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"Adonis?", frage ich wissend und klappe seine hellrote Akte zu.

Wolf nickt und erklärt kurzangebunden: "Passanten haben den Notruf gewählt. Am Bahnhof kam es zu Streitigkeiten die eskaliert sind. Zwei Kollegen von der Streife sind schon vor Ort, aber da ist ein riesiger Auflauf, sodass sie die Situation nicht alleine unter Kontrolle bringen können. Einer der Kollegen hat um Verstärkung gebeten und angegeben, dass er unter den Leuten Adonis erkannt hat und deshalb kommt ihr ins Spiel. Kuno und ich begleiten euch."

Ich springe von dem schwarzen Drehstuhl und schnappe meine dunkelblaue Uniformjacke. "Auf geht's", nicke ich Sam zu und laufe voraus Richtung Treppenhaus.

Wir eilen zu den Dienstwagen und fahren stadtauswärts. "Du darfst", weise ich Sam grinsend an und nicke in Richtung Armaturenbrett. "Endlich! Ich habe das Geräusch schon richtig vermisst", gibt er vorfreudig zurück und drückt auf einen der schwarzen Knöpfe.

Das knallblaue Licht erhellt die dunkle Nacht und die Sirene heult lautstark auf. Ich beschleunige den Wagen erneut und rase mit bis zu 180 km/h über die Autobahn A59.

Leider kann man sich nicht darauf verlassen, dass alle Autofahrer das Prinzip der Rettungsgasse verstanden haben, aber aufgrund der späten Uhrzeit ist die Fahrbahn ziemlich leer und wir können die hohe Geschwindigkeit bis zur Ausfahrt beibehalten.

Wir brauchen für die vier Kilometer bis zum Bahnhof nur gute drei Minuten, bis ich den blau-silbernen Kombi mit quietschenden Reifen vor dem Hauptbahnhof quer auf dem Asphalt parke.

Bereits aus dem Auto heraus erkenne ich den Tumult unmittelbar vor dem Haupteingang des Bahnhofs. Ich will gerade einen prüfenden Blick zu Sam werfen, als die Situation plötzlich erneut hochkocht und ein Schlag fällt.

Ich weiß, dass das erst der Startschuss ist und es von jetzt an schnell gehen muss.

Sam und ich hechten aus dem Auto und sprinten die paar Meter herüber.

Fäuste fliegen, eine Flasche knallt auf den Boden, Scherben zersplittern auf dem Bordstein. Geschrei, wüste Beleidigungen fallen und die ersten Blutstropfen fließen.

Sam und ich schieben die heranwachsenden Männer zur Seite und bahnen uns hartnäckig einen Weg in die Mitte der Menschentraube. Die beiden Kollegen von der Streife, die bereits vor Ort waren, tun dasselbe nur von der anderen Seite aus.

"Auseinander, Polizei!", brüllen wir lautstark. Dann entdecke ich Adonis. Aus seiner markanten Nase tropft Blut, sein Kiefer ist angespannt und seine Hände zu Fäusten geballt. Er holt gerade aus um seinem Gegenüber, der ebenfalls schon übel zugerichtet ist, einen erneuten Schlag zu verpassen, da greife ich in seine Bewegung und packe ihn am Oberarm. Grob reiße ich ihn nach hinten und zerre ihn von seinem Gegner weg, während Sam eben jenen in die entgegengesetzte Richtung schiebt.

Adonis fährt aufgebracht herum, sein Gesichtsaudruck ist aggressiv, die dunklen Augen funkeln erregt. Er schreit irgendwas, was ich aufgrund des Lärms nicht richtig verstehe, verstummt jedoch sofort, als er mich erkennt. Mit der Polizei hat er anscheinend nicht gerechnet.

Die Menschenmenge um uns herum hat sich indes deutlich aufgelockert und einige der jungen Männer laufen hastig davon. Sie haben keine Lust auf polizeiliche Fragen, ein altbekanntes Phänomen, das uns gerade eher in die Karten spielt, da es die Menschenmenge entzerrt.

Die Situation ist angespannt, die Stimmung aufgeheizt und die Jugendlichen sind uns zwar körperlich deutlich unterlegen aber personell weit in der Überzahl.

Ich ziehe Adonis weiter, der das widerstandslos über sich ergehen lässt und will mich gerade von der Menschenmenge abwenden, als ich ein weiteres bekanntes Gesicht entdecke.

Der schmächtige Jugendliche, der ein wenig abseits steht, hat ein zugeschwollenes Auge, eine dicke Lippe und einen Cut über der Augenbraue, der hellrotes Blut über sein Gesicht fließen lässt. Er steht verloren herum und starrt ins Leere, wirkt desorientiert und verstört.

Ich halte kurz inne, lege meine Hand auf seine Schulter und rüttele leicht an ihm. Schreckhaft zuckt er zusammen und sieht mich aus seinen großen grün-braunen Augen ängstlich an.

"Mitkommen", brülle ich laut aber ruhig über den Lärm hinweg. Ich will nicht riskieren ihn in diesem Chaos aus den Augen zu verlieren, deshalb bleibt keine Zeit für Höflichkeit oder inhaltsleere Floskeln.

Der Junge folgt mir wie ein tapsiger Welpe und ich schiebe Adonis an seiner Schulter etwas weiter abseits.

Die Geräuschkulisse wird mit jedem Schritt leiser und wir kommen an einer niedrigen Mauer zum Stehen. "Wir brauchen mindestens einen RTW, Massenschlägerei, mehrere Verletzte. Ein junger Mann mit Verdacht auf Frakturen im Gesicht", spreche ich kurz in mein Funkgerät und stecke es wieder weg ohne auf Antwort zu warten.

Dann drücke ich Adonis sanft auf die Mauer und bedeute dem Jungen sich dazu zu setzen. Ich kann mir für gewöhnlich gut Gesichter merken, aber er ist so entstellt, dass ich ihn nicht direkt zuordnen kann. "Hast du einen Ausweis?", spreche ich ihn sanft an.

Meine gute Menschenkenntnis ist mir im Job stets ein Vorteil. Ich habe gleich gemerkt, dass er mir anstandslos folgen wird, während Adonis ein aufmüpfiger Charakter ist, bei dem man mit härteren Bandagen kämpfen muss.

Der Junge nickt und zieht mit leicht zittrigen Fingern sein Portemonnaie aus der Hosentasche und reicht mir seinen dunkelroten rumänischen Pass.

Ich schlage ihn auf und erkenne das Paasbild in seinem Ausweis auf Anhieb. Nelu, einer der jüngsten Brüder des Serafin-Clans, der verhältnismäßig wenig in Erscheinung getreten ist.

Nelu Serafin
Geboren 28.11.2004 in Constanța, Rumänien

Notiere ich auf meinem Notizblock. Dann greife ich in meine Jackentasche und ziehe ein Taschentuch heraus um es Nelu zu reichen. Er bedankt sich höflich und wischt sich ein wenig Blut aus dem Gesicht.

"Was ist hier passiert?", wende ich mich nun an Adonis, der bis jetzt außergewöhnlich ruhig war, dafür dass er sonst statt mit vornehmer Zurückhaltung eher mit seiner großen Klappe glänzt.

"Nix", brummt er mürrisch und starrt missmutig vor sich hin.

Ich verdrehe genervt die Augen. "Ist klar, deshalb blutest du auch, ne? Wurdest du verprügelt?", frage ich ihn absichtlich provokant, doch er steigt auf diese Provokation entgegen meiner Erwartung nicht ein sondern schweigt weiterhin beharrlich.

Ich gehe leicht in die Knie um mit ihm auf Augenhöhe zu kommen und sehe ihn ernst an. "Weißt du, was ich heute den ganzen Tag gemacht habe?", frage ich. Überrascht hebt er seinen Kopf und sieht mich an angriffslustig an. "Woher soll ich das wissen? Bullenzeug bestimmt. Am Schreibtisch rumgesessen und so."

"Stimmt", gebe ich zu. "Ich habe deine Akte studiert."

Jetzt bekommt er große Augen und sieht mich neugierig an. "Fehlt ja nicht mehr viel bis sie dich das nächste Mal einbuchten, aber dann wird das kein Jugendarrest mehr sondern Jugendvollzug. Da macht sich so 'ne schwere Körperverletzung on top bestimmt gut, denn ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass du jemanden geschlagen hast. Also wenn du nicht redest, wird es unter'm Strich nur bei einer Anzeige für dich bleiben", stelle ich klar und drücke mich wieder hoch.

Sam tritt neben mich und wirft kurz einen prüfenden Blick auf die beiden Jungs, bevor er mich informiert: "Die Kollegen vernehmen die anderen, wir sollen uns um die beiden kümmern."

"Das trifft sich gut, denn Adonis wollte mir gerade erzählen, was passiert ist, oder?", richte ich mein Wort wieder an den siebzehnjährigen mit dem gefälschten Hugo Boss Jogger und den streng zurück gegelten Haaren, der missmutig nickt.

Meine deutliche Ansprache hat also gefruchtet.

"Dann nehme ich unseren Freund mal mit und schreibe die Anzeige und du kümmerst dich um den Jungen, ja?", schlägt er mit Blick auf Nelu vor und ich stimme ihm zu.

Adonis erhebt sich schwerfällig und erst jetzt bemerke ich, dass er leicht humpelt. Er scheint wohl wirklich ordentlich kassiert zu haben.

Ich nehme seinen Platz ein und lasse mich neben Nelu auf der schmalen Steinmauer nieder.

"Wie geht's dir?", frage ich ihn ernsthaft interessiert und mustere seine offensichtlichen Verletzungen im Gesicht.

"Ging mir schon besser", antwortet er trocken, mit starrem Blick auf den Boden.

"Was ist denn passiert?", hake ich nach. Er wirkt wahnsinnig jung und unweigerlich lässt mich das wieder an Esmeralda denken, die ich ebenfalls deutlich jünger geschätzt habe.

Sein weißer Hoodie ist mit roten Blutsprenkeln übersät und verdreckt und seine etwas längeren schwarzen Haare sind durch das Blut zu dicken Strähnen verklebt. Ich beuge mich ein Stück vor und meine zu erkennen, dass er auch am Kopf eine Platzwunde hat. Er wird definitiv mit ins Krankenhaus fahren müssen um versorgt zu werden und eine Gehirnerschütterung oder noch schwerwiegendere neurologische Schäden ausschließen zu lassen, das sagt mir zumindest meine Erfahrung.

"Ich weiß es nicht. Adonis hat sich mit ein paar dieser Typen gestritten." Sein Blick fällt auf die anderen Jugendlichen, vier an der Zahl, die von den Kollegen zeitgleich verhört werden. "Plötzlich haben die auf uns eingeschlagen, erst mit Fäusten und dann mit Stöcken und Flaschen."

Seine Stimme ist brüchig und klingt ein wenig so, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Ich kann nicht verhindern, dass er mir ein bisschen leid tut.

"Weißt du, weshalb die sich gestritten haben?", erkundige ich mich. Er schüttelt leicht den Kopf. "Okay. Du wirst sowieso demnächst zum Verhör auf die Wache kommen müssen, dann bereden wir das alles noch mal in Ruhe, ja? Jetzt müssen wir schauen, dass du erstmal verarztet wirst. Der Krankenwagen kommt gleich und wird dich wohl erstmal mitnehmen", informiere ich ihn. Seine Augen weiten sich panisch.

"Keine Sorge, das ist reine Routine. Da du minderjährig bist, müssen wir aber deinen Eltern Bescheid geben. Hast du da eine Nummer für mich?"

Nelu holt sein Handy raus, ein nagelneues iPhone mit gesprungenem Display und zeigt mir nach einigen Sekunden den Kontakt seines Vaters, der bei ihm pragmatisch als "Corneliu" eingespeichert ist. Ich schreibe die Nummer ab und rufe den Vater der beiden Jungen dann von meinem Diensthandy an. Ich teile ihm mit, dass Adonis und Nelu in eine Schlägerei verwickelt waren und zumindest letzterer vermutlich im Krankenhaus behandelt werden muss. Er nimmt diese Information nüchtern zur Kenntnis, erkundigt sich aber weder nach dem Wohlergehen der beiden noch macht er irgendwelche Anstalten, zum Bahnhof oder wenigstens zum Krankenhaus zu kommen, sodass ich das Telefonat nach wenigen Sekunden frustriert wieder beende.

"Er weiß Bescheid", erkläre ich Nelu knapp und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie erbost ich über seine vorangegangene Reaktion bin. Mein Vater hätte alles Stehen und Liegen gelassen und sich wahnsinnige Sorgen um mich gemacht. Auch wenn ich um eine spätere Standpauke ganz sicher nicht herum gekommen wäre, hätte für ihn zuallererst im Vordergrund gestanden, dass es mir gut geht.

Ob man irgendwann abstumpft, wenn die eigenen Söhne immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kommen? Vor allem, wenn man selbst irgendwie mit drin hängt?

"Nelu!", unterbricht eine glockenhelle Stimme aufgebracht meine Gedanken. Ich erkenne sie sofort. Sie gehört Esmeralda.

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