Kapitel 27
Lucas war am Morgen erwartungsgemäß nicht begeistert von meiner Idee. Auch wenn alles gut lief und wir nicht erkannt wurden, gehörte es nicht zu unserer Aufgabe. Da hatte er vollkommen recht. Doch ich ließ nicht locker, redete so lange auf ihn ein, bis er schließlich nachgab. Von meinem Plan erwähnte ich nichts.
Die nächsten Tage verbrachten wir damit, uns Laptops zu kaufen und uns in unserem Hotelzimmer ein kleines Detektivbüro aufzubauen. So fühlte es sich zumindest an wenn wir auf dem Bett saßen und vesuchten, die letzten Mordfälle der Umgebung mit Navarro zu verbinden. Vor allem da ich wusste, dass er damit nichts zu tun haben konnte. Dafür kannte ich seine letzten Opfer viel zu gut.
"Guck mal hier", sagte Lucas irgendwann, seine Stimme voller Aufregung. Ich drehte mich zu ihm um und sah auf seinen Bildschirm.
"Ist das-"
"Emma hieß sie, oder?"
Ich zuckte mit den Schulter. Das Gesicht kam mir bekannt vor, ich wusste sogar woher, doch einen Namen konnte ich damit nicht verbinden.
"Sie hat neben Wilma gesessen", sagte ich stattdessen.
Lucas nickte.
"Kannst du dich noch daran erinnern was sie zu ihrem Tod gesagt hat?"
Wieder zuckte ich mit den Schultern.
"Nachdem ich dran war hab ich absolut nicht mehr zugehört. Du?"
Lucas schüttelte mit dem Kopf.
"Aber Navarro wird damit schon nichts zu tun haben. Schließlich war er da gerade mit dir beschäftigt."
Ich nickte und wandt mich wieder meinem Laptop zu. Auf einer Karte hatte ich alle ungefähren Fundorte der Leichen markiert, die laut Lucas etwas mit Navarro zu tun haben konnten. Es waren Dutzende, über ganz Europa verteilt, ohne irgendein Muster oder Zusammenhang. Während Lucas sich mit Emmas Fall beschäftigte malte ich gedankenverloren auf der Karte herum, bis ich alle Punkte miteinander verbunden hatte.
"Sieh mal einer an, ein Fisch", murmelte ich leise und schnaubte amüsiert.
"Was?" Als Lucas sich umdrehte, stieß er mit seiner Schulter gegen meine.
"Nichts." Ich wollte meinen Laptop wieder zu klappen, doch Lucas war schneller. Er riss mir das Gerät vom Schoß. "Was soll das?"
Hektisch tippte er auf die "Rückgängig machen" Taste, bis der Fisch von der Karte verschwunden war.
"Nimmst du das hier überhaupt ernst?"
"Ich nehm das sehr ernst", schoss ich zurück und riss ihm den Laptop aus der Hand.
"Aha", sagte Lucas nur genervt. Anscheinend hatte er keine Lust auf eine Diskussion.
Ich rutschte auf den Boden und zog den Koffer unter dem Bett hervor. Mit dem Schwert in der Hand setzte ich mich zurück aufs Bett. Wir verbrachten die nächsten Stunden schweigend nebeneinander, Lucas mit seinen Mordfällen beschäftigt, ich mit dem Schwert. Ich versuchte herauszufinden, was an diesem Schwert bloß so besonders sein konnte, dass es dazu in der Lage war Navarro zu töten. Doch zu einem Ergebnis kam keiner von uns.
Als wir uns nicht mehr konzentrieren konnte zogen wir uns um und gingen runter in den Speisesaal. Es gab eine Pilzcremesuppe mit Muscheln, doch Lucas und ich verzichteten beide auf die Muscheln. Schon die Schlürfgeräusche, die andere Hotelgäste beim Essen machten, waren mir nicht geheuer.
Ich fragte mich manchmal, wann es dem Hotel auffallen würde, dass wir für Urlauber recht lange blieben und gleichzeitig das Zimmer recht selten verließen. Seit unserer Ankunft hatten wir das Türschild auf rot gedreht und keinen Zimmerservice in unser Zimmer gelassen. Zu groß war die Gefahr, dass sie irgendetwas bemerkten. Aber bei dem Geld, was sie täglich an uns verdienten, war es ihnen am Ende vermutlich einfach egal was wir in unserem Zimmer taten.
Schließlich war es soweit. Freitag. Der dreizehnte. Ich wachte mit einer merkwürdigen Mischung aus Freude, Aufregung und Angst auf. Beim Frühstück bekam ich kaum einen Bissen runter. Wir mieteten ein Auto, einen kleinen blauen Wagen mit Glasdach, und fuhren über die Autobahn nach Norden. Um 11 machten wir kurz Rast, die letzten zwei Stunden fuhren wir durch.
