6

Sam und ich verbringen auch den restlichen Vormittag mit Schreibtischarbeit und sichten alte Akten. Je mehr wir schon jetzt über die Serafins wissen, desto leichter wird uns die Arbeit in den nächsten Wochen fallen.

Bereits am frühen Mittag ist mein Dienst beendet und da ich jetzt einen Wechsel von Früh- auf Nachtschicht habe, werde ich die Wache erst morgen Nachmittag wieder betreten. Über 24 Stunden Pause. Abstand von der Arbeit, von meinen Gedanken und von Esmeralda. Durchatmen und wieder klare Gedanken fassen.

Mein Mittel der Wahl als Ausgleich ist wie immer Sport und deshalb kommt es mir gelegen, dass an diesem Abend zwei Stunden Kickbox-Training anstehen. Ich esse mit meinen Eltern und meinem Bruder zu Abend und hole dann meinen besten Freund Nedim ab.

Der junge Bosnier wohnt ebenfalls noch bei seinen Eltern, zusammen mit seinen zwei älteren Schwestern Sanela und Anisa.

Nedim trägt einen schwarzen Jogginganzug von Adidas, als er sich auf den Beifahrersitz meines Audi fallenlässt. Auf seinem schwarzen Haar sitzt eine farblich passende Snapback und seine große Sporttasche hat er kurz zuvor in den Kofferraum geschmissen.

Er schenkt mir ein warmes Lächeln und stößt seine Faust zur Begrüßung an meine. "Was geht, Bruder?", fragt er gut gelaunt. Auch wenn "Bruder" eine inflationär verwendete Floskel ist, der zufolge gefühlt halb Deutschland miteinander verwandt ist, so nehme ich Nedim diesen Ausdruck ab. Er hat mir oft gesagt, ich sei für ihn der Bruder, den er sich immer gewünscht hat. Wir sind schon zusammen im Kindergarten gewesen, danach in der selben Grundschulklasse und haben sogar gemeinsam unser Abitur gemacht.

Ich weiß, dass ich mich immer blind auf ihn verlassen kann und dass er zu tausend Prozent loyal hinter mir steht - wie ein Bruder eben.

"War ziemlich stressig auf der Arbeit. Bin froh, jetzt ein bisschen meinen Frust rauslassen zu können", gebe ich zu und starte den Wagen.

"Danke für die Warnung. Ich suche mir dann heute lieber einen anderen Sparing-Partner", feixt er und seine dunkelbraunen Augen blitzen belustigt auf.

"Feigling", ziehe ich ihn grinsend auf. Nedim ist zwar nur unbedeutend kleiner als ich, aber gut fünfzehn Kilo leichter. Er ist jedoch sehr drahtig und verfügt über eine einwandfreie Technik, weshalb er mir stets ein ebenbürtiger Gegner ist.

"Ne, ich hänge nur an meiner Nase. Die ist eigentlich ganz hübsch", erklärt er ebenfalls grinsend und betrachtet sich prüfend im Seitenspiegel, was mich zum Lachen bringt.

"Was war denn los auf der Arbeit?", hakt er nun mit etwas Verspätung nach. Ich hatte gehofft, er würde nicht fragen. Ich will die Arbeit gerade einfach nur vergessen und nicht wieder über Esmeralda nachdenken müssen.

"Ach, wir müssen uns halt erstmal einarbeiten. Ziemlich viele neue Infos in kurzer Zeit", antworte ich vage.

Nedim nickt verstehend. Er selbst hat eine Ausbildung zum Industriemechaniker bei Thyssen Krupp, einem der größten Arbeitgeber der Region, gemacht und wurde aufgrund seiner guten Leistungen nach seinem Abschluss direkt fest übernommen.

"Was ist mit Sanela? Hat sich jetzt alles geklärt?", wechsele ich das Thema.

"Hör bloß auf", stöhnt Nedim leidend. "Die drehen alle ab, Mama, Sunny und Nisa. Du weißt gar nicht, wie schlimm das ist mit drei derart hysterischen Weibern zusammen zu leben. Diese Hochzeit macht die alle noch zu Bridezillas. Ich bin froh wenn der ganze Zirkus ein Ende hat und Edin wenigstens eine dieser Verrückten mitnimmt."

"Ach komm, sie wird dir bestimmt fehlen, wenn sie dann wirklich weg ist", beschwichtige ich ihn und lenke meinen Wagen ruhig auf die Autobahn Richtung Essen.

"Klar wird sie mir fehlen, sie ist meine Schwester, aber du hast wirklich keine Ahnung was bei uns abgeht. Täglich probiert sie eine neue Frisur aus und wenn wir dann was falsches sagen, flippt sie aus. Unser ganzes Haus gleicht einer Lagerhalle, überall stehen Kartonweise Vasen, Girlanden und irgendein anderer Dekoscheiß, Gastgeschenke und sowas. Und als dann noch dieses Fiasko mit der Location dazu kam war ganz zappenduster. Sanela hat drei Tage lang durchgeheult und wollte schon alles absagen. Zum Glück hat sich das alles noch geklärt. Ein zweites Mal hätte ich das ganze Theater nicht ausgehalten, davor wäre ich ausgezogen", erklärt er voller Selbstmitleid.

