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Zurück auf der Wache machen Sam und ich gar nicht erst den Umweg in unser Büro, sondern gehen geradewegs zu Wolf, unserem Dienststellenleiter.
Wie von Sam verlangt sucht er das Gespräch, als der großgewachsene Mann von schlanker Statur uns herein bittet und uns mit einem erwartungsvollen Blick bedenkt.
"Moin Chef", begrüßt mein Kollege ihn sonnig wie eh und je.
"Moin Jungs", erwidert der und schenkt uns ein warmes Lächeln. "Was kann ich für euch tun? Was liegt euch auf dem Herzen?"
"Es geht um Familie Serafin", beginnt Sam und setzt sich auf einen der zwei Besucherstühle gegenüber unseres Dienststellenleiters. Ich nehme rechts von ihm Platz und umklammere haltsuchend die Armlehnen aus kaltem Metall mit meinen Händen.
Aufmerksam nickt Wolf und schaut Sam interessiert an.
"Während unseren intensiven Ermittlungen haben wir zunehmend Hinweise dafür gesammelt, dass für die Kinder, vor allem für die Mädchen der Familie, zunehmend Gefahr besteht.
Die Jungen sammeln immer mehr Anzeigen und die Eltern sind anscheinend nicht im Stande dazu, ihre Zöglinge im Zaum zu halten. Wir gehen sogar davon aus, dass sie regelrecht von ihrem Vater und dem Onkel zu Straftaten aufgefordert oder gar beauftragt werden.
Die kleinen Mädchen sind ungepflegt, unterernährt und fehlen mehr in der Schule als sie da sind. Hier ist definitiv eine Kindeswohlgefährdung gegeben.
Akut hat allerdings die ältere Tochter der Familie die größten Probleme, da auf sie massiver Druck ausgeübt wird. Sie wurde gezwungen, Straftaten der Brüder auf sich zu nehmen, wohl auch unter Androhung von Gewalt. Wir haben sie heute morgen gesehen mit massiven Verletzungen, sie hat deutlich sichtbare Hämatome im Gesicht und an den Extremitäten und der Verdacht hat sich erhärtet, dass ihre eigenen Brüder dafür verantwortlich sind. In unseren Augen ist eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben gegeben."
Sam referiert souverän vor sich hin und sieht Wolf dann erwartungsvoll an. Der lehnt sich in seinem Bürostuhl zurück und legt den Kopf schief.
"Das ist doch alles nichts neues", zuckt er mit den Schultern. "Das ist ein Fall fürs Jugendamt, aber nicht für uns. Wie alt ist die große Tochter denn?"
"21 Jahre alt", ist das erste, was ich zu diesem Gespräch beitrage.
Wolf winkt ab. "Die ist doch eh volljährig, da haben wir keine Handhabung. Hat sie sich euch anvertraut, hat sie eine Aussage gemacht dass ihre Brüder sie angegriffen haben oder sowas?"
Sam zögert, doch ich verneine.
"Dann haben wir nichts gegen die Familie in der Hand. Ihr könnt nicht beweisen, dass es ihre Familie war, die sie verletzt hat. Es könnte auch jeder andere gewesen sein."
"Es waren ihre Brüder", antworte ich entschlossen.
"Das ist egal. So lange sie die Täter nicht anzeigt oder wir andere Beweise haben, können wir nichts machen", gibt er abgestumpft zurück. "Du weißt doch, wie diese Familien funktionieren. Die haben ihre eigenen Regeln und Gesetze. Die reden nicht mit der Polizei. Wenn es hart auf hart kommt, wird die Kleine alles verleugnen, wenn nicht bei uns dann spätestens vor Gericht. Der Druck ist zu groß, die knicken alle ein. Das sind ganze Dynastien von Kriminellen und Verbrechern und die Vorstellung, da irgendjemanden retten zu können, ist utopisch."
Fassungslos schüttele ich den Kopf. "Das heißt, weil sie eine Rumänin aus einem kriminellen Clan ist, versuchen wir es gar nicht erst? Aber ginge es um Lieschen Müller vom Heinrich-Heine-Gymnasium und ihre g
Geschwister, Vater Banker, Mutter Hausfrau, mit Hund und Reihenhaus, dann würden wir da aufschlagen und das volle Programm fahren? Jugendamt, Inobhutnahme, Gefährderansprache?", frage ich ihn empört.
