Kapitel 12

In dieser Nacht konnte ich einfach nicht einschlafen. Stundenlang wälzte ich mich im Bett hin und her, schaltete das Licht an, dann wieder aus, ging zum bestimmt zehnten Mal ins Bad, um einen Schluck kaltes Wasser zu trinken, und machte sogar einen kleinen Spaziergang durch die leeren Gänge, doch die Müdigkeit wollte mich einfach nicht erlösen. Immer wieder gingen mir die Geschehnisse auf der Lichtung durch den Kopf, dieses Buch in der Garage und die große, tiefschwarze Leere dazwischen. Es war ein schreckliches Gefühl, sich nicht erinnern zu können. Dabei fühlte es sich so an, als liege die Wahrheit auf meiner Zungenspitze, als wüsste mein Unterbewusstsein ganz genau, was sich in der Hütte und auf der Lichtung abgespielt hatte und warum ich Navarro hatte umbringen wollen, doch ich schaffte es einfach nicht, mein Unterbewusstsein zum Reden zu bringen. Stattdessen zerbrach ich mir selber den Kopf darüber. Ich war gefangen in dieser unendlichen Schleife an Gedanken, die nie Ruhe geben wollte.

Ich dachte an den Abend mit Sofia und das Gespräch beim Frühstück. Warum konnte ich nicht einfach so gestorben sein wie sie? Wieso konnte ich nicht einfach durch einen Autounfall ums Leben gekommen sein, oder meinetwegen durch eine Gasexplosion, irgendwas, für das ich nicht Detektivin in meinen eigenen Erinnerungen spielen musste. Frustriert schlug ich die Decke zurück. Sofia hatte recht. Ich war wirklich hundert Meter hinter der Startlinie angekommen. Wenn ich so weit war, um mich Erlo in den Gesprächen zu öffnen, würden die anderen schon meilenweit entfernt sein, wenn nicht sogar längst im Ziel. Doch ich würde es nicht länger zulassen, dass ich Nacht für Nacht für Nacht hier in meinem Bett lag und mir für mein eigenes Schicksal leidtat. Es war eindeutig Zeit, das ganze in die eigenen Hände zu nehmen.

Ohne das Licht anzumachen oder in meine Schuhe zu steigen, schlüpfte ich in den Gang. Der Boden war eiskalt an meinen nackten Fußsohlen, doch darum scherte ich mich nicht. Je weiter ich ging, desto mehr wurde mir bewusst, wie sehr ich das hier eigentlich schon am ersten Tag hätte tun sollen, als ich Lucas in der Therapiestunde gesehen hatte.

Den Weg kannte ich. Es war nicht so, dass ich mich wirklich darum bemüht hatte, es herauszufinden, wo Lucas schlief. Bis vor ein paar Tagen hätte ich es vermutlich gar nicht wissen wollen. Nein, es war reiner Zufall gewesen, dass ich ihn bei einem meiner langen Spaziergänge durch die Abteilung einmal zurück in sein Zimmer hatte gehen sehen. Ein sehr glücklicher Zufall, wenn man es so wollte. Leise schlich ich über den Flur, bis ich vor seinem Zimmer stand, drückte langsam die Klinke nach unten und schlüpfte hinein.

Lucas schlief. Die Decke bis ans Kinn gezogen lag er da, starr wie ein Stück Holz. Ich blieb stehen und betrachtete ihn eine Weile. Wie schaffte er es nur, trotz allem so tief und fest zu schlafen? Man hatte fast das Gefühl, all das hier berührte ihn noch nicht einmal. Leise schlich ich auf ihn zu. Zur Sicherheit hob ich die Hände, um mich notfalls abfangen zu können, wenn die Erinnerung mich überkam. Doch nichts passierte. Nun hatte ich sein Bett erreicht. Immer noch nichts. Ich dachte nach. Vielleicht musste er dafür ja die Augen offen haben.

Kurz entschlossen machte ich einen letzten Schritt und kletterte auf ihn, drückte die Knie seitlich gegen seinen Körper und stützte mich mit den Armen auf dem Kissen ab. Sofort wurde Lucas wach. Er riss die Augen auf. Sein Körper fing an zu zucken, während er herauszufinden versuchte, was gerade passierte. Seine Augen weiteten sich, als er mich erkannte.

"Was machst du hier?", zischte er und versuchte, sich aus der Decke zu befreien. Doch ich hatte eine gute Position erwischt, denn trotz seiner Zappelei saß ich noch immer auf ihm.

"Guck mich an", befahl ich. Ich versuchte, ihm in die Augen zu sehen, so wie ich es im großen Saal getan hatte, doch Lucas war zu sehr damit beschäftigt, mich von sich zu schieben, um meinen Blick zu erwidern. Wild sah er durchs Zimmer, auf der Suche nach etwas, das er gegen mich verwenden konnte. Doch dafür brauchte er erst einmal eine freie Hand und die hatte er nicht.

"Raus", brüllte er schließlich so laut, dass ich mir fast sicher war, dass wir bald Besuch bekommen würden. Ich musste mich beeilen.

