Kapitel 10
Wie verabredet trafen Sofia und ich uns am nächsten Morgen beim Eingang zum großen Saal.
"Gut geschlafen?", begrüßte sie mich.
"Tatsächlich habe ich diese Nacht geschlafen, ja", antwortete ich und folgte ihr zum Buffet. "Du?"
Sofia grinste. "Wie ein Stein."
Als wir uns unser Frühstück auf den Teller geladen hatten, setzten wir uns an einen der runden Tische. Kurze Zeit später stießen auch Emma und Colette dazu.
"Hey", begrüßte ich sie schüchternd. Es war ein schräges Gefühl, hier zwischen ihn zu sitzen und zu essen, während sie sich unterhielten, als wären sie schon jahrelang beste Freunde. Ein paar Mal gab ich auch einen Kommentar ab, doch größtenteils aß ich stumm mein Frühstück. Ich wollte nicht zu aufdringlich wirken, indem ich gleich zu allem meine Meinung kundtat.
"Was ist eigentlich mit diesem Typen? Lucas?", fragte Colette mich plötzlich.
Ich verschluckte mich fast an meinem Toast. "Was soll mit ihm sein?", fragte ich.
"Keine Ahnung. Ich hab ihn gestern mit seinem Betreuer auf dem Gang gesehen, auf dem Weg zur Gruppenstunde. Ich dachte, ihr hättet vielleicht-"
"Vielleicht was?", hakte ich nach. Ich hatte keine Ahnung, was ich und Lucas noch miteinander zu tun haben sollten. Colette hatte doch selber gesehen, was zwischen uns passiert war. So etwas würde doch niemand freiwillig nochmal tun wollen.
"Vielleicht hast du ja mit ihm geredet oder so."
"Warum sollte ich das tun?", fragte ich kalt. Mir ging diese Unterhaltung gerade eindeutig gegen den Strich.
"Also von dem, was mein Betreuer erzählt hat, würdest du damit den Prozess ganz schön beschleunigen."
"Wie?", fragte ich.
"Colette meinte, die einzigen Erinnerungen, die du zurück bekommen hast, sind die von den Anfällen", erklärte Sofia.
Ich nickte. "Ja." Auch wenn ich mich echt fragte, woher Colette diese Information hatte.
"Vielleicht ist das ja die einzige Möglichkeit, an die anderen Erinnerungen zu kommen."
Ich lachte. "Du meinst also, ich soll einfach zu Lucas gehen und einen weiteren Anfall erzwingen?"
"Wäre eine Möglichkeit", sagte Colette grinsend.
"Nein, also ja schon, aber nicht so. Ich dachte eher, du redest mal mit deinem Betreuer und fragst ihn, ob er vielleicht ein sicheres Treffen zwischen euch orgnisieren kann."
"Ich hab nicht so Lust, mich mit meinem Mörder zu unterhalten um ehrlich zu sein."
"Klar, verständlich, aber du hast gerade nicht wirklich eine andere Option, oder? Sonst funktioniert ja nichts", sagte Colette.
Das restliche Frühstück hielt ich mich komplett aus dem Gespräch raus. Als endlich alle fertig waren und ich zurück in mein Zimmer lief, war die Stunde mit Erlo eine vergleichsweise willkommene Aussicht.
...
"Okay. Heute beginnen wir mit einer kleinen Übung", begann Erlo unsere Therapiestunde heute. Er riss ein leeres Blatt aus der pinken Akte und reichte es mir.
"Ich werde dir gleich ein paar Begriffe vorlesen. Du malst sie dann so gut wie du kannst auf das Stück Papier vor dir, okay?"
"Ich kann so nicht malen", erwiderte ich.
"Es geht hier nicht darum, ein Kunstwerk anzufertigen, Arin. Wenn du den Begriff nicht malen kannst, mal einfach das, was dir dazu in den Kopf kommt, okay? Es muss nicht schön werden. Es muss einfach nur werden."
Erlo begann, den ersten Begriff von seiner Liste vorzulesen.
"Nein, ich meine, ich hab keinen Stift", unterbrach ich ihn.
Ohne hochzusehen deutete Erlo auf meinen Schoß. Verwirrt senkte ich den Kopf. Tatsächlich. Quer über meinem rechten Bein balancierte ein pink-grün gestreifter Bleistift. Ich griff ihn, schüttelte verwirrt den Kopf und begann zu zeichnen. Als ich mit all meinen Zeichnungen fertig war und den Kopf wieder hob, hielt Erlo ein schmales, interessant geformtes Glas in der Hand, aus dem er einen widerwärtig grünlichen Cocktail schlürfte. In der Mitte schwamm ein Holzstäbchen, um das sich eine spiralförmige Zitronenschale wickelte.
"Willst du auch was trinken?", fragte er, als er meinen Blick bemerkte.