"Du kannst es ja gerne mal mit einer Gefährderansprsche versuchen. Aber dann sag mir Bescheid, wenn es so weit ist. Den Spaß lasse ich mir nicht entgehen."
Ich verstärke den Druck, mit dem ich meine Hände um die Metallstangen presse und probiere krampfhaft, nicht auszurasten.
"Jetzt mal ehrlich, Nick. Wir wissen doch beide, dass das nix bringt. Die Serafins wissen, dass die seit Jahren polizeilich beobachtet werden und machen munter weiter ihr Ding. Es interessiert die nicht im geringsten. Legislative, Exekutive, Judikative, für die alles Konjunktive. Und wenn es doch mal einen erwischt, dann geht er halt in den Knast. Was den geneigten, unbescholtenen Bürger in Angst und Schrecken versetzt, ist für die nur eine Auszeit im All inclusive-Hotel mit Bewirtung und Animation. Glaub mir, Junge, ich bin lange genug in Marxloh tätig, um das mit voller Überzeugung, mit Fug und Recht behaupten zu können.
Verschwende nicht deine Zeit, deine Energie und dein Potential damit, zu versuchen, irgendeiner Roma-Tochter das Leben zu retten. Du wirst dir daran die Zähne ausbeißen und im schlimmsten Fall am Ende noch selber ins Fadenkreuz geraten. Das ist eine undankbare Aufgabe ohne Aussicht auf Erfolg. Deinen Kampfgeist und dein Engagement in allen Ehren, aber diesen Kampf kannst und wirst du verlieren."
Ich traue meinen Ohren kaum. Wie kann Wolf schon aufgeben, bevor wir es überhaupt versucht haben? Würde er genauso reagieren, wenn es um ein deutsches Mädchen aus einer gutbürgerlichen Mittelstandsfamilie gehen würde, die zuhause misshandelt wird? Bin ich blind vor Liebe oder ist Wolf einfach betriebsblind, versaut von stereotypem Denken und gesellschaftsfähigem Antiziganismus? Mir kommen Esmeraldas deutliche Worte in den Kopf, die sie im Kaisergarten getroffen hat. Ist das Problem von Rassismus und Klassifizierung sozialer Schichten doch deutlich größer, als es ich es aus meiner privilegierten Position jemals gedacht hätte?
"Wieso bist du dir eigentlich so sicher, dass es ihre Brüder waren?", hakt Wolf da plötzlich nach und unterbricht meinen inneren Monolog.
Ich zögere kurz, suche hilflos Sams Blick, der mir ermunternd zunickt. Ich kann Wolf nicht ins Gesicht lügen. Am Ende findet die Wahrheit immer ihren Weg und ich will mir nicht meine berufliche Karriere und vor allem Wolfs Respekt durch Unehrlichkeit verspielen.
"Sie hat es mir gesagt, aber es war keine offizielle Aussage."
Er fixiert mich mit seinem Blick. "Das heißt, du stehst in einer persönlichen Beziehung zu ihr?"
"Ja", gebe ich schweren Herzens zu.
"Und wie kann ich mit diesem Wissen noch sicherstellen, dass das deine Arbeit nicht beeinträchtigt?"
"Weil ich da ein Auge drauf habe und die neutrale, kontrollierende Instanz bin", schaltet sich Sam ein. "Nick hat mir sein Wort gegeben, dass er selbst ehrlich zu sich ist und die Notbremse zieht, sollte er merken, dass er nicht mehr objektiv sondern emotional handelt. Bisher hat es sich aber als äußerst hilfreich in den Ermittlungsarbeiten erwiesen, dass er einen guten Draht zu Esmeralda und auch ihrem jüngeren Bruder Nelu hat. Wir haben Informationen bekommen, die wir sonst ohne diese Vertrauensbasis niemals erhalten hätten. Und da, wie du selbst merkst, Nick die Familie aufgrund seiner persönlichen Involvierung nicht schützen will, sondern im Gegenteil ein gesteigertes Interesse daran hat, den Drahtziehern das Handwerk zu legen, um dem Mädchen zu helfen, sehe ich keine Beeinträchtigung unserer Arbeit."
Zustimmend nicke ich. Wolf schweigt und scheint reiflich zu überlegen, wie er reagieren soll. Dann atmet er tief durch und ergreift wieder das Wort. "Okay, Sam, wenn du ein Auge auf unseren Romeo hast, bin ich bereit, das erstmal noch so laufen zu lassen. Aber seit euch sicher, dass ich das im Auge behalte", mahnt er deutlich an mich gerichtet. Wieder nicke ich.
"Und um nochmal auf euer ursprüngliches Anliegen zurückzukommen: ihr müsst mir irgendwas liefern, damit ich eingreifen kann. Klar könnt ihr das Jugendamt wegen der beiden kleinen Mädchen informieren und auch wegen der Brüder, aber ich bin mir sicher, dass die eh schon auf den Plan gerufen wurden, oder nicht?"
"Ja, die waren letzte Woche erst bei der Familie zum Hausbesuch", stimme ich mit leiser Stimme zu.
"Na also. Bringt mir eine offizielle Aussage von Esmeralda Serafin, dann - und auch nur dann - können wir tätig werden."
Es herrscht tiefe Ernüchterung, als Sam und ich uns wieder im Büro gegenübersitzen.
"Wir müssen was finden. Wir werden was finden", gibt sich Sam kämpferisch. "Hast du irgendeinen Anhaltspunkt?"
Ich denke fieberhaft nach, bis mir plötzlich ein Geistesblitz kommt. "Pass auf. Es gibt da etwas, aber ich habe noch keine Beweise, es ist bis jetzt nur ein Gefühl. Esmeralda ist immer so komisch, wenn es um Corneliu Serafin geht. Sie hat ein total distanzierte Verhältnis zu ihm, sagt nie Papa, meistens nur Vater und letztens ist ihr sogar sein Vorname rausgerutscht, als sie über ihn gesprochen hat. Bei Adonis genauso. Die beiden betonen Bruder und Schwester immer mit einem ganz komischen Unterton."
"Worauf willst du hinaus?" Ich habe seine volle Aufmerksamkeit, seine blauen Augen funkeln gespannt.
"Was, wenn Esmeralda gar nicht Cornelius Kind ist? Wenn er sie und auch Nelu immer so stiefmütterlich behandelt, weil er eben gar nicht deren Vater ist?"
Nachdenklich nickt Sam. Dann steht er von seinem Schreibtisch auf und klatscht in die Hände. "Wir gehen alles nochmal durch. Alle Unterlagen, die wir haben", erklärt er und zieht zwei große Aktenordner aus dem Schrank.
Wir lesen den ganzen Morgen Dokumente, arbeiten uns durch Berge von Papier, bis ich irgendwann leuchtende Augen kriege und Sam aufgeregt rufe.
"Ich glaube ich habe des Rätsels Lösung."
Mein Herz klopft schnell und hektisch in meiner Brust und die Worte bleiben mir fast im Hals stecken.
Verständnislos sieht mich mein gutaussehender Kollege an.
Ich lege die Geburtsurkunden von Esmeralda und Nelu nebeneinander und deute mit dem Zeigefinger darauf.
"Gleicher Stift, gleiche Schrift, wie aus einem Guss", erkläre ich nachdenklich.
"Stimmt", pflichtet mein Kollege mir bei. "Was hast du im Kopf?"
"Die Geburtsurkunden könnten nachträglich erstellt worden sein", schmeiße ich in den Raum. "Die sehen für mich aus, als wären sie an einem Tag geschrieben worden, was nicht sein kann, da die beiden vier Jahre Unterschied haben."
Sam legt den Kopf schief. "Aber wer sind dann die richtigen Eltern der beiden und wie kommen sie in die Obhut von Corneliu Serafin und seiner Frau?"
Ich blättere weiter in dem hellroten Aktenordner, in dem wir Urkunden und Dokumente diverser Serafins aufbewahren. "Corneliu und Valeriu sind die beiden, die auf der Henriettenstraße wohnen. Corneliu ist der jüngere Bruder", rede ich vor mich hin und scanne weiter die Dokumente. Irgendwo ist der Haken versteckt, wir müssen ihn nur finden.
Sam, der sich auf meinen Schreibtisch gesetzt hat, legt plötzlich seinen Finger auf eine der Seiten. "Und wer ist Liviu?"
Ich halte die Luft an und starre auf das rumänische Dokument, welches in Kopie von uns abgeheftet wurde. Mein Blick schnellt zu dem Whiteboard, auf welchem Sam und ich bereits vor einiger Zeit einen Stammbaum samt Bildern der Familie Serafin aufgemalt haben.
Kein Liviu Serafin. Der Name ist uns bisher noch nie begegnet.
"Wir brauchen einen Dolmetscher, der uns den Bums übersetzt", schlägt Sam vor und ich nicke zustimmend.
"Schade, dass du Esmeralda nicht fragen kannst", kommentiert er zähneknirschend. "Ist tatsächlich die erste, die mir einfällt, die fließend rumänisch spricht."
"Ich informiere Wolf", sage ich, ohne auf seine Anmerkung einzugehen, und stehe abrupt vom Stuhl auf. "Versuch du einen Dolmetscher zu finden, der sofort Zeit hat. Wir haben doch eine Kartei auf dem Computer für Verhöre."
Sam nickt aufgeregt. Endlich scheint sich unsere wochenlange, akribische Arbeit auszuzahlen.
Zehn Minuten später betrete ich wieder unser Büro. "Wir brauchen jetzt sofort eine Übersetzung. Können Sie auf die Wache kommen?", fragt er hoffnungsvoll ins Telefon. "Nächste Woche ist zu spät. Es geht um ein einzelnes Dokument."
Gespannt versuche ich, aus den einseitigen Gesprächsfetzen schlau zu werden.
"Okay, dann machen wir das so. Ich weise Sie noch einmal auf die Schweigepflicht hin. Es handelt sich um vertrauliche, personenbezogene Daten, die im Nachhinein von ihnen vernichtet werden müssen."
Als Sam auflegt, starre ich ihn gebannt an.
"Niemand von denen hat Zeit, jetzt sofort zur Wache zu kommen, aber einer der Dolmetscher hat sich dazu bereit erklärt, uns das Dokument eben am Telefon zu übersetzen. Wir müssen es ihm nur zufaxen."
"Perfekt. Machst du das eben?"
Sam nickt, heftet die Seite aus und macht sich auf den Weg zu unserem Faxgerät.
Es dauert eine gute halbe Stunde, bis endlich das Telefon in unserem Büro klingelt.
"Mach auf Lautsprecher", raune ich Sam nervös zu und schließe schnell die Tür.
"Hallo, Pavel Sadoveanu hier", spricht der Mann am anderen Ende der Leitung mit dumpfer Stimme. "Hallo Herr Sadoveanu, Polizeikommissar Stein hier. Mein Kollege Klingenthal hört mit", grüßt Sam zurück. Wir beide sind merklich angespannt, versteifen uns am Schreibtisch und starren auf das Dokument.
"Also, das Dokument, was sie mir geschickt haben, ist eine alte Meldebescheinigung. Die Familie ist von einer Stadt namens Mizil nach Constanta gezogen."
Der Name klingelt bei mir. Laut Esmeralda ist sie in Constanta aufgewachsen.
"Und wer gehört alles zu der Familie", hakt Sam nach.
"Die Eltern heißen Dumitru und Mirela Serafin und die Söhne Corneliu, Liviu und Valeriu."
Ich schüttele ungläubig den Kopf. "Wenn wir genaueres über einen der Söhne rausfinden wollen, an wen müssen wir uns wenden?"
"Ich würde es mal bei der Rumänischen Botschaft in Bonn versuchen", schlägt Herr Sadoveanu vor. "Da sollten sie alles in Erfahrung bringen können, was über den Mann bekannt ist."
Ich nicke Sam zu, der sich daraufhin bei unserem Gesprächspartner bedankt und das Gespräch beendet.
"Halt mich für irre, aber dieser Liviu ist Esmeraldas und Nelus Vater", sage ich voller Überzeugung.
Nachdenklich nickt Sam.
"Ich rufe beim Konsulat an und mache und einen Termin", beschließe ich wildentschlossen.
Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für mich, aber vor allem für Esmeralda.
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