Kapitel 16
Als ich aufwachte, war es kalt. Ich lag auf dem Rücken. Unter mir spürte ich den harten, unebenen Waldboden, noch immer ein wenig feucht vom nächtlichen Bodenfrost. Vorsichtig tastete ich meinen Oberkörper ab, doch von der Schussverletzung war nichts mehr zu spüren. Trotzdem tat mir alles weh, als wäre ich erst zusammengeschlagen und dann einen Abhang runtergeworfen worden. Ich setzte mich auf und sah mich um. Die Lichtung hatte sich kaum verändert. Die Bäume waren noch immer kahl, der Boden tot und farblos. Beim Ausatmen bildeten sich kleine Wölkchen vor meinem Gesicht. Ein paar Meter vor mir lag Lucas, sein Gesicht in den Boden gedrückt, die Pistole daneben. Er bewegte sich nicht.
Gerade als ich aufstehen und nach ihm sehen wollte, rollte er sich stöhnend auf die Seite. Ich verzog angeekelt das Gesicht. Sein gesamter Oberkörper war voll von getrocknetem Blut. Jetzt bei Tageslicht konnte ich darunter auch seine Kleidung erkennen, doch anders als erwartet schien kein Schriftzug einer Uniform durch die Blutflecken sondern eine dunkelblaue Winterjacke.
Ich runzelte die Stirn. "Bist du nicht Polizist?", fragte ich verwirrt. Lucas rappelte sich auf und sah mich verärgert an.
„Ich war Polizist", antwortete er schroff. "Dank dir war das ja nur von kurzer Dauer."
"Aber die Uniform-", hakte ich nach.
"Hab ich wohl vergessen anzuziehen, bevor ich hergekommen bin", sagte Lucas, seine Stimme vor Sarkasmus triefend. Er drehte mir den Rücken zu und überprüfte seine Ausrüstung. Aus der einen Jackentasche beförderte er eine Taschenlampe und sein Handy auf den Boden vor sich, aus der anderen zog er ein Paar Handschellen und ein Portemonaie. Die Taschenlampe funktionierte noch, das Handy war erwartungsgemäß tot. Als Lucas sich wieder umdrehte und seine Pistole vom Waldboden aufhob, zuckte ich leicht zusammen. Lucas verdrehte nur die Augen und steckte die Pistole zurück in seinen Gürtel.
"Komm. Gehen wir. Ich will hier keine Sekunde länger verbringen als notwendig." Er nickte zum Weg, der zur Hütte führte. Ich seufzte.
Meine eigene Pistole lag eine Armlänge von mir entfernt. Ich hatte sie vermutlich beim Fallen verloren. Vielleicht war sie mir ja auch erst beim Sterben aus der Hand gerutscht, aber um das beurteilen zu können fehlte mir die Erinnerung. Ich biss die Zähne zusammen, beugte mich nach vorne und zog sie zu mir. In meiner Hand fühlte sie sich kalt an und irgendwie falsch. Ich überprüfte, dass sie gesichert war, dann steckte ich sie ein.
„Bereit?" fragte Lucas mich und streckte mir seine Hand entgegen. Ich sah ihn skeptisch an, schlug sie weg und stand alleine auf. Keine gute Idee, denn der Wald vor mir drehte sich sofort so schnell, dass mir übel wurde. Ich schloss die Augen und stützte mich am Baum neben mir ab. Als sich mein Magen wieder beruhigt hatte und ich die Augen wieder öffnete, war Lucas bereits einige Meter in den Wald hinein gegangen. Ich musste fast rennen, um ihn einzuholen, was bei meiner momentanen Verfassung keine einfache Aufgabe war. Immer wieder verlor ich kurz das Gleichgewicht oder stolperte, als müsste mein Körper sich erst einmal wieder daran erinnern, wie er en Beinen befahl, sich nach vorne zu bewegen. Auch Lucas schien einige Koordinationsprobleme zu haben.
"Warte. Wir sollen zusammen bleiben", rief ich Lucas hinterher. Er erwiderte nichts, wartete aber, bis ich ihn erreicht hatte. Stumm gingen wir nebeneinander her.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, so neben ihm zu gehen. Nicht nur, weil ich seit Monaten das erste Mal wieder meinen Körper benutzte. Nein, es war die unausgesprochene Abneigung, die zwischen uns in der Luft lag, Misstrauen, Wut. In Etenia hatte ich nie die Chance bekommen, Lucas Version der Geschehnisse zu hören oder überhaupt mit ihm zu reden. Ich hatte noch immer keine Ahnung, warum er alleine, ohne Uniform und nur mit einer Pistole bewaffnet auf der Lichtung gewesen war. Auch wenn ich nicht das Gefühl hatte, dass er mich absichtlich getötet hatte, war das lange nicht genug, um ihm einfach so zu vertrauen. Lucas schien es ähnlich zu gehen, denn während wir den schmalen Trampelpfad durch den Wald gingen, achtete er immer darauf, mindestens eine Armlänge Abstand zu mir zu halten.
Nach ein paar Minuten hatten wir die Hütte erreicht.
"Du kennst dich hier aus?", fragte Lucas und zog seine Waffe. Ich nickte. So viel war während meiner Zeit in Etenia immerhin zurückgekehrt.
"Kannst du gleich wieder wegstecken. Hier ist niemand", sagte ich.
Lucas ließ sich nicht beirren und ging mit ausgestreckter Waffe weiter. "Woher bist du dir da so sicher?", fragte er leise.
Ich sah mich um. "Kein Auto, kein Rauch und vor allem niemand, der gerade eine Waffe auf uns richtet."
Ich ging an ihm vorbei, hob den Blumentopf neben dem Eingang hoch und nahm den darunter versteckten Schlüssel. Dann stieg ich die kleine Treppe zur Veranda hoch und schloss auf.
"Gas und Wasser sind immer ausgestellt, wenn niemand hier ist, aber frische Klamotten sollten wir finden", sagte ich, schob die Tür auf und wartete, bis Lucas an mir vorbei in die Hütte gegangen war. Dann schloss ich hinter uns ab.
Misstrauisch sah Lucas den Schlüssel in meiner Hand an.
"Was?", fragte ich genervt.
"Warum schließt du uns ein?"
"Falls doch noch jemand zurück kommt. Wir können hinten raus und den Schlüssel zurück unter den Topf legen", antwortete ich. Als er sich immer noch nicht entspannte, seufzte ich und hielt ihm den Schlüssel hin. "Keine Angst. Ich tu dir nichts."
"Das hab ich auch gar nicht befürchtet", sagte Lucas, nahm aber den Schlüssel und steckte ihn in die Hosentasche. Er sah sich um.
"Die Küche ist da hinten links", erklärte ich ihm. "Da sollten noch ein paar Konservendosen und Limos sein. Ich hol von oben was frisches zum anziehen und eine Tasche, wenn ich eine finde."
Ohne auf eine Antwort zu warten, ließ ich Lucas im Flur stehen und lief die Treppe hinauf, bis ich vor meinem alten Zimmer stand. Ich schluckte, als ich das Bett erblickte, auf dem ich all die Monate geschlafen hatte, doch schnell fasste ich mich wieder. Ich hatte keine Zeit für Gefühle. Wenn ich meine zweite Chance wollte, dann durfte ich weder das hier noch das, was ich über Lucas dachte, an mich ranlassen.
Schnell kramte ich im Schrank nach einem dicken Pullover und einer frischen Jeans, dann ging ich ins Nebenzimmer und suchte auch für Lucas etwas raus. Der kratzige, braune Wollpullover war vielleicht nicht das angenehmste, aber damit musste er leben. Als ich wieder nach unten kam, stand Lucas in der Küche. Ich reichte ihm seinen Klamottenstapel.
"Sind die von ihm?", fragte er skeptisch und legte ihn auf den Küchentisch.
"Nein", log ich.
"Von wem denn dann? Von dir?"
"Meinst du, Navarro und ich haben hier alleine gewohnt?", fragte ich genervt.
Lucas hob die Hände. "Du, ich hab nichts dagegen. Du bist erwachsen. Mach, was du für richtig hältst. Mich stören eher andere Dinge an eurer kleinen Partnerschaft."
"Ihhhh, nein", antwortete ich empört. "Weißt du, wie alt er ist?"
"Es ist mir absolut egal", sagte Lucas, fast ein wenig müde. "Lass uns umziehen und dann weg von hier. Hast du Geld dabei? Ich hab gerade geguckt, ich hab keins."
Ich schüttelte den Kopf. "Nope."
Lucas schnalzte mit der Zunge. "Na super."
Ich warf einen Blick auf die Badezimmertür hinter ihm. "Ohne Wasser wird es vielleicht schwierig, aber vielleicht können wir das Blut ja ein wenig abreiben bevor wir uns umziehen", schlug ich vor. "Den Gestank bekommt schon keiner mit, aber du weißt schon- nicht auffallen und so."
Lucas sah durch das Küchenfenster auf den kleinen Bach, der hinter der Hütte entlang lief. "Hintertür sagtest du?"
Ich schüttelte hektisch den Kopf. "Vergiss es. Ich geh da nicht rein."
"Du hast keine Wahl. Wir müssen den ganzen Mist irgendwie runterwaschen, wenn wir nicht wollen, dass die erste Person, die uns sieht, gleich die Polizei auf uns hetzt. Hast du selber gesagt. Also komm."
"Es sind keine drei Grad", protestierte ich.
"Dann müssen wir uns eben beeilen", sagte Lucas, zog seine Winterjacke aus und ging an mir vorbei zur Tür. Ich folgte ihm, wenn auch zögerlich. Schon als ich die Schuhe neben mich gestellt hatte und meine nackte Füße das eisige Wasser berührten, begann ich, am ganzen Körper zu zittern und mit den Zähnen zu klappern. Ich wusste selber, dass ich bei Kälte ein wenig empfindlich war, doch Lucas so zu sehen, wie er bis zur Hüfte im Wasser stand, erfüllte mich mit Unverständnis.
"Komm schon", sagte er ungeduldig und winkte mich zu ihm. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. Als meine Welt noch -naja- vergleichsweise heil war, hatte ich es geliebt, in dem Bach zu baden. In der Mitte hatte er genau die richtige Tiefe, um nicht gefährlich zu werden und auch die Strömung war an dieser Stelle harmlos genug. Doch Mitten im Winter, mit Lucas, war es etwas ganz anderes. Während ich mich Millimeter für Millimeter ins Wasser vorkämpfte, striff Lucas seinen Pullover ab und begann, damit wie mit einem Waschlappen das Blut vom Oberkörper abzuwaschen. Wie erstarrt sah ich ihm dabei zu. Als er fertig war, hatte ich es noch immer nicht weiter als bis zu den Knien geschafft.
Lucas sagte nichts, kam langsam auf mich zu und reichte mir erneut die Hand. Wieder einmal griff ich sie nicht und wieder bereute ich es, denn bevor ich auch nur realisierte, was Lucas vorhatte, packte er meinen Arm, drehte mir den Rücken zu und warf mich mit Schwung über die Schulter. Mit dem Rücken zuerst landete ich im Wasser. Erschrocken keuchend richtete ich mich wieder auf. Die Kälte des Wassers ließ mir geradezu die Luft wegbleiben und mein Herz rasen.
"Meine F-", begann ich, stockte dann aber und sah ihn nur giftig an.
"Du bist so ein Weichei, weißt du das?", sagte er kopfschüttelnd.
Ich ignorierte den Kommentar. "Dreh dich um", befahl ich stattdessen. Zuerst sah Lucas mich verwirrt an, dann tat er aber wie geheißen. So schnell ich konnte streifte ich mir das Oberteil ab, wusch das Blut ab und stürzte an Lucas vorbei zurück zur Hütte. Ein paar Minuten später saßen wir beide mit nassen Haaren aber ohne Blut in der Küche und stopften uns mit so viel Konserven voll, wie wir in unseren Mägen behalten konnten.
"Was meinst du, wie viel Uhr ist es?", fragte Lucas.
Ich zuckte mit den Schultern. "Zwei? Drei?"
"Meinst du, deine Haare sind trocken bis wir in der Stadt sind?"
Ich sah hinunter auf meine Haarspitzen, die noch immer leicht tropfend über meine Schultern hingen. Dann schnaubte ich amüsiert. "Keine Chance."
"Dann bringt die wenigstens irgendwie in Ordnung bevor wir losgehen."
Kommentarlos knallte ich meine fast leere Raviolidose auf den Tisch, stand auf und ging ins Bad. Mit den Fingern versuchte ich, die größten Knoten zu entwirren, dann gab ich auf und flocht meine Haare zu einen Zopf. Zufrieden bemerkte ich, dass mein Spiegelbild nicht einmal halb so tot aussah wie in der Zwischenwelt. Auch der Zopf sah einigermaßen akzeptabel aus, auch wenn er nass war.
Lucas wartete auf der Terasse auf mich. "Hast du ein kleines Nickerchen gemacht, oder warum hat es so lange gedauert? Wenn wir es nicht bis Sonnenuntergang zum Hotel schaffen, schläfst du auf dem Boden", begrüßte er mich wenig freundlich.
Wütend funkelte ich ihn an und ging an ihm vorbei die Treppe zum Weg hinunter.
Lucas seufzte und folgte mir. "Hey, das war ein Witz."
Ich zuckte mit den Schultern.
"Wenn wir zusammen arbeiten wollen, musst du langsam mal aufhören, mich für ein Monster zu halten", sagte Lucas.
Ruckartig drehte ich mich zu ihm um. "Du hast mich umgebracht und ein paar Tage später soll ich so tun, als sei nichts passiert? Dass wir gerade in einem Boot sitzen müssen, heißt nicht, dass wir jetzt auf einmal beste Freunde sind."
Lucas Augen verengten sich zu wütenden Schlitzen. „Vergiss nicht, dass du auch meine Mörderin bist."
Ich antwortete nicht. Während wir den schmalen Waldweg entlang gingen, genoss ich das Sonnenlicht auf der Haut und den leichten Wind im Gesicht. Wenn zuhause genau so gutes Wetter war, lag mein Vater gerade im Wintergarten und sonnte sich, so wie er es immer an solchen Tagen tat. Bestimmt las er dabei einen seiner Krimiromane. Obwohl, wenn ich recht darüber nachdachte hatte er fürs erste bestimmt genug von Kriminalfällen. Zumindest von ungelösten.
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