Als wir in die lange Auffahrt des Anwesens einfuhren, verstärkte sich das nervöse Ziehen in meiner Magengegend.
Es war ein kühler, windiger Tag. Ich wickelte den Mantel enger um mich, als wir den Kiesweg zum Eingang hochliefen. Lucas lief vor mir und verdeckte mein Gesicht so vor den Kameras, die links über dem Torbogen hingen. Als wir sie passiert hatten, zog ich ihn am Arm zu einer schmalen Holztür und zog diese auf. Sie war nicht verschlossen. Vermutlich schreckte das "Besucher verboten" Schild schon genug ab. Auf der steilen Treppe, die uns hinter der Tür in den ersten Stock führte, war es dunkel. Um nicht zu stolpern, hielt ich mich an beiden Seiten an der rauen Steinwand fest.
"Gleich müssen wir links. Da ist eine Leiter hoch in den Turm."
"Ich dachte du wolltest den Saal sehen", sagte Lucas hinter mir.
"Ja machen wir ja auch. Der Turm hat unter der Glocke ein Loch, durch das man direkt in den Saal darunter gucken kann. Da haben Emma, Lotta und ich uns früher immer versteckt und die Erwachsenen beim Essen beobachtet. Meine Mutter kannte die Besitzerin der Burg aus der Schulzeit oder so. Keine Ahnung."
Wir hatten das Ende der Treppe erreicht. Die Holzleiter zum Turm war schmaler als ich sie in Erinnerung hatte, doch immerhin sah sie so aus als ob sie uns halten würde. Ich ließ Lucas vor. Während er vorsichtig die Leiter hochkletterte warf ich einen Blick aus dem Fenster.
Für Besucher war die Burg heute geschlossen. Trotzdem füllte sich der Kiesparkplatz langsam mit Autos. Die Menschen, die ausstiegen, trugen allesamt schwarz.
Als ich ein paar Minuten später hinter Lucas den Turm erreichte, atmete ich direkt eine große Ladung Staub ein. Ich nieste. Lucas warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich sah nach unten in den Saal. Noch war niemand da.
"Bis es losgeht haben wir noch fast eine Stunde", flüsterte ich dennoch. Ich hatte keine Ahnung, wie weit man unsere Stimmen hören konnte.
Wir sahen wieder nach unten. Meine Mutter hatte den Festsaal der Burg so herrichten lassen, als ob die englische Königin höchstpersönlich zu Besuch kommen würde. Die Fenster waren mit schwarzen Tüchern abgedeckt, die nur spärlich Licht in den Saal ließen, während hunderte von Kerzen für eine gespenstische Atmosphäre sorgten. Im Saal verteilt waren rund hundert Stühle, allesamt auf die Bühne ausgerichtet. Ich bezweifelte, dass genug Menschen kommen würden, um alle Plätze zu füllen, aber so wie ich meine Mutter kannte, hatte sie auch noch die ganze Nachbarschaft eingeladen, ob sie mich nun gekannt hatten oder nicht.
Gemächlich setzten sich die ersten Gäste auf ihren Platz, nur um wieder aufzustehen und Neuankömmlinge zu begrüßen oder sich in kleinen Grüppchen zu unterhalten. Ein kleines Chaos in der sonst merkwürdig bedrückenden Atmosphäre.
An der kurzen Seite des Saals stand ein ebenfalls in schwarz gewickelter Tisch. Darauf standen dutzende Bilderrahmen. Jeder einzelnde von ihnen zeigte mich, mal alleine, mal gemeinsam mit meinem Bruder oder der ganzen Famile. Ganz vorne stand ein mehr als lebensgroßes Porträt von mir. Es war das letzte Foto vom Schulfotographen. Ich verzog das Gesicht. An dem Tag hatte ich verschlafen und total vergessen, das der Fotograph später kommen würde. Meine ungekämmten Haare hingen strähnig an beiden Seiten herunter, aber immerhin war das schiefe Grinsen echt.
„Wenn du dich für meine gesamte Lebensgeschichte interessierst", flüsterte ich Lucas zu. „Hier eine kurze Zusammenfassung." Ich deutete auf den Tisch auf unserer linken Seite.
„Werde ich mir definitiv ansehen wenn ich zum Buffet gehe." Lucas grinste und legte eine Hand auf seinen Bauch.
„Mit leerem Magen halt ich das nicht durch. Du auch was?"
Ich nickte, woraufhin Lucas aufstand und die Leiter runterstieg. Einige Minuten saß ich alleine auf dem Boden und beobachtete, wie Lucas den Saal betrat, langsam am Tisch entlang schlenderte und sich dann auf den Weg zum Buffet machte. Keiner der Gäste schien ihn zu beachten. Bei der großen Anzahl an Gästen konnte schließlich niemand wissen, dass Lucas und ich uns zu Lebzeiten nicht gesehen hatten. Zumindest nicht lange.
Langsam wurde mir langweilig. Lucas war schon einige Minuten nicht mehr in mein Sichtfeld zurückgekehrt und inzwischen hatte ich schon jeden Gast genug beim Reden beobachtet um mir eine Meinung darüber bilden zu können ob ich sie kannte oder nicht. Nur die Gastgeber höchstpersönlich waren noch nicht aufgetaucht. Meine Eltern standen vermutlich noch an der Tür und begrüßten die Gäste. Mein Bruder war wahrscheinlich irgendwo im Garten und würde dort so lange bleiben, bis meine Mutter ihn in den Saal zog.
Ich rutschte zurück und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. Meine Beine taten jetzt schon vom Sitzen weh. Die eisige Kälte des Steinbodens machten das Ganze auch nicht besser. Ich ließ den Kopf gegen die Wand fallen und seufzte leise. So lange hatte ich mir ausgemalt wie es sein würde meine Familie wiederzusehen. Und jetzt, wo es kurz davor war wahr zu werden, fühlte es sich so unwirklich an, so unglaublich surreal, dass ich nicht einmal mehr darüber nachdenken wollte. Mit jedem Gedanken an meine Familie kam ein weiterer, den ich am liebsten verdrängen wollte. Scham, Schuldgefühle, Trauer, all das irrte rastlos durch meine Gedanken.
Endlich betrat meine Familie den Saal. Ich rutschte an das Metallgeländer und legte mich auf den Bauch um besser sehen zu können. Meine Mutter kam zuerst. Sie sah aus, als hätte sie Stunden damit verbracht ihre Locken zu bändigen, denn statt in ihrer normalen Haarwolke saßen sie heute in einem aufwändigen Knoten an ihrem Hinterkopf, eine große schwarze Blume in der Mitte. Ihr langes, schwarzes Kleid wurde durch einen Gürtel an der Hüfte gehalten und fiel dann elegant bis kurz vor dem Boden.
Mein Vater trug dieselbe Anzughose, die er täglich zur Arbeit trug. Statt eines schwarzen Hemdes trug er ein einfaches schwarzes T-shirt, das an einer Seite schon aus der Hose gerutscht war. Allein beim Anblick der kurzen Ärmel fing ich an vor Kälte zu zittern. Ich lächelte bei dem Gedanken an die Diskussion, die meine Eltern heute morgen geführt haben mussten. Dieses Mal hatte mein Vater gewonnen.
Selbst mein Bruder hatte einen schwarzen Anzug an. Er lief auf meine Tante zu und umarmte sie. Als er zurück zu meinem Vater lief, musste er sich geradezu durch die Menschenmasse drängen, die sich vor dem Tisch gebildet hatte. Ich schnaubte leise. Ich hatte meine Mutter eindeutig unterschätzt. Sie hatte nicht nur die halbe Nachbarschaft eingeladen, so wie es schien. Alte Freunde, Bekannte, Schulkameraden, sie alle waren da, gekleidet in schwarz, um mir Lebewohl zu sagen. Mein Blick wanderte zurück zu den Stuhlreihen, die sich nun ebenfalls immer mehr füllten.
"Achte immer darauf, dass du mehr Einladungen als Plätze ausgibst, Arin", imitierte ich leise die Stimme meiner Mutter. "Leere Stühle will niemand sehen, aber Menschen, die sich auf die Gänge und Fensterbänke setzen, um deine Show zu sehen? Das zeigt, wie begehrt sie war."
Eine Hand auf der Schulter ließ mich zusammenzucken. „Hab uns was Schönes mitgebracht", flüsterte Lucas und reichte mir einen Pappteller mit einem Stück Zitronenkuchen und eine Tasse Tee. Dankbar sah ich ihn an und nickte. Ich war froh, dass ich nicht alleine hier war.
„So, und jetzt erklär mir mal, wen da unten ich unbedingt kennen sollte."
Ich stellte den Teller neben mich und blickte in die Menge.
„Ganz vorne, die Frau mit dem langen Kleid und der schwarzen Blume im Haar, das ist meine Mutter. Daneben sitzen mein Vater und mein Bruder mit meiner Tante. Hinter ihnen ist meine eine Oma, aber die habe ich nur ein oder zwei mal auf Familienfeiern gesehen, also kann ich dir nicht viel über sie sagen. Ihr Mann, also mein Opa, ist vor ein paar Jahren gestorben. Meine anderen Großeltern sitzen da hinten bei der Säule."
Nach und nach ging ich mit Lucas Familie und Freunde durch, bis sich meine Mutter irgendwann neben mein Porträt stellte und es im Saal ruhig wurde. Auch ich verstummte und schob mir ein Stück Zitronenkuchen in den Mund. Meine Mutter erhob die Stimme.
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