwann fiel mir wieder ein, wo wir eigentlich waren. Sofort löste ich mich von ihm.

"Ist das nicht irgendwie respektlos?", fragte ich. "Den Toten gegenüber meine ich?"

Lukas lachte. "Wieso sollte es? Diejenigen, dessen Überreste hier liegen, sind schon längst nicht mehr in Etenia, geschweige denn hier. Friedhöfe sind für die Lebenden, nicht für die Toten. Und selbst wenn, würden sie wegen einem kleinen Kuss bestimmt nicht gleich die Säbel zücken/auf die Barrikaden gehen."

Ich verzog das Gesicht. "Weißt du, nach all dem, was wir schon erlebt haben, bin ich mir da bei nichts mehr sicher. Wenn da gleich wer aus der Erde klettert und uns anfällt, würde ich mich längst nicht mehr wundern. Fürchten? Ja. Aber wundern?"

"Pass auf, wenn es dir damit besser geht, schalten wir ab hier die Taschenlampe an", sagte Lucas.

Ich lachte leise. "Du hast auch Angst, gib es zu."

"Nach dem Bild, was du gerade in meinem Kopf gemalt hast? Ja, da habe auch ich Angst." Grinsend lief ich neben ihm dem Lichtkegel seiner Taschenlampe hinterher, bis wir schließlich eine große, mit Moos und Efeu bewachsene Säule erreichten.

"Das muss es sein", sagte Lukas und leuchtete mit der Taschenlampe darauf.

"Das soll ein Grab sein?", fragte ich verwirrt.

"Kein Grab, aber eine Erinnerung. Ein Denkmal."

"Wie soll uns ein Denkmal bitte weiterhelfen?", fragte ich, nahm Lukas die Taschenlampe ab und leuchtete damit auf die Säule. Zwischen all dem Moos musste doch irgendwo eine Innenschrift versteckt sein. Mit der freien Hand versuchte ich, wenigstens den Efeu vom Stein zu entfernen, hatte aber nur mäßigen Erfolg.

"Kannst du das lesen?", fragte ich, als ich nach einigen Minuten und zwei eingerissenen Fingernägeln eine blasse Schrift auf dem Stein freigelegt hatte.

Lucas leuchtete sie mit seiner Taschenlampe an und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Selbst wenn ich das könnte, ich kann kein Norwegisch. Du?", fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. Ratlos betrachteten wir den Schriftzug. Dann kam mir eine Idee. "Warte. Ich kenn aber jemanden, der das kann", sagte ich aufgeregt, kramte mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer, die ich mir für Notfälle in mein Gedächtnis eingeprügelt hatte. Es tutet einen Augenblick, dann nahm er ab.

"Arin?", ertönte Viktors Stimme leise.

Ich schaltete ihn lauter und hielt das Handy so, dass auch Lucas ihn verstehen konnte.

"Hey", sagte ich.

"Was ma- wo bist du?", fragte Viktor. "Hast du das erledigt, was du tun wolltest?"

"Nein, aber das ist jetzt erstmal egal, vertrau mir, okay?", sagte ich.

"Okay?", antwortete Viktor wenig überzeugt.

"Du, ich brauch einen letzten Gefallen von dir."

"Einen letzten- Arin, du machst mir Angst."

"Nein, so meinte ich das nicht. Einfach- einfach einen Gefallen. Warte, ich schick dir kurz was." Wortlos bedeutete ich Lucas, das Grünzeug vom Schriftzug wegzuhalten, dann machte ich einige Fotos und schickte sie Viktor.

"Hast du die Bilder bekommen?", fragte ich ihn.

"Ja, hab ich."

"Perfekt. Kannst du mir sagen, was da steht? Das muss Norwegisch sein."

"Ja, ist es."

"Also?"

"Was ist das?", fragte Viktor.

"Sag einfach was da steht."

"Da ist- ich kann nicht alles erkennen- 'wir erinnern an-', und 'Sturm', danach ist da ein großes Loch, 'Tragödie, die unsere Heimat ereilte', wieder ein Loch, dann 'im Namen aller Überlebenden'. Arin, wo zum Henker seid ihr?"

"Lies weiter. Mein Akku hält nicht mehr ewig", drängte ich ihn.

"Okay, warte, 'unser Verlust und unsere Schmerzen', dann 'wir werden nie vergessen', dann kommt eine Liste mit ganz vielen Namen." Wieder stockte Viktor. 

"Hey was ist? Mist. Ich glaub, er ist eingefroren."

"Ewig dankbar unserem Herren und Beschützer, Gustav, seiner Frau und Tochter, die den Fluten zum Opfer fielen", lies Viktor leise. "Wir werden euch nie vergessen."

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