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"Das war zu viel", knurre ich. "Es ist mir egal, was du jetzt sagst - ich fahre jetzt zu deinen Brüdern und kläre das."
"Nein!", entfährt es ihr erschrocken, fast panisch und sie hebt abwehrend die Hände. "Das kannst du nicht machen, Nick, damit machst du alles nur noch schlimmer."
"Doch", gebe ich entschieden zurück. "Es geht so nicht mehr weiter, Esmeralda. Guck dir an wie du aussiehst! Was passiert beim nächsten Mal? Bringen deine Brüder dich dann um, um die Familienehre wiederherzustellen?"
"Es wird kein nächstes Mal geben."
Ich kann fühlen, wie mein Herz in tausend Stücke zerspringt. Ich verstehe ganz genau, was sie mir damit sagen will. Es wird kein nächstes Mal geben, weil es uns nicht mehr gibt.
Wutschäumend blitze ich sie an. "Du kannst einfach mit zu mit kommen, da bist du sicher", fahre ich sie an. Ich habe ihr das so oft schon angeboten, aber manchmal glaube ich, sie will gar nicht, dass sich was in ihrem Leben ändert.
Wieso will sie denn nicht begreifen, dass ich sie wenn nötig mit meinem Leben davor beschützen werde, dass sowas nochmal passiert?
Will sie sich ihr Leben lang ihrer Familie beugen und ihr eigenes Glück hintenanstellen?
Will sie Adonis, ihre Brüder und ihren Vater immer und immer wieder mit ihren Bevormundungen durchkommen lassen, sich unter Druck setzen lassen und sogar mit Gewalt zurück in den für sie vorgesehenen Weg bringen lassen?
Müde lacht Esmeralda. "Nick, wir haben so oft darüber gesprochen. Du verstehst das nicht. Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Du weißt nicht, wie mächtig meine Familie ist und wie einschüchternd die Dynamiken dahinter."
"Vielleicht", gebe ich trotzig zurück. "Aber was ich weiß, ist, dass es so nicht weitergehen kann. Du kannst doch nicht von mir verlangen, dass ich dich jetzt seelenruhig wieder zurück zu diesen Tyrannen lasse und der Gefahr aussetze, dass das Thema noch nicht durch ist."
"Das Thema ist definitiv noch nicht durch. Mein Vater ist in Köln, er kommt erst heute Abend wieder."
"Und du denkst ernsthaft, dass ich dich dann nochmal nachhause gehen lasse?"
"Denkst du ernsthaft, dass es besser für mich wäre, wenn ich gar nicht mehr nachhause komme?", gibt sie aufgebracht zurück.
Wir schaukeln uns immer weiter hoch - in unseren Emotionen, aber auch in der Lautstärke unserer Unterhaltung.
"Wenn ich abhaue, bin nicht nur ich in Gefahr sondern auch du."
"Immer noch besser, als du allein", antworte ich schulterzuckend.
Esmeralda schüttelt enttäuscht den Kopf. "Du sagst mir immer, dass meine Familie nicht über meinen Kopf hinweg für mich entscheiden darf, dabei tust du gerade genau dasselbe."
Sprachlos starre ich sie an. Zu sagen, dass sie einen wunden Punkt getroffen hätte, wäre untertrieben.
"Alles klar. Dann lasse ich das mal lieber, ich will dich ja schließlich nicht deiner eigenen, freien Entscheidungen berauben", gebe ich beleidigt zurück, triefend vor Zynismus und lache ein verächtliches Lachen.
Esmeraldas Gesicht wird noch trauriger. "Das ist gemein. Du weißt genau, dass meine Wunschvorstellung eine andere ist. Du weißt, dass ich dich über alles liebe."
Sie greift nach meiner Hand, doch ich ziehe sie trotzig weg. Tief im Inneren weiß ich, dass sie Recht hat. Sie trifft keine Schuld. Trotzdem bin ich so verletzt, so wütend und vor allem so hilflos, dass ich ihre Nähe nicht ertragen kann. Ich will nicht, dass sie mich anfasst, wenn sie mich gleich doch eh für immer verlässt. Ich will nicht hören, dass sie mich liebt, wenn ich sie nicht mehr lieben darf.
Und gerade habe ich sogar das Gefühl, ich will nicht mehr sein, wenn ich nicht mehr mit ihr sein kann.
Mag sein, dass es meine eigene Schuld ist, weil ich von Anfang an wusste, dass ich mich auf ein Spiel mit dem Feuer einlasse. Ich wusste, dass ich nur verlieren kann, dass wir beide nur verlieren können. Ich habe es all die Monate einfach nur verdrängt, all die roten Flaggen gekonnt ignoriert und mich in die Illusion geflüchtet, dass wir eine reale Chance hätten.
Eine Chance, die wir nie hatten. Das wird mir in diesem Augenblick schmerzlich bewusst.
Doch auch, wenn ich selbst Schuld bin, nimmt mir das den Schmerz meines gebrochenen Herzens kein bisschen. Die gewaltige Wucht, mit der die Realität in mein Schloss aus Seifenblasen kracht und es im Bruchteil einer Sekunde vollends platzen lässt, reißt mir den Boden unter den Füßen weg, nimmt mir die Luft zu atmen.
Der Schmerz in meinem Herzen nimmt mir den Atem, die Worte und zuguterletzt den Rest naiver Hoffnung auf ein Happy End.
"Liebe allein reicht nunmal nicht", gebe ich zurück und beiße mir auf die Zunge. Ich will einfach nur heulen, erbarmungslos und hemmungslos, doch ich gebe mein Bestes, mich zusammenzureißen, solange Esmeralda noch vor mir steht.
"Genau", pflichtet sie mir bei und lässt im Gegensatz zu mir ihre Tränen schamlos laufen.
"Dann sind wir uns ja einig", lache ich abschätzig und vermeide es, ihr nochmal in die Augen zu sehen. "Alles Gute, Esmeralda."
Ohne einen weiteren Blick und ohne ein weiteres Wort drehe ich mich um und lasse sie stehen. Mehr würde ich nicht schaffen ohne zusammenzubrechen.
Sam sitzt am Tisch, vor sich einen dampfend heißen Kaffee. "Hast du schon bestellt?", frage ich ihn mit dem letzten Rest Selbstbeherrschung, den ich auftreiben kann. Er schüttelt den Kopf und sieht mich aus großen Augen an. "Nur den Kaffee."
"Dann lass uns bitte gehen", fordere ich ihn auf. "Ich gehe schon mal vor und warte im Wagen auf dich." Ohne auf seine Antwort zu warten ignoriere ich Erçans irritierten Blick und verlasse den Laden überstürzt.
Ich setze mich in den Wagen, den wir zum Glück nicht in direkter Sichtweise des Restaurants geparkt haben, atme tief durch und kann keine Sekunde länger verhindern, dass ich weinen muss. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen, lasse meinen Kopf gegen die Kopfstütze sinken und heule mir die Seele aus dem Leib.
Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren und weiß nur, dass es auffallend lange dauert, bis Sam endlich zu mir in den Streifenwagen steigt. Beschämt wische ich mir mit beiden Händen über das Gesicht und dann mit dem Ärmel meiner Jacke über die verheulten Augen, bevor ich Sam anschaue.
Bestürzt erwidert er meinen Blick, in seinen eisblauen Augen liegt eine Mischung aus Mitleid und tiefer Beunruhigung.
"Sie hat mich noch abgefangen, als ich gerade bezahlt habe", informiert mein Freund mich zu meiner Überraschung. "Echt? Was hat sie denn gesagt?"
Sam streift sich über den legeren Dreitagebart. "Sie meinte, dass ich aufpassen soll, dass du keine Dummheiten machst. Sