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Ich rufe Sam auf dem Handy an. Er wusste, dass Esmeralda und ich Zeit zu zweit brauchen, damit sie sich öffnet und hat sich nach seiner Zigarette bei einem unserer Kollegen im Büro die Zeit mit quatschen vertrieben.
"Kommst du bitte hoch? Und bring Wolf mit, ja? Esmeralda ist bereit, eine Aussage zu machen."
Er fragt nicht groß nach, sondern tut, worum ich ihn bitte. Wenig später treten die beiden Männer ins Büro. Sam begrüßt Esmeralda freundlich, fast schon freundschaftlich, während Wolf sich ihr höflich vorstellt.
"Es wäre mir lieb, wenn du die offizielle Aussage aufnimmst", wende ich mich an Sam. "Ich habe euch versprochen, dass ich meine Grenzen erkenne und an dem Punkt bin ich einfach zu sehr emotional involviert", gebe ich offen zu.
Wolf nickt zustimmend. "Ist das okay für dich?", frage ich Esmeralda einfühlsam. "Klar", antwortet sie und schenkt mir ein müdes Lächeln. "Soll ich dir als Unterstützung zur Seite stehen oder ist es dir lieber, wenn ich rausgehe?", hake ich nach.
"Nein, ich will, dass du hier bleibst", entscheidet sie. "Ich habe dir gerade eh schon das meiste erzählt", fügt sie hinzu.
Ihre grobe Erzählung reicht uns natürlich bei weitem nicht. Sam führt die Vernehmung hervorragend. Er stellt viele Nachfragen, bleibt hartnäckig, geht aber trotzdem auf sie ein und gibt ihr die Zeit, sich zu erinnern und den Mut zu fassen, die Dinge auszusprechen.
Das ganze Prozedere dauert mit der Verschriftlichung von Esmeraldas Aussage über zwei Stunden. Nicht ungewöhnlich, bei der Masse an Informationen, die festgehalten werden müssen.
Am Ende nickt Sam ihr zu. "Danke, dass du diese Aussage gemacht hast. Ich kann mir vorstellen, wie schwer dir das gefallen sein muss. Wir werden jetzt alles nötige in die Wege leiten, um dir zu helfen."
Zufrieden, wenn auch erschöpft, nickt sie. "Aber was, wenn Corneliu mich bis dahin schon nach Rumänien gebracht hat? Ich weiß nicht, für wann er diese Hochzeit geplant hat." Ekel liegt in ihrer Stimme.
"Machen Sie sich keine Sorgen Frau Serafin, wir arbeiten schnell und gründlich", erklärt Wolf zuversichtlich und erhebt sich von seinem Stuhl. "Jungs, ich muss kurz ein paar Telefonate führen. Wenn ich fertig bin, komme ich zu euch und wir besprechen alles Weitere."
Dann wendet er sich wieder an Esmeralda. "Bitte bemühen Sie sich, die Fassade aufrechtzuerhalten. Tun Sie so, als wüssten Sie nichts von den Plänen Ihrer Familie. Auch Ihr Bruder soll sich weiterhin unauffällig verhalten. Den Rest überlassen Sie uns. Und vermeiden Sie bis dahin weitere Kontaktversuche mit dem Kollegen Klingenthal. Wir müssen vermeiden, dass sich die ganze Situation hochschaukelt und es bei Ihrem Onkel zu einer Kurzschlussreaktion kommt."
Dann verlässt er das Büro und lässt Sam, Esmeralda und mich zurück.
"Was wird jetzt passieren?", fragt sie und sieht mich aus ihren großen, grünen Augen fragend an.
"Ich kann dir dazu nichts sagen. Vertrau mir einfach. Alles wird gut", verspreche ich ihr voller Überzeugung.
Ich weiß selbst noch nicht, wie und wann wir zuschlagen werden, aber ich gehe mit all meinem polizeilichen Verständnis davon aus, dass im Schnellverfahren ein Durchsuchungsbeschluss erwirkt wird sowie Haftbefehle gegen Valeriu, Corneliu und Mariana Serafin wegen Mordes und vermutlich auch gegen Adonis und Leonidas wegen der schweren Körperverletzung an Esmeralda. Das SEK wird bestellt, um den Zugriff durchzuführen und eine Hundertschaft für die Hausdurchsuchung. Alle übrigen, minderjährigen Kinder werden vom Jugendamt in Obhut genommen. Es ist eine ganze Maschinerie, die jetzt anläuft und die auch nicht mehr zu stoppen ist. Endlich tut sich was.
