Kapitel 13

Als ich am nächsten Morgen zur ersten Therapiestunde ging, wappnete ich mich innerlich schon für eine Standpauke. Mein nächtlicher Ausflug war mit Sicherheit nicht unbemerkt geblieben. Doch Erlo begann die Stunde, als wäre nichts passiert. Wir redeten über meine Eltern, meinen kleinen Bruder und die Uni. Nach der Erinnerung, die ich gestern Nacht gesehen hatte, schien all das plötzlich wieder so nah, so real. Es war, als wäre es erst gestern gewesen, auch wenn die Erinnerung dieses Abends schon ein paar Jahre zurück lag. Selbst mein Tod war nun bestimmt schon Monate her.

Meine Gedanken wanderten zurück zu meinem letzten Tag, zurück in den Wald. Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen, was dort passiert war. Aber neben all den Dingen, die seit meiner Ankunft hier unter einem riesigen Fragezeichen schwebten, so drängte sich seit gestern Nacht eine weitere Frage in meinen Kopf. Warum war Lucas dort gewesen? Es machte einfach keinen Sinn. Wenn er Polizist war, waren dort dann auch weitere gewesen? Hatte man etwa nach mir gesucht? Warum? Niemand konnte wissen, wo ich war, selbst, wenn meine Eltern mich als vermisst gemeldet hatten. Was war mit unseren Leichen passiert? Wusste meine Familie überhaupt, dass ich tot war? All diese Fragen brannten mir auf der Seele, doch ich wusste, dass sie mir niemand hier beantworten würde.

Gerade, als ich Erlo meine heutige Zeichnung geben wollte, klingelte es plötzlich. Ich sah verwirrt zu Erlo.

"Eine Sekunde", sagte er und griff nach dem Telefon auf dem Schreibtisch. Moment. Das Telefon? Ich runzelte die Stirn. Ich hätte schwören können, dass das weiße, kabellose Gerät vor einer Minute noch nicht zwischen uns gelegen hatte.

"Ja?", meldete Erlo sich. Ich blieb so still wie möglich und beugte mich ein wenig vor, doch ich konnte trotzdem nicht verstehen, was auf der anderen Seite gesagt wurde.

"Jetzt sofort oder nach der Stunde?" fragte Erlo. "Ja, natürlich. In Ordnung. Ich bring sie vorbei. Eine Minute, dann sind wir da. Bis gleich." Dann legte er auf. Ich schluckte. Das war dann wohl die Konsequenz, auf die ich den ganzen Morgen gewartet hatte.

"Was ist?", fragte ich trotzdem unschuldig.

"Owena will dich sprechen", antwortete Erlo. "Keine Ahnung, worum es geht. Aber ich soll dich in ihr Büro bringen."

"Owena war-" sagte ich langsam.

"Die Leiterin der Zwischenwelt. Die Frau, die dafür sorgt, dass hier alles reibungslos läuft. Was sie von dir will- keine Ahnung. Eigentlich hat sie besseres zu tun, als sich mit irgendwelchen Einzelfällen zu beschäftigen."

Mein Herz schlug schneller. Ich auf der anderen Seite hatte da so eine Ahnung, was sie von mir wollte. Ich konnte nur hoffen, dass sie auf ein verwarnendes Gespräch setzte. Was sie sonst mit mir machen könnte, wollte ich mir gar nicht vorstellen.

"Erlo?", sagte ich leise, als dieser aufstand. "Ich glaube, ich habe Mist gebaut."

Erlo sah mich schief an. Dann zuckte er mit den Schultern. "Owena ist kein Unmensch. Was auch immer los ist, ich bin sicher, du kannst es ihr in Ruhe erklären." Er ging zur Tür und öffnete sie.

"Warte", sagte ich. Erlo hielt inne. "Ich- ähm- ich weiß, es ist meine Schuld, aber-" Ich sah ihn flehend an. "Bleibst du bei mir?"

In Erlos Gesicht lag keinerlei Mitleid. Überhaupt konnte ich keinerlei Emotionen in seiner Mine erkennen. "Ich bin für so etwas nicht zuständig."

"Du bist mein Betreuer", erwiderte ich.

"Richtig. Ich bin zuständig für deine Therapiestunden, nicht für das hier." Er winkte mich zu ihm. "Komm schon. Owena wartet auf dich."

Nachdem wir viel zu viele Treppen heraufgestiegen und viel zu viele Gänge hinuntergelaufen waren, blieb Erlo stehen und öffnete die Glastür zu seiner linken.

Owenas Büro war genau so schlicht gehalten wie das von Erlo, nur war es sehr viel größer. Vor den halbkreisförmigen Glasschreibtisch in der Mitte des Raumes waren zwei schlichte Stühle gestellt worden. Auf einem von ihnen saß bereits Lucas, mit dem Rücken gegen die Lehne und verkreuzten Beinen. Auf den ersten Blick konnte man denken, ihm wäre langweilig. Doch als ich mich neben ihm auf den freien Stuhl fallen ließ sah ich, dass seine Beine fast unmerklich zitterten.