"Was hast du denn da?", fragte ich.
"Was auch immer du willst."
War seine Büroschublade etwa ein Portal in den Bierkeller? Was für ein Unsinn.
"Eine bittere Traubenschorle mit drei Eiswürfeln, einem Strohhalm und so einem kleinen Schirmchen. Gelb mit blauen Streifen bitte", sagte ich und grinste ihn herausfordernd an.
Erlo zuckte mit den Schultern und griff in die Schublade.
"Wie hast du das gemacht?", fragte ich ihn ungläubig, als er meine Bestellung mitsamt Strohhalm und gestreiftem Schirmchen hochhielt.
Erlo ignorierte mich. "Zeigst du mir dein Bild?"
Ich schüttelte den Kopf. "Erst, wenn du mir sagst, wie du das gemacht hast."
"Vergiss es. Wir machen das hier, damit du dich erinnert, nicht, um dir meine Tricks zu zeigen."
"Bitteeeee", sagte ich und machte das beste Welpengesicht, was ich konnte.
Erlo seufzte. "Ich zeig es dir nicht, weil ich es nicht will, sondern weil ich es nicht darf."
"Ist es schlimmer, als mir meinen Tod zu zeigen, obwohl meine Akte einen schwarzen Punkt hatte?"
"Ja."
Schmollend zog ich die Lippen zusammen.
"Gut. Können wir weiter machen?", fragte Erlo.
Ich nickte. Eine Weile folgte ich seinen Anweisungen, malte Bilder, ließ mich auf alles ein, was er mir vorschlug und tat mein bestes, um mich zu erinnern. Doch je länger wir uns unterhielten, desto frustrierter wurde ich.
"Darf ich dir ne Frage stellen?", fragte ich Erlo, als er die Stunde schließlich beendete. Erlo nickte.
"Du willst es zwar nicht zugeben, aber du hast gerade eindeutig was gemacht, was Menschen als Magie oder Zauberei bezeichnen würden."
"Hmmm", brummte Erlo, öffnete seinen Schreibtisch und räumte meine Akte weg.
"Liegt es daran, dass du kein Mensch bist?"
Erlo sah auf und lachte überrascht. "Kein Mensch?"
"Naja, du kannst Stifte einfach aus der Luft erscheinen lassen, Gläser herzaubern und was nicht noch alles. Außerdem, wenn man davon ausgeht, dass alle Menschen in der Zwischenwelt echt sind, dann muss es ja für jeden einzelnen eine Erklärung geben, warum sie hier sind. Und die einzige Erklärung, die ich kenne, ist, dass sie gestorben sind."
"Dass alle Menschen hier echt sind?", fragte Erlo stirnrunzelnd.
"Ja, echt", antwortete ich. "Nicht ausgedacht. Woher soll ich wissen, dass du und Wilma und all die anderen Betreuer nicht einfach eine Erfindung der Zwischenwelt sind, so eine Art Gedankentrickserei, um hier für Ruhe und Ordnung zu sorgen?"
Erlo lachte. "Ich bin echt. Genauso echt wie du."
"Also hast du auch mal gelebt?", hakte ich nach.
"Ja. Auch ich habe mal gelebt. Zufrieden?" Erlo schüttelte genervt den Kopf, holte ein dunkle Flasche aus seiner Schublade und nahm einen Schluck.
"Und wie bist du gestorben?", fragte ich.
Erlo ignorierte mich. Er setzte zu einem zweiten Schluck an, schraubte die Flasche wieder zu und ließ sie zurück in die Schulblade fallen. Geräuschvoll trat er sie zu.
"Wenn du einmal gelebt hast, bist du doch auch gestorben", ließ ich nicht locker.
"Ja, Arin, das bin ich. Können wir jetzt bitte mit dir weitermachen?"
"Also bist du auch umgebracht worden? So wie ich? Heißt das, du hast es selber nicht geschafft, weiterzugehen und musst deswegen als Betreuer hier bleiben? Oder war das deine freie Entscheidung? Nein, warte, das kann ich mir nicht vorstellen. Niemand würde freiwillig bleiben."
Erlo sah mich an. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der mir eindeutig zu verstehen gab, das das Thema nun beendet war. "Wir machen jetzt mit der Therapiestunde weiter, in Ordnung?", sagte er.
"Aber-", protestierte ich.
Erlo stöhnte. "Arin, lass es gut sein."
"Du willst doch auch, dass ich weitergehe. Aber das kann ich nicht, wenn man mich komplett im Dunkeln lässt über alles."
"Weißt du, die Menschen, mit denen ich normalerweise zu tun habe, haben sich eigentlich schon seit Jahren mit ihrem Tod abgefunden. Ich muss sie nur ein wenig daran erinnern. Vor allem interessieren sie sich aber auch einen Dreck dafür, dass das hier anders ist als das Altersheim, aus dem sie kommen."
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