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"Du weißt was jetzt ansteht, oder?", fragt Sam ernst, kurz nachdem ich den Motor gestartet habe.
Ich atme tief durch. "Einsatzbericht schreiben?", rate ich hoffnungsvoll.
"Auch. Aber vorher müssen wir uns unterhalten", macht er meinen letzten Funken Hoffnung zunichte.
Ich nicke stumm. Mir war klar, dass er die Situation zwischen Esmeralda und mir nicht auf sich beruhen lassen kann.
"Ich muss dich fragen, ob du mich angelogen hast. Du hast mir versichert, dass da nichts zwischen dir und der Roma-Prinzessin ist", sagt er ernst und mustert mich von der Seite.
Roma-Prinzessin. Was für ein Ausdruck. Ich weiß noch nicht, ob ich das niedlich oder abwertend finden sollen. Es hat ein bisschen was von beidem.
"Okay, pass auf. Ich habe dich nicht angelogen, aber ich habe dir etwas verschwiegen", gebe ich schweren Herzens zu.
Sam wird hellhörig.
"Ich dachte, dass es keine Rolle spielt, und im Grunde tut es das auch nicht, aber ich werde dir jetzt trotzdem reinen Wein einschenken. Als ich bei Esmeralda im Zimmer war und sie zu dem Vorfall im Hof befragt habe, war sie erst furchtbar schüchtern und zurückhaltend. Ich habe sie gefragt ob sie etwas mitbekommen hat und sie hat erklärt, dass sie gelesen hat. Wir haben zwei oder drei Sätze über das Buch auf ihrem Nachttisch gewechselt und sie ist binnen Sekunden total aufgetaut, bis plötzlich ihr Vater in der Tür stand. Auf einmal war sie wie ausgewechselt, hilflos, in ihrem Blick lag die blanke Angst. Und irgendwie ist mir dieser Blick von ihr und diese Szene die ganzen letzten Tage nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich habe ein total schlechtes Gefühl, da liegt irgendwas im Argen, ich spüre, dass sie Hilfe braucht. Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich nicht wollte, dass du an meiner Arbeitsmoral zweifelst und irgendwie habe ich mich auch dafür geschämt. Sowas ist mir noch nie passiert, aber diesen Einsatz und dieses Mädchen habe ich mit nachhause genommen. Dieser verzweifelte Blick hat mich einfach nicht los gelassen. Als Adonis sie heute zur Rede gestellt hat, war das wieder so. Sie ist völlig in sich zusammengesunken. Du hast doch selbst erlebt, wie offen und glücklich sie in dem Restaurant war. Das war doch ein anderer Mensch!", rede ich mich in Rage.
Sam gibt mir Raum, meine Gedanken loszuwerden ohne mir ins Wort zu fallen. Als ich fertig bin, sieht er mich verständnisvoll an.
"Ich war auch schon mal in so einer Situation", gibt er dann für mich völlig überraschend zu. "Ist noch gar nicht so lange her. Ich war übergangsweise ein paar Wochen in Düsseldorf und wurde mit einer Kollegin zu einem jungen Mädchen geschickt. Ihr Freund war ein stadtbekannter Zuhälter, ein widerlicher Typ, mehrfach vorbestraft wegen Drogenbesitz und Zwangsprostitution. Es ging um einen Mordfall, eine junge Rumänin, die auch eine enge Freundin des Mädchens war, wurde brutal ermordet. Wir haben den Tipp bekommen dass das Mädchen, Malia hieß sie, auch für ihn arbeitet, aber bei der Razzia in seinem Bordell haben wir sie dort nicht aufgefunden, deshalb haben wir sie in einer Wohnung besucht, in der sie wohnen sollte, um sie zu dem Fall zu befragen. Das sind so Wohnungen, die ihm gehören und in denen Mädchen wohnen und gleichzeitig für ihn anschaffen, fast schon wie ein erweitertes Laufhaus, nur diskreter.
Sie hat zugegeben, dass sie mit ihm zusammen ist und ich habe ihr angesehen, dass er sie auch zum Anschaffen zwingt. Du kennst das doch, manchmal hat man einfach so ein Gefühl. Wir haben auf sie eingeredet und ich schwöre es dir, wir hatten sie gerade so weit, dass sie auspacken wollte, da klingelt es an der Tür und dieser Typ steht da. Natürlich hat das Mädchen kein Wort mehr gesagt und er hat voll versucht den Dicken zu markieren. Es hatte keinen Sinn mehr, das Gespräch weiter zu führen und wir sind abgehauen", erzählt er und atmet schwer. Man merkt, dass ihm dieser Fall noch immer nahe geht.
"Weil wir kein Geständnis von ihr hatten, konnten wir ihm rein gar nichts nachweisen, dabei hätte ich so gerne gesehen, wie ihm sein süffisantes Lächeln im Gesicht erstirbt weil er mit Handschellen abgeführt und ins PG gesteckt wird. Ich konnte tagelang nicht davon loslassen. Diese Malia war gerade mal sechzehn oder siebzehn und ich habe in ihren Augen gesehen, wie kaputt sie ist, wie kaputt er sie gemacht hat, aber ich konnte einfach nichts machen. Ich bin sogar eines Abends auf eigene Faust nochmal zu ihr gefahren um ein Geständnis aus ihr rauszukriegen, aber sie war nicht zuhause und wir haben sie auch nicht mehr in dem Laden gefunden. Ich habe sogar davon geträumt, dass ich zu einem Einsatz gerufen werde und das Mädchen tot in der Wohnung liegt, aber ich konnte verdammt nochmal nichts machen, ich konnte ihr nicht helfen und das hat mich fast zur Verzweiflung gebracht." Seine Stimme bebt und er rauft sich aufgebracht durch das schwarze Haar.
"Das tut mir leid", gebe ich ehrlich zu und klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. Ich weiß nur zu gut, wie er sich gefühlt haben muss.
"Ich weiß wie du dich fühlst, Nick, aber du kannst nichts anderes machen als dranbleiben und weiter an dem Fall arbeiten. Wir können nicht jeden retten, egal wie sehr wir wollen. Manchmal stehen wir Menschen gegenüber und kennen die Wahrheit, jeder Blinde würde sehen, was da vor sich geht, aber uns sind die Hände gebunden, weil die Leute nicht mit uns reden. Egal wie oft ein Mann seine Frau schlägt, wir können ihn nicht dafür verknacken, so lange sie ihn nicht anzeigt. Wo kein Kläger, da kein Richter", erklärt er leidvoll. Ich sehe ihm an, dass ihm das ebenso wenig reicht wie mir. Und trotzdem gilt noch immer das altbewährte Sprichwort: "Recht haben ist nicht gleich Recht bekommen" - auch wenn das nicht unserem Gerechtigkeitsempfinden entspricht.
"Aber du musst mir versprechen, dass du offen und ehrlich mit mir über sowas redest. Du kannst mir zu einhundert Prozent vertrauen, du brauchst keine Angst vor mir haben und du brauchst dich nicht vor mir zu schämen, aber ich verlange von dir, dass ich dir auch vertrauen kann. Wenn es hart auf hart kommt kann unser Vetrauensverhältnis über Leben und Tod entscheiden, wir müssen uns blind aufeinander verlassen können", sagt er aufgebracht und sieht mir tief in die Augen.
"Es tut mir leid", räume ich reumütig ein. "Du hast Recht, ich hätte mit dir reden sollen. Ich wollte einfach nicht, dass du ein schlechtes Bild von mir bekommst."
"Das habe ich doch so oder so, mein Freund", feixt er und grinst schief.
Ich bin ihm dankbar dafür, dass er mal wieder eine ernste Situation mit einem dummen Spruch auflockert. Er hat wirklich ein Talent dafür.
"Und so 'ne Nummer wie heute solltest du lieber lassen. Adonis hat gecheckt dass da irgendwas zwischen euch ist, ich habe dir ja letztens schon gesagt, dass man sieht, wie sehr ihr euch anschmachtet und das ist auch ihm nicht entgangen. Du kannst froh sein, dass die Situation nicht noch weiter eskaliert ist. Nicht, dass ich Angst um dich hätte wegen einem Halbstarken in gefälschten Markenklamotten, aber vielleicht müssten wir uns dann um das Mädchen Sorgen machen."
"Die mache ich mir eh schon. Ich glaube nicht, dass das Thema für ihn durch ist", seufze ich und fahre von der Autobahn.
"Hoffen wir einfach das Beste", erwidert Sam. Ich nicke zur Bestätigung.
"Aber mal ehrlich: Hast du dich in sie verliebt?", fragt er kurz darauf neugierig. Er kann einfach nicht aus seiner Haut.
"Nein", antworte ich unsicher nach kurzem Zögern. "Sehr überzeugend", gibt er lachend zurück.
"Sie gefällt mir, ja. Aber ich weiß doch selbst, dass das zu nichts führen würde", gebe ich resigniert zu.
"Das würde es wirklich nicht", stellt er klar. "Aber wir wissen beide, dass Herz und Kopf oft nicht miteinander einhergehen."
Ich seufze. Sam hat Recht und ich muss mir eingestehen, dass Esmeralda mich mit jedem Treffen, jedem Blick und jedem Lächeln immer mehr in ihren Bann zieht. Verliebt würde ich es vielleicht noch nicht nennen, aber sie lässt mich alles andere als kalt.
"Würdest du das nochmal machen? Auf eigene Faust zu jemandem nachhause fahren, meine ich?", frage ich Sam wenig später. Was für ein Zufall, dass er mir davon erzählt, kurz nachdem ich selbst darüber nachgedacht habe, bei den Serafins vorbei zu fahren. Nachdem ich Esmeralda in dem Restaurant getroffen habe, war meine Sorge um sie im Keim erstickt, doch nach dem heutigen Zusammentreffen mit Adonis habe ich wieder Angst um sie.
Was, wenn ihre Brüder ihr wirklich ein Verhältnis mit einem Polizisten unterstellen und ihr die Hölle dafür heiß machen?
"Wenn die Frage lautet, ob ich es grundsätzlich nochmal machen würde, wäre die Antwort ja. Wenn die Frage allerdings ist, ob ich dir dazu raten würde, mal unangekündigt in zivil bei den Serafins auf der Matte zu stehen, ist meine Antwort ganz klar: Nein! Dein Erscheinen würde nur Öl ins Feuer gießen. Du würdest deinem Mädchen damit keinen Gefallen tun und dir auch nicht."
"Hatte das damals Konsequenzen für dich?", hake ich interessiert nach.
"Nein, weil ich unverrichteter Dinge wieder abgezogen bin, weil niemand zuhause war. Hätte dieser Roy mich aber dort angetroffen oder Malia hätte ihm davon erzählt, dann hätte das mit Sicherheit Theater gegeben. Gerade bei uns dienstjungen Polizisten können die Vorgesetzten solche Alleingänge gar nicht ab. Aber das meinte ich letztens mit "impulsiver Hitzkopf" - ich wollte dieses Geständnis, einen Beweis um ihn zur Rechenschaft zu ziehen und da waren mir die Konsequenzen in dem Moment egal. Und ich kenne mich selbst gut genug um zu wissen, dass ich wieder genau so handeln würde. Wäre ich in deiner Situation, hätte ich wohl schon drei Mal bei Esmeralda gestanden, wäre arbeitslos und von ihren Brüdern erstochen und dann in Marxloh zwischen Müllbergen und Rattenlöchern in der Erde verscharrt worden." Sam lacht, vermutlich über sich selber und schüttelt den Kopf.
"Spaß beiseite. Lass das lieber, echt. Ich bin kein gutes Vorbild. Überleg mal, wir haben sie quasi jeden Tag gesehen, seit wir angefangen haben in dieser Sache zu ermitteln. Da erkläre ich mich lieber völlig uneigennützig dazu bereit, jeden Tag bei Erçan essen zu gehen um sie so im Auge zu behalten, auf deinen Nacken natürlich, als wenn sie mir nächste Woche einen neuen Partner vorsetzen weil du wegen Esmeralda gekündigt wurdest."
Ich löse meine rechte Hand grinsend vom Lenkrad und halte sie ihm hin. "Deal", sage ich und Sam schlägt zufrieden ein.
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