„Schön, dass du da bist Arin", sagte Owena freudlich. "Setz dich." Sie sah zu Erlo. "Ich sag dir bescheid, wenn du sie wieder abholen kannst. Sollte maximal eine halbe Stunde dauern."

Ein leises Klicken der Tür sagte mir, dass Erlo gegangen war. Ich setzte mich auf den freien Stuhl neben Lucas und sah Owena schüchtern an. Ihre langen, schwarzen Haare hatte sie im Nacken zu einem Dutt gebunden. Trotzdem sah sie nicht so streng aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Mit ihren warmen, braunen Augen musterte sie uns.

„Ihr wundert euch sicher, warum ich euch beide zu mir bestellt habe."

Lucas nickte langsam, sagte aber nichts. Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. 

"Keine Sorge. Ihr habt nichts falsch gemacht", sagte Owena lächelnd, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. Ich atmete erleichtert auf, doch nun machte sich Verwirrung in mir breit. Was zum Teufel konnte sie von uns wollen? Vor allem, was machte dann Lucas hier?

Owena wies zur Wand neben uns. Dann tippte sie auf einen Knopf an ihrem Schreibtisch. Plötzlich flackerte ein Bild auf der Wand auf. Ein Augenblick später blickte ich in die kalten Augen des Mannes, dem ich noch vor Wochen mein Leben anvertraut hatte. Navarro. Schon bei dem Anblick fing mein Herz an zu rasen.

„Zumindest dir sollte dieser Mann bekannt vorkommen Arin."

Ich nickte unsicher.

„Aber ich bin mir sicher, dich wird überraschen, was ich dir über ihn zu erzählen habe." Owena stand auf und stellte sich neben das Bild.

"Das ist Gustav Antonio Navarro. Geboren am 9. März 1498, gestorben am 14. Februar 1534. Zu seiner Zeit gab es Etenia noch nicht. Zumindest zu Lebzeiten. Aber das hat sich irgendwann geändert. Als Etenia erschaffen wurde, sind nach und nach alle Geister einberufen worden. Die meisten haben sich irgendwann gefügt. Doch Navarro wollte nicht weitergehen. Er war vielmehr überzeugt, dass- nun, dass Rache die einzige Möglichkeit ist, um Gerechtigkeit wiederherzustellen und sich von den Lasten des Lebens zu befreien. Ich und einige andere haben es gemeinsam geschafft, ihn in die Zwischenwel zu locken und dort feszuhalten." 

Sie räusperte sich und sah uns ein wenig verlegen an.

"Auf uns alle hat er so gewirkt, als hätte er nach all den Jahren endlich verstanden, warum wir tun, was wir tun und sich gefügt. Er hat sogar angefangen, als Betreuer zu arbeiten und Neuankömmlinge bei ihrer Reise zu unterstützen. Wir dachten alle, er wäre endlich auf unsere Seite gewechselt. Doch da hatten wir uns geirrt. Vielleicht hatte er es satt, die Welt so sehen zu müssen, vielleicht ist der Hass in ihm auch einfach zu groß geworden. Was auch immer es war, bevor mir klar wurde, dass etwas nicht stimmte war es zu spät. Er war weg. Seitdem wandert er als Geist umher."

"Moment", unterbrach ich sie. "Sagten sie gerade, Navarro ist- ein Geist?"

Owena nickte sanft.

"Ja, Arin, Navarro besitzt keine sterbliche Hülle mehr. Er ist ein Geist. Als solcher wandert er unter den Lebenden und leider mordet er gerade wie er lustig ist."

Die Wand zeigte nun eine Collage mehrerer Leichen. Diese Bilder hatte ich schon einmal gesehen, in dem Ordner, den ich in der Garage gefunden hatte. Trotzdem musste ich den Kopf abwenden.

"Ich vergesse immer wieder, dass ihr noch etwas empfindlich seid", sagte Owena entschuldigend. Die Bilder verschwanden.

"Aber wenn er ein Geist ist, wie kann er dann überhaupt morden?", warf Lucas ein.

"Je länger er weg ist, desto mehr Kraft scheint er zu gewinnen. In den ersten Jahren mochte er nicht mehr als-" Sie unterbrach sich. „Egal. Navarro wird nicht aufhören, Chaos in der Welt zu verbreiten, bis er gestoppt wird. Leider ist das etwas schwierig. Ohne seinen früheren Körper kann Navarro nicht wie sonst getötet werden. Er hat keine zerstörbare Hülle mehr."

"Das ist ja alles schön und gut", unterbrach ich sie. „Aber was hat das mit uns zu tun?"