"Guck mich an", wiederholte ich etwas lauter. Ich griff seine Haare, drehte sein Gesicht zu mir, so dass er nicht anders konnte, als mich anzusehen. Doch er mied noch immer meinen Blick.

"Lass. Mich. Los", zischte er.

"Guck. Mich. An.", brüllte ich zurück, voller Verzweiflung und Wut. Und dann, endlich, wurde es dunkel.

"Und? Wie war die Klausur?"

"Hmmm", brummte ich müde.

Mein Stiefvater nahm mir meine Jacke ab und sah mich mitleidig an. "So schlimm?"

"Wenn du durchgefallen als schlimm bezeichnen würdest, dann ja. Schlimm."

Missmutig trat ich meinen Rucksack in die Ecke und folgte ihm ins Wohnzimmer. Ben sprang sofort vom Sofa auf.

"Und? Wie wars?", fragte er aufgeregt.

"Hätte schlimmer laufen können", antwortete ich. "Drei von vier Klausuren bestanden geht noch. Nächstes Semester schreibe ich einfach eine mehr, dann bin ich wieder im Zeitplan."

"Du hast es trotzdem gut gemacht", versuchte Ben mich aufzubauen und umarmte mich. Seine dürren Ärmchen schlangen sich wie ein Schraubstock um meine Hüfte, während er seinen Kopf mit aller Kraft gegen meinen Bauch drückte.

Ich musste lachen. "Hey, ich bekomm gleich keine Luft mehr."

"Rate mal, was Benny und ich gebacken haben", wechselte mein Stiefvater das Thema.

Ich zuckte mit den Schultern.

Ben ließ mich los und grinste mich an. "Franzbröööötchen"

Ich verdrehte die Augen, konnte mir ein Lächeln aber nicht verkneifen.

"Eigentlich sollte es eine Belohnung für das erfolgreiche Semester werden, aber nun gut, für eine Trauermahlzeit sollte es auch reichen", sagte mein Stiefvater und legte mir aufmunternd die Hand auf die Schulter.

"Willst du uns jedem eins holen, Benny? Auf den blauen Tellern?"

Ben nickte und schwirrte ab in Richtung Küche.

"Ist Mama hier?", fragte ich.

Mein Stiefvater schüttelte den Kopf. "Die kommt erst in ein paar Stunden, wenn sie nicht noch im Stau steckt. Heute Mittag war da noch Vollsperrung."

"Tust du mir ein Gefallen? Erzählst du ihr nicht, dass ich durchgefallen bin?"

"Arin, sie ist deine Mutter."

"Bitte. Irgendwann erzähl ich es ihr schon noch. Aber nicht heute. Du weißt, wie sie ist", flehte ich.

"Meinetwegen", gab mein Stiefvater nach. "Du bist sowieso bald erwachsen."

"Danke." Ich breitete die Arme aus und zog ihn in eine feste Umarmung. "Du bist der beste."

Plötzlich, ohne Vorwarnung, verschwand das Bild vor mir und ich wurde in die bittere Realität zurückgezogen. Die Realität, in der ich tot war. Die, in der Lucas mich erschossen hatte. Und die, in der ich nun über ihm kniete, eine Hand in seinen Haaren, die andere auf seiner Brust.

Wie in einer Schockstarre lag er unter mir, mit müdem, fast regungslosem Gesicht. Er schien geistig nicht mehr hier zu sein. Seine Augen waren verdreht, starrten ins Leere. Dann kam auf einmal wieder Leben in ihn und er sah mich wütend an. Es war der gleiche Gesichtsausdruck, mit dem er mich in den Gruppenstunden betrachtet hatte oder bei unserem ersten Zusammenstoß.

Aber ich hatte wichtigeres zu tun, als mich um seine Gefühle über mich zu kümmern. Ich hatte all das gemacht, für einen nichtssagenden Fetzen? Eine Erinnerung, die ich mir selber hätte zusammenreimen können? Nein. Das konnte nicht sein. Das hier konnte nicht umsonst sein. Das hier war meine einzige Chance gewesen.

Ich beugte mich nach vorne, presste meine Stirn gegen seine, starrte in seine moosgrünen Augen, doch nichts passierte. Tränen tropften von meinem Kinn auf seine Wangen, während ich verzweifelt versuchte, mich zu erinnern. Doch ich schaffte es nicht. Was ich auch versuchte, ich sah nichts anderes als Lucas sommersprossiges Gesicht von mir. Ich fluchte laut, schwang mich vom Bett und floh in Richtung Tür. Draußen waren schon einige Stimmen zu hören, doch vielleicht hatte ich ja noch genug Zeit, zurück in mein Zimmer zu sprinten und die Tür zu verbarrikadieren, bevor der erste Betreuer auftauchte.

"Was sollte das?", rief Lucas mir hinterher. Ich drehte mich um. Er saß aufrecht, eine Hand an der Decke, die andere an der Stirn.

"Ich wollte mich erinnern, verdammt" brüllte ich ihm geradezu entgegen. "Ich kann nicht weiter, wenn ich mich nicht erinnern kann." Dann knallte ich die Tür hinter mir zu und lief schluchzend zurück in mein Zimmer.

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