Nachdenklich starrt Esmeralda vor sich hin und wieder glänzen ihre Augen verdächtig. Ich zögere kurz, hadere mit mir, doch dann greife ich nach ihrer Hand und drücke sie sanft. "Esmeralda, habe ich dich jemals angelogen?"
Sie schüttelt den Kopf. "Dann glaub mir, wenn ich dir sage, dass alles gut wird."
Sie steht auf und schlingt ihre Arme um meinen Hals. Lange umarmen wir uns einfach nur, wortlos und regungslos. Es ist eine Umarmung, die uns beiden so viel Kraft und Hoffnung schenkt. Endlich ihren schlanken Körper wieder an meinem zu spüren, die ganze Wärme, die von ihr ausgeht und ihr lieblicher Geruch in meiner Nase ist weit mehr als ich mir heute Morgen erträumt hätte.
Zum Abschied gibt sie mir noch einen Kuss. Es ist kein leidenschaftlicher Kuss, es ist ein liebevolles Aufeinanderpressen unserer Lippen, doch nachdem ich dachte, nie wieder in den Genuss ihrer Nähe zu kommen, ist er so emotional, dass eine Gänsehaut meinen Körper überzieht.
"Bis bald", wispert sie hoffnungsvoll.
"Ich werde da sein, wenn du mich brauchst", verspreche ich und schenke ihr ein letztes Lächeln, bevor sie sich ebenfalls von Sam verabschiedet und geht.
Erschöpft lasse ich mich in meinen Bürostuhl sinken und trinke einen großen Schluck Wasser.
Mir bleiben nur ein paar Minuten zum Durchatmen bis Wolf wieder zu uns stößt und es sich mit Stift und Block in der Hand voller Tatendrang auf einem der Stühle bequem macht.
"Wir schlagen gleich heute Nacht zu", fällt er mit der Tür ins Haus. "Ich will nicht, dass die Kleine es sich doch anders überlegt und ihre Familie warnt oder dass sie hinterher wirklich nach Rumänien verschleppt wird, weil wir zu lange gewartet haben. Ich habe mir bereits einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss besorgt sowie mit dem zuständigen Staatsanwalt zwecks der Haftbefehle gesprochen, die kriegen wir im Laufe der nächsten Stunde. Ihr beide informiert das Jugendamt und schildert denen die Sache. Wir müssen morgen früh nach dem Zugriff die ganzen Kinder unterkriegen. Ob Bereitschaftspflege, Plätze in Jugendeinrichtungen oder Kinderheimen, seht zu, dass die Kinder morgen früh auf Abruf in Obhut genommen und untergebracht werden können. Wenn ihr das geklärt habt, macht ihr bitte Feierabend und schlaft euch aus, damit ihr morgen um 3 Uhr pünktlich und fit am Treffpunkt seid. Das SEK ist bestellt, die stürmen und sichern. Danach kommt eine Hundertschaft zur Durchsuchung und Festnahme. Ich will euch beide dabei haben, keiner kennt die örtlichen Gegebenheiten und die Familie besser als ihr, ihr seid also in leitender Funktion mit für den Einsatz verantwortlich."
Ehrfürchtig vor so einer großen Aufgabe nicken Sam und ich schweigend und bereits bei der Vorstellung dessen, was uns in wenigen Stunden bevorsteht, schießt mein Adrenalinspiegel in die Höhe.
Gleichzeitig mit der Aufregung verspüre ich Vorfreude. Ich bin froh, Esmeralda endlich helfen zu können und voller Hoffnung, dass nun alles gut wird.
"So wie ich das gehört habe, ist es für dich ja gleich doppelt und dreifach wichtig, morgen früh gut abzuliefern, nicht wahr, Romeo?", grinst der Mann mit den graumelierten Haaren und zwinkert vielsagend hinter seiner Brille.
Den Spitznamen habe ich bei ihm weg, komme was wolle.
"Meinst du wegen meiner Bewerbung?", hake ich nach. Wolf nickt bestätigend.
"Ich habe denen schon gesagt, die sollen dich nicht nehmen", grätscht Sam dazwischen. Natürlich habe ich meinem Partner anstandshalber vorab von meinen Plänen erzählt. Er war nicht begeistert, konnte mich aber verstehen.
Ich winke ab. "Ich habe doch eh nichts mehr von denen gehört."
"Ich aber", antwortet Wolf schulterzuckend und schmunzelt schadenfroh. Meine Augen weiten sich, die Neugier steht mir ins Gesicht geschrieben. "Was denn?", frage ich aufgeregt.
"Sie wollten meine Einschätzung, wie ich zu deiner Bewerbung stehe."
"Und?"
"Ich habe denen natürlich gesagt, dass ich dich für absolut ungeeignet halte", gibt mein Chef ernst zurück.
Mein Herz bleibt kurz stehen, bis er wieder anfängt zu grinsen. "Du bist doch zu mir gekommen und hast mir von deinen Plänen erzählt. Da habe ich dir gesagt, dass ich mir dich sehr gut beim Spezialeinsatzkommando vorstellen kann. Das Gleiche habe ich dem Kollegen, der mich kontaktiert hat, natürlich auch gesagt."
Geschmeichelt richte ich mich in meinem Stuhl auf. "Danke Wolf. Ich weiß das sehr zu schätzen." Er nickt mir zu.
"Ich werde jetzt die weiteren Dinge klären, ihr versorgt die Kinder. Es wäre super, wenn ihr euren Stammbaum nochmal für alle abfotografieren und mitbringen könnt, das erleichtert die Identifikation der Zielpersonen enorm. Ansonsten wünsche ich euch einen schönen Feierabend und erwarte euch morgen früh nach einem hoffentlich erfolgreichen Einsatz."
Sam und ich arbeiten noch gute zwei Stunden an den Vorbereitungen bis wir in den Feierabend starten.
Schlafen kann ich an diesem Abend nicht. Ich bin viel zu aufgeregt und nervös. Hoffentlich klappt alles. Hoffentlich gibt es keine Zwischenfälle, keine Verletzten.
Als um halb drei mein Wecker klingelt habe ich lediglich ein bisschen gedöst. Trotzdem stehe ich hellwach und mit klopfendem Herzen auf.
Heute lege ich die volle Montur an: die schweren, schwarzen Einsatzstiefel, ein weißes Shirt und einen dunkelblauen Strickpulli, welcher zu meiner Uniform gehört mit der passenden dunkelblauen Cargohose. Über den Pullover ziehe ich eine schwere, schusssichere Weste. Meine Waffe stecke ich in das Holster und befestige sie mit einem Beingurt am linken Oberschenkel, mein Funkgerät an dem schwarzen Ledergürtel. Normalerweise bewahren wir diese Ausrüstung auf der Wache in Spinden auf, doch Sam und ich haben sie heute ausnahmsweise mit einer Sondergenehmigung mit nachhause genommen, um uns für den Einsatz auszurüsten.
Zu guter Letzt schnappe ich mir meinen Einsatzhelm und eine schwarze Sturmmaske, in der nur zwei Löcher für die Augen sind. Auch wenn die Kollegen immer mehr auf die kleinen Helfer aus Baumwolle oder Seide zum Schutz ihrer Identität setzen, vermeide ich das eigentlich. Ich finde es wichtig, auch meine Mimik und Gestik zu nutzen, wenn ich mit den Leuten spreche. Heute ist es mir jedoch lieber, wenn ich weitestgehend unerkannt bleibe.
Mit meinem Audi fahre ich zum Treffpunkt, einem großen Parkplatz in einem Industriegebiet. Von hier aus geht es später gemeinschaftlich mit Mannschaftswagen und Transportern zum Haus der Serafins.
Alle Kollegen sind beim Briefing höchst konzentriert und professionell. Klaas, der Einsatzleiter, stellt uns vor und übergibt uns gleich das Zepter. Wir erzählen von unseren Erfahrungen mit den Serafins, die zugegebenermaßen immer relativ kooperativ in Einsätzen sind. Klar, gerade die Jungs sind gerne mal frech, aber aufbrausendes, aggressives oder gar gewalttätiges Verhalten haben sie uns gegenüber nie an den Tag gelegt.
Wir reden knapp eine halbe Stunde, stellen den Kollegen vom SEK, die den Zugriff durchführen, die Stammbäume zur Verfügung, die wir erstellt haben und erzählen etwas über jeden der Serafins, die vermutlich im Haus anzutreffen sein werden.
Als wir gesammelt die Fahrzeuge besteigen, bleibe ich bewusst in Sams Nähe. Ich bin wahnsinnig aufgeregt. Nicht nur, dass ich solch einen Einsatz erst zweimal zuvor begleitet habe, ich bin besonders nervös wegen Esmeralda. Für mich steht heute deutlich mehr auf dem Spiel als sonst in meinem Job.
Die Mannschaftswagen halten quer auf der ganzen Straße. Zuerst rücken das SEK, der Einsatzleiter und wir aus. Ich ziehe meine Sturmmaske über den Kopf und zupfe sie zurecht, Sam tut es mir gleich, bevor wir auch die schweren Helme aufsetzen. Auch er ist so angespannt, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt habe. "Die Maske bringt bei dir nichts, deine Augen verraten dich auf den ersten Blick", necke ich ihn. "Ich denke nicht, dass unsere Lieblinge darauf achten, wenn wir denen im Morgengrauen die Tür eintreten und die Bude stürmen", grinst er. "Wir sollten aber auch so wenig wie möglich reden. Gerade Adonis könnte uns an der Stimme erkennen." Zustimmend nicke ich.
"Jungs", ruft uns Klaas leise zu sich. Der schlanke, dunkelblonde Mann mittleren Alters steckt ganz casual in Jeans und dunklem Pullover, seine Dienstmarke um den Hals gehängt und eine dicke, schwarze Ledermappe mit allen wichtigen Daten, Informationen und Beschlüssen unter den Arm geklemmt.
"Die Jungs von der Spezialeinheit öffnen die Haustür mit der Ramme. Da sich vermutlich außergewöhnlich viele Personen im Haus aufhalten und die Situation sehr unübersichtlich sein kann, werden wir sowohl Rauchgranaten als auch Blendgranaten einsetzen."
Er wendet sich an sein Team. "Bitte denkt daran, dass sich vor allem in der ersten Etage Kinder aufhalten. Versucht es für die so schonend wie möglich abzuwickeln. Beruhigen, in Sicherheit wiegen, die Angst nehmen. Gebt sofort durch, wo sich Kinder befinden, wenn ihr welche gefunden habt. Dort wenn möglich unbedingt auf Granaten verzichten." Alle nicken einverstanden.
Jeder hier ist fokussiert und angespannt. Solche Einsätze sind immer ein Risiko für jeden - auch für jeden von uns. Mein Herz rast und ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich kommen Esmeralda und Nelu gut durch den Einsatz.
Ich muss auch an Stella und Aurelia denken. Die kleinen Mädchen sollten sowas niemals erleben müssen. Für die beiden ist es ja nicht nur der Schock des nächtlichen Stürmens, die beiden werden danach komplett aus ihren Familien gerissen. Das Leben, was sie bis heute geführt haben, ist vorbei. Ich weiß, dass das Beste ist, was ihnen passieren kann, schließlich bewahrt es sie davor, dass ihnen in Zukunft dasselbe Schicksal widerfährt wie Esmeralda. Wir bewahren sie vor einem Leben in Kriminalität und Zwang. Schwierig und schmerzhaft wird die Umstellung für sie nichtsdestotrotz.
"Ihr zwei geht mit etwas Abstand direkt hinterher", sagt Klaas an Sam und mich gewandt. "Checkt aus, wer da ist und wen wir noch im Haus suchen müssen. Führt Listen, schreibt auf wer wo aufgefunden wurde. Sobald alle festgesetzt sind, sammeln wir sie im Wohnzimmer."
Dann wird seine Stimme etwas dunkler und er senkt den Kopf. "Kommt alle heil wieder da raus, Jungs. Spielt mir nicht die Helden, keine Einzelgänge. Eigensicherung steht immer über allem, okay?" Die Männer nicken, manche stimmen zu. Sie klatschen sich untereinander ab, auch mit uns.
Dann wird es ernst. So leise wie möglich öffnet jemand das Metalltor. Sam und ich laufen vor und führen unsere Kollegen zu der richtigen Haustür.
Alle Spezialeinsatzkräfte sammeln sich vor der Tür, schwarz vermummt, bis unters Kinn bewaffnet. Wir treten zur Seite, atmen tief durch und gehen in Stellung.
Der vorderste Polizist bringt die Ramme in Position, nickt seinem Kollegen zu. Der zählt an: "Drei, zwei, eins.." Und dann knallt es ohrenbetäubend laut.
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