„Folgendes", sagte Owena und setzte sich zurück auf ihren Stuhl. "Ihr seid hier, weil ich euch ein Angebot machen möchte. Ich will, dass ihr Navarro für mich tötet."

Ich lachte. Owena lachte nicht.

"Ich gebe zu, es gibt nicht vieles, was ich euch als Gegenleistung für diesen Auftrag geben könnte. Geld hat hier in der Zwischenwelt genau so wenig Wert wie Gegenstände oder Zeit. Aber ich habe etwas, was ihr beide wollt. Ich kann euch eine zweite Chance auf ein Leben geben, ein Leben, das ihr sicher beide verdient habt."

Ich starrte Owena ungläubig an, während mein Kopf versuchte zu verarbeiten, was Owena uns gerade eröffnet hatte. 

"Also. Mein Angebot lautet wie folgt: Wenn ihr beide einwilligt, zurück zu gehen und gemeinsam Navarro zu erledigen, werde ich euch erlauben, den Rest eures errechneten Lebens in euren Körpern zu verbringen."

Lucas rutschte an die Stuhlkante und setzte sich aufrecht hin. „Und wie sollen wir zurück gehen? Wir sind tot. Es gibt keinen Weg zurück. Das wurde uns schon in der ersten Woche um die hundert Mal gesagt."

„Für die Meisten gibt es keinen Weg zurück mehr, ja", antwortete Owena. "Aber wenn man, wie ich, die Schlüssel zu den Toren hat, lässt sich das ändern."

"Selbst wenn das alles die Wahrheit sein sollte", sagte ich. "Warum wir? Warum nicht einer Ihrer Angestellten? Was macht es für einen Sinn, zwei unausgebildete, teilweise traumatisierten Teenager loszuschicken."

"Das ist eine sehr gute Frage. Aber zum Glück gibt es eine ebenso einfache Anwort. Selbst wenn ich meinen Angestellten erlauben würde, die Zwischenwelt zu verlassen, anders als ihr wären sie nicht dazu in der Lage, Navarro ernsthaften Schaden zuzufügen.

Owena öffnete ein neues Bild. Es zeigte die Lichtung, auf der wir gestorben waren, zum Glück aber ohne unsere blutüberströmten Leichen. "Bei euch beiden ergibt sich nicht nur die Besonderheit, dass ihr durch den Tod in der Zwischenwelt verbunden seit. Soweit wir wissen, hat Navarro eure Körper im Wald liegen gelassen, ohne sie zu vergaben oder sonstwie zu verändern. Damit habt ihr die Möglichkeit, schnell und einfach in sie zurückzukehren."

Lucas zog eine Augenbraue zurück. "Aber müssten die Körper nicht inzwischen schon halb-"

"Macht euch darüber nicht zu viele Gedanken. Wenn ihr zurück kehrt, werdet ihr sie wie gewohnt nutzen können."

Auch ich verzog das Gesicht in Gedanken an meinen halb verrotteten Körper.

"Und was machen wir, wenn wir da sind?"

„Das werden wir in den nächsten Tagen besprechen. Vorausgesetzt ihr nehmt mein Angebot an. Ich lasse euch ein wenig Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken. Lasst es sacken und schlaft eine Nacht drüber. Morgen besprechen wir dann die Details."

"Eine Frage noch", sagte ich. "Sie haben doch eben gesagt, als Geist kann Navarro nicht einfach getötet werden. Wie sollen wir das dann anstellen, wenn das gar nicht möglich ist?"

Owena lächelte. "Wieder eine sehr gute Frage, über die auch ich mir lange den Kopf zerbrochen habe. Wisst ihr, es gibt gewisse Gegenstände, sehr alte Gegenstände, die dazu in der Lage sind, auch Geister zu töten. Sie sind äußerst selten und sehr schwer zu finden, aber ich konnte einen ausfindig machen, der sich ganz in der Nähe von euren Körpern befindet."

"Ich hab auch noch eine Frage", sagte Lucas.

Owena nickte ihm zu. "Ja?"

"Angenommen, wir nehmen das Angebot an und gehen zurück in unsere Körper. Was passiert, wenn wir noch einmal getroffen werden? Wenn Arin zum Beispiel auf die Idee kommt, mir in den Rücken zu schießen. Was passiert dann?"

Ich zuckte zusammen, als Lucas meinen Namen aussprach. Es war das erste Mal, dass ich ihn aus seinem Mund gehört hatte und auch wenn es unter normalen Umständen keine große Sache gewesen wäre, so fühlte es sich irgendwie falsch an, so als hätte er kein Recht, ihn zu benutzen. Dabei war es nur ein Name

"Dasselbe, was vorher auch passiert ist", antwortete Owena. "Eure Hülle wird sich von euch lösen und ihr kommt genau da an, wo ihr auch letztes Mal angekommen seid. Aber denkt daran, dass der Tod sowohl Körper als auch Nerven sehr belastet. Ich würde es also nicht übertreiben."

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