"Mal abwarten wie wir sind, wenn wir irgendwann mal heiraten. Sowas erlebt man schließlich im besten Fall nur einmal im Leben. Sie hat sich diesen Tag bestimmt schon als kleines Mädchen ausgemalt, da musst du sie auch ein bisschen verstehen, dass sie will, dass alles perfekt wird."

"Du hast ja Recht, aber sie würde selbst in einem Kartoffelsack gut aussehen, deshalb verstehe ich nicht, weshalb sie sich so 'nen Stress macht. Sie wird eh alles andere in den Schatten stellen und keiner wird hinterher noch wissen, ob die Kerzen jetzt cremefarben oder weiß waren."

Nedim liebt seine beiden Schwestern abgöttisch, er war immer der kleine Prinz und wurde von Sanela und Anisa hingebungsvoll verhätschelt. Tief in seinem Herzen nimmt es ihn ziemlich mit, dass seine älteste Schwester jetzt auszieht und ihre eigene Familie gründet, auch wenn er das so nie sagen würde. Zum Glück ist Edin, sein zukünftiger Schwager, eine gute Partie und Nedim weiß Sanela bei ihm in guten Händen.

Ich setze den Blinker und parke an der Hauptstraße gegenüber des Landgerichts.

Das Kampfkunst-Akademie in der wir trainieren liegt in Essen nahe des Stadtzentrums. Auch wenn das Gebäude auf den ersten Blick klein und unscheinbar wirkt, sind die Trainer Spitzenklasse und haben bereits erfolgreiche MMA-Kämpfer und Boxer ausgebildet, die sogar internationale Erfolge feiern konnten.

Auch bei meinen Kollegen ist das Studio beliebt. Die meisten Polizisten machen in ihrer Freizeit neben den verpflichtenden dienstüblichen Sporteinheiten auch privat Kampfsport um fit und leistungsstark zu bleiben und auf jede Gelegenheit bestmöglich vorbereitet zu sein.

Nedim und ich ziehen uns in der Umkleide um und bandagieren uns im Anschluss im Trainingsraum gegenseitig die Hände, bevor wir in unsere Boxhandschuhe schlüpfen. Wir tragen beide nur eine kurze Box-Shorts, es hat sich für uns mit den Jahren bewährt oberkörperfrei zu trainieren.

Ich schmeiße mein Handtuch und meine Wasserflasche auf eine der Bänke und beginne mich warm zu machen.

David, unser Trainer, nimmt uns heute besonders hart ran, sodass mein Kopf komplett abschaltet und ich mich nur noch auf das hier und jetzt konzentriere. Linkshaken, Rechtshaken, Kick. Deckung bewahren. Beinarbeit. Liegestütze, Klimmzüge, Sandsackarbeit.

Als die zwei Stunden rum sind und David uns in die Duschen entlässt, bin ich nass geschwitzt und voller Endorphine. Sport löst in mir solche Glücksgefühle aus, dass ich fast süchtig danach bin. Ich brauche die körperliche Ertüchtigung, den Ausgleich. Niemals sage ich freiwillig eine Trainingseinheit ab und auch wenn viele das als verbissen bezeichnen, würde ich es selbst nur als ehrgeizig und ambitioniert beschreiben. Sport ist für mich nie eine Qual, im Gegenteil: es wäre für mich eine Qual darauf verzichten zu müssen.

Ich setze Nedim auf dem Rückweg wieder zuhause ab und falle totmüde in mein Bett. Es vergehen nicht mal zehn Minuten bis ich in einen tiefen und ruhigen Schlaf sinke.

...

Am nächsten Morgen schlafe ich lange und genieße die Ruhe zuhause, da alle arbeiten sind. Ich brate mir eine große Portion Rührei mit Schinken zum Frühstück und entscheide mich während des Essens dazu mit Nike und Zeus, die gierig auf mein Frühstück schielen und mir schwanzwedelnd hinterher laufen, eine große Runde Joggen zu gehen.

Nike ist vier Jahre jung und ein schlankes silbergraues Weibchen, während ihr sechsjähriger Bruder Zeus, der einem früheren Wurf der selben Eltern entstammt, blaues Fell und gut zehn Kilogramm mehr als seine deutlich kleinere Schwester hat. Die beiden sind liebe und gutmütige Tiere und dank meiner Mutter hervorragend erzogen. Sie hören aufs Wort und können überall von der Leine gelassen werden ohne sich auch nur fünf Meter von einem zu entfernen, wenn man ihnen nicht die Erlaubnis dazu gibt.

Ich räume mein Geschirr in die Spülmaschine, ziehe mich um und leine die beiden Hunde an.

Nike und Zeus lieben es, wenn ich mit ihnen Joggen gehe und halten brav mit mir Schritt. Auch wenn meine Mutter den Großteil der Gassirunden übernimmt, nutze ich eine freie Stunde gerne dazu, die beiden richtig auszupowern.

