Kapitel 14

Am nächsten Morgen bestellte Owena uns zurück in ihr Büro. Ich hatte die gesamte Nacht wach gelegen und über ihr Angebot nachgedacht, doch es war eines, das man einfach nicht ablehnen konnte. Auch wenn das bedeutete, dass ich die nächsten Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre mit Lucas verbringen musste, wollte ich eine zweite Chance. Ich wollte zurück in mein Leben, zurück zu meiner Familie. Ich wollte Navarro töten.

Doch schnell verpasste Owena meiner Freude einen Dämpfer.

"Bevor ihr eine entgültige Entscheidung trefft müsst ihr wissen, welche Regeln ihr in Zukunft befolgen müsst, solltet ihr das Angebot annehmen."

Sie tippte mit ihrem Stift auf den Tisch. Heute trug sie ihre Haare offen, was sie noch ein wenig jünger aussehen ließ. Dabei war es unmöglich, ihr Alter zu schätzen. Äußerlich mochte sie aussehen wie Mitte dreißig, doch wie lange war sie nun schon in der Zwischenwelt? 500 Jahre?

"Regel Nummer 1", riss sie mich aus meinen Gedanken. "Bis zu eurer Abreise erzählt ihr niemandem davon, was ich mit euch besprochen habe. Das hätte ich euch eigentlich schon gestern sagen müssen. Das Risiko ist zu hoch, dass auch die anderen zurück wollen. So etwas verbreitet sich schneller als ein Waldbrand. Bevor wir uns versehen haben wir eine Revolution vor unseren Füßen. Ich denke ihr versteht also, warum wir das hier geheim halten müssen."

Ich nickte. Auch Lucas schien die erste Regel zu akzeptieren, denn Owena setzte fort:

"Regel Nummer 2: Wenn ihr zurück in euren Körpern seid, erwarte ich von euch, dass ihr euch unter keinen Umständen trennt. Ihr seid ein Team. Keiner von euch wird Navarro alleine erreichen."

Keiner von uns beiden erwiderte etwas.

"Regel Nummer 2a: So lange, bis ihr eure Aufgabe erfüllt habt, erwarte ich Professionalität von euch. Kein Unsinn, keine Anlenkungen."

Auch diese Regel ging kommentarlos vorüber.

"Regel Nummer 3: Es ist euch nicht erlaubt, vor Beendigung zu eurem vorherigen Leben zurückzukehren. Das bedeutet, kein Kontakt zu Familie oder Freunden, keine öffentlichen Auftritte oder Aufmerksamkeit, nichts, was eure Aufgabe gefährden würde. Für eure Familien seid ihr tot und das wird auch so bleiben."

"Was?", unterbrach Lucas sie wütend. "Was ist dann überhaupt der Sinn zurückzugehen? Ich kenn den Typ noch nicht mal. Was schert es mich ob er lebt oder stirbt?"

"Bist du nicht genau deswegen Polizist geworden?", warf ich ein. "Weil es dir nicht egal ist, wenn Mörder frei herumlaufen?"

"Es ist eure Entscheidung. Überlegt es euch gut. Sobald die Aufgabe erfolgreich beendet wurde, werden wir nach einem Weg suchen, euch ohne viel Aufsehen mit euren Familien zu vereinen", sagte Owena und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

"Ich mach es", sagte ich sofort, kein Funken an Zweifel in meiner Stimme.

"Was solls. Ich bin dabei", stimmte nun auch Lucas zu.

"Das freut mich", sagte Owena lächelnd. "Dann lasst uns beginnen."

Nachdem sie uns unsere Aufgabe noch einmal genauer erklärt hatte, schickte Owena uns zu unseren Betreuern. Erlo schien nicht sehr begeistert zu sein, mich außerplanmäßig zu sehen, doch als ich im erklärte, was Lucas und ich mit Owena vereinbart hatten, wurde sein Gesicht ein wenig weicher. Vermutlich war es der Ausblick, mich schon bald loszuwerden, der ihn so glücklich machte, doch da war mir egal. 

Die nächsten Stunden verbrachten wir damit, mir sämtliche Schritte von Owenas Auftragscheckliste einzuprügeln. Als Erlo endlich zufrieden war, seufzte ich erleichtert. Morgen früh würden wir von unseren Betreuern abgeholt werden, ein letztes Mal getestet werden und dann zum Tor gebracht werden. Ich hatte keine Ahnung wie ich mir so ein Tor vorstellen sollte, geschweige denn wo es überhaupt war, doch bevor das passierte, hatten wir einen letzten Nachmittag frei. Owena legte uns ans Herz, gemeinsam ein wenig durch die Abteilung zu schlendern und uns gegenseitig ein wenig näher kennenzulernen, aber ich lehnte dankend ab. Damit würde ich mich schon früh genug auseinandersetzen müssen. Kein Grund, noch meinen letzten sorglosen Tag hier aufzugeben.

Doch so ganz sorglos, wie man es an einem Ort erwartete, an dem man noch nicht einmal Schmerz spürte, war es dann doch nicht. Meine Gedanken wanderten zu meiner Familie, meinen Eltern, meinen Brüdern- wenn ich doch nur eine Nachricht schreiben durfte. Ein Brief, eine Entschuldigung hätte mir gereicht. Meinetwegen sollten sie doch glauben, ich hätte sie verlassen und irgendwo in Australien ein neues Leben angefangen. Alles außer die Leere, die sie gerade spüren mussten.

Um kurz nach acht beschloss ich, meinen letzten Abend doch lieber ein wenig stumpf zu saufen. Wie erwartet war die Tür zum großen Saal zwar zu, aber nicht abgeschlossen. Seufzend ließ ich mich hinter der Bar auf den Boden sinken und griff die erstbeste Flasche, die ich finden konnte.

"Dass ich dich mal wiedersehe", ertönte plötzlich eine Stimme neben mir. Ich erschrak so sehr, dass ich mir fast den Inhalt meiner Flasche über den Schoß kippte. Colette grinste mich belustigt an.

"Was- was machst du hier?", stammelte ich.

"Dasselbe wie du denke ich. Mich betäuben, bis es endlich vorbei ist." Sie griff meine Flasche und nahm einen großen Schluck. "Bäh. Ich hasse Wodka."

Ich starrte Colette mit einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung an. "Das war die halbe Flasche."

Colette drückte mir die Flasche in die Hand. "Der Rest ist für dich."

Langsam nippte ich an der Flasche, den Bick dabei noch immer auf Colette gerichtet.

"Bist du hier, weil du keine Fortschritte gemacht hast oder bist du hier, weil du Fortschritte gemacht hast, die du vergessen willst?", fragte sie nach einigen Minuten vollständiger Stille. "Hast du dich erinnert?"

Ich schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. Ich schüttelte mich. Colette hatte recht. Das Zeug war widerlich.

"Soll ich dir was vernümf-vernünftiges machen?", bot Colette ein wenig lallend an. Als ich mit den Schultern zuckte, stand sie ein wenig wackelig auf und griff ein Glas aus dem Regal. "Mein Lieblingcocktail", sagte sie, während sie im Regal wahllos nach Flaschen griff und einen Teil des Inhaltes in mein Glas goss. Der Rest landete auf der Arbeitsplatte und tropfte neben mir auf den Boden.

"Hier" Sie reichte mir das nun mit einer dunklen Flüssigkeit gefüllte Glas und rutschte wieder neben mir auf den Boden. "Erzähl. Was hast du angestellt?"

Ich lachte freudelos. "Ich hab gar nichts angestellt."

Colette nickte. "Ich auch nicht. Auf uns Unschuldslämmer." Sie hob ihre Flasche zum Prost. Ich nahm einen weiteren Schluck meiner widerlichen Mische, dann sah ich Colette nachdenklich an. Ich wusste, dass ich ihr von alldem nichts erzählen durfte. Owena hatte einleuchtend erklärt, warum es keine gute Idee war, so etwas weiterzuerzählen. Doch irgendetwas in mir konnte es nicht länger in sich behalten. Vielleicht war es der Alkohol in mir, aber ich hatte das Gefühl, wenn ich es für mich behalten würde, würde ich noch platzen, bevor Lucas und ich morgen aufbrechen konnten. Entschlossen sah ich Colette an. "Versprichst du mir, dass du das niemandem weiter erzählst, was ich dir gleich erzähle?"

Colette nickte. Ihre Augen weiteten sich gespannt. "Natürlich.

Meine Hände noch immer fest um das Glas geschlossen erzählte ich Colette alles. Von Navarro und Owenas Angebot, meinen Erinnerungen an die Lichtung und Lucas. Ein wenig fühlte es sich falsch an, all das Colette zu erzählen und nicht Sofia, doch gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass Colette mich deutlich besser verstehen konne, als Sofia. Als ich fertig war nickte Colette traurig.

"Wenn ich könnte, würde ich dasselbe tun."

"Dir hat jemand was in den Drink gemischt, richtig?", fragte ich. Ich stellte mein eigenes Getränk neben mir ab. Auf einmal hatte ich keine Lust mehr zu trinken.

Colette nickte. "Nachts geh ich immer meine Erinnerungen an die Nacht durch und versuch herauszufinden, wer es denn jetzt gewesen sein könnte. Ich meine mich an eine Hand erinnern zu können. Eine Hand mit einem Tattoo. Ich glaube eine Sonne. Aber es ist alles zu verschwommen."

Sie seufzte. "Wenn ich gewust hätte, wie das endet, ich hätte in der Nacht nie das Haus verlassen."

"Haben die Drogen dich getötet oder bist du später-" Ich stockte. Es fühlte sich falsch an so etwas zu fragen.

"Genau weiß ich es nicht. Aber ich hab Narben überall am Körper, vor allem am Bauch, die ich vorher noch nicht hatte."

Ich schwieg. Auf einmal wurde mein Hals eng.

"Weißt du, ich hab mich so unverwundbar gefühlt. Ich dachte, mit 20 hätte ich noch mein ganzes Leben vor mir."

"Das habe ich auch gedacht", sagte ich leise.

"Und dann war es einfach vorbei. Ohne Vorwarnung."

"Haben sie deine Leiche gefunden?"

Colette schüttelte den Kopf. "Das bezweifle ich. Wenn sie irgendwann doch noch angespült wird, wird man sie längst nicht mehr identifizieren können." Sie lachte, doch in ihrer Stimme war keine Freude."Wenn ich mich im Spiegel angucke, sieht es so aus, als ob es zwei Dutzend Teile von mir gibt, die gerade irgendwo verrotten. Vielleicht noch nicht einmal am selben Ort."

"Und deine Eltern?"

"Die wissen nur, dass ich vermisst werde und höchstwahrscheinlich tot bin."

"Meine Leiche liegt noch mitten im Wald, genau da wo ich gestorben bin", sagte ich. "Meine Familie weiß auch nichts. Und sie wird auch nie etwas wissen" Im Vergleich zu Colettes Geschichte war das gar nichts, doch lügen konnte ich schließlich auch nicht.

"Arin?", fragte Colette nach einer Weile leise.

"Ja?" Ich drehte den Kopf zu ihr. 

Ihr Gesicht war ernst. "Tust du mir einen Gefallen?"

„Das kommt ganz darauf an", sagte ich vorsichtig. Ich konnte mir nicht vorstellen, was Colette von mir wollte. Zu meiner Überraschung zog sie ein zerknittertes Stück Papier aus ihrer Hosentasche.

„Kannst du das meiner Familie ausrichten? Ich hab meine Adresse auf die Rückseite geschrieben. Wenn ich schon nicht zurück kann will ich wenigstens, dass meine Eltern sich nicht für mein Verschwinden verantwortlich fühlen." Vorsichtig nahm ich Colette den Zettel ab und steckte ihn, ohne ihn zu lesen, in meine eigene Tasche.

"War gestern eine der Aufgaben, die Wilma uns gegeben hat", erklärte Colette "Das aufschreiben, was wir unserer Familie noch sagen wollen." Sie sah mich verlegen an. "Ich hab es später ein wenig überarbeitet. Da steht nichts über meinen Tod drin. Es geht mir auch nicht darum, dass man meine Leiche findet oder so. Ich will einfach, dass sie das hier wissen."

„Ich kann nicht garantieren, dass ich die Möglichkeit dazu haben werde", sagte ich. "Aber ich verspreche dir, dass ich es versuche."

Plötzlich, ohne Vorwarnung, fiel Colette mir um den Hals. Eine Weile blieb ich wie erstarrt sitzen, während ihre Tränen auf meine Schulter tropften. Dann hob auch ich die Arme und legte sie um Colette.

„Richte ihnen aus, dass sie gute Eltern waren. Es war nicht ihre Schuld was mir passiert ist. Und ich liebe sie sehr, auch wenn ich ihnen das in letzter Zeit viel zu selten gesagt habe."

„Ich bin sicher, dass wissen sie schon."

„Danke", flüsterte sie.

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