Wir laufen Anfangs über einen befestigten Weg, biegen dann jedoch von diesem ab, laufen ein Stück durch dichtes Geäst und kommen dann an einem kleinen malerischen Bach aus, der einem steinernen Brunnen entspringt.

Wir legen eine kurze Pause ein, ich leine die beiden ab und gebe ihnen das Kommando loslaufen zu dürfen. Die beiden wetzen zum Bach und trinken erst einen Schluck bevor sie freudig hechelnd durch das kühle Nass toben. Ich jage Zeus noch ein wenig mit einem Stöckchen hin und her, während Nike brav neben mir sitzt und ihren Bruder aufmerksam beim Apportieren beobachtet.

Als ich zwei weitere Spaziergänger mit einem großen Schäferhund entdecke, pfeife ich Zeus zu mir und leine die beiden Hunde wieder an. Wir beenden unsere Pause und laufen weiter, unter Kastanienbäumen und Ahorn entlang, deren Blätter bereits in strahlend buntem rot und gelb gefärbt sind. Das Laub raschelt unter unseren Füßen und Pfoten und hin und wieder hört man Vogelgezwitscher.

Die kalte Herbstluft erfüllt meine Lungen und es hat sich bereits so sehr abgekühlt, dass mein Atem kleine Nebelschwaden hinterlässt.

Die Stunde Auszeit mit den beiden Fellnasen im naheliegenden Wald ist jedes Mal wie ein kleiner Kurzurlaub und erdet mich zwischen meinen stressigen Schichten.

Als wir wieder zuhause ankommen rubbele ich das Fell der beiden Weimeraner mit einem Handtuch trocken und lasse sie dann herein. Sie stürzen zuerst zu ihren Wassernäpfen und lassen sich danach erschöpft in ihre Körbchen sinken.

Ich laufe die schmale Wendeltreppe nach oben, entledige mich meiner verschwitzten Sportkleidung und gehe duschen.

Ich rasiere mich, föhne mir die Haare und style sie mir mit ein wenig Wachs, bevor ich mich einparfümiere und mir noch einen frischen Jogginganzug überwerfe. Es ist mittlerweile später Vormittag und ein bisschen Zeit habe ich noch bis ich mich für die Arbeit fertig machen muss.

Ich entscheide mich dazu, mir Mittagessen zu machen und koche eine Portion Reis und Brokkoli und brate mir Hähnchenbrustfilet dazu. Ich esse und vertrödele noch ein wenig Zeit vorm Fernseher bis meine Mutter als erste nachhause kommt. Ich begleite sie bei ihrer nachmittäglichen Hunderunde und helfe ihr danach beim Kochen.

Es gibt Lachs, Rosmarinkartoffeln und Gurkensalat. Louis stößt irgendwann zu uns und deckt den Tisch und selbst unser Vater schafft es heute mal pünktlich nachhause.

"Wann musst du los, Nick?", fragt er, als wir alle gemeinsam beim Abendessen sitzen und sieht mich über den Rahmen seiner schwarzen Brille hinweg lächelnd an. Er ist ein großer kräftiger Mann mit dunklen, grau melierten Haaren und leichtem Bartschatten. Sein weißes Hemd hat er aufgeknöpft und die schwarze Krawatte baumelt lose über seine Schultern.

Wenn man alte Bilder von ihm sieht, merkt man, dass Louis und ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten sind, lediglich seine Haare waren schon immer dunkler als unsere.

"Ich muss um 20 Uhr bei der Arbeit sein", antworte ich und zerteile eine Kartoffel mit dem Messer.

"Bis vier Uhr dann?", hakt er interessiert nach. "Bis sechs Uhr", erkläre ich und werde schon bei dem Gedanken daran müde. Nachtschicht ist immer spannend, gerade Nachts passieren viele Straftaten, aber der Wechsel auf Nachtschicht fällt mir immer schwer. Wenn man dann einmal drin ist geht's.

Mein Vater klopft mir aufmunternd auf die Schulter. "Auf eine ruhige Nacht, mein Junge."

"Lieber nicht, sonst geht die Zeit nicht um", merkt Louis an und grinst mir wissend zu. Ich nicke zustimmend.

Als ich gegen 22 Uhr gemeinsam mit Sam im Büro sitze, muss ich ans Louis' Worte denken. Bis jetzt ist noch nichts passiert und die zwei Stunden zogen sich wie Kaugummi.

Ich wälze gerade wieder eine dicke Akte, die von Adonis Serafin und verschaffe mir ein Bild darüber, was er bereits in seinen jungen Jahren alles auf dem Kerbholz hat.

"Der Junge ist echt mit allen Wassern gewaschen", merke ich kopfschüttelnd an.

Sam hebt den Kopf und sieht mich über den Bildschirm seines Computers hinweg fragend an. Ich will meine vorherige Aussage gerade konkretisieren, als die Tür unseres Büros schwungvoll auffliegt und Wolf alarmiert in der Tür steht.

"Jungs, macht euch auf den Weg. Es gab eine Schlägerei mit einem von euren Schützlingen, der Notruf kam gerade rein."

______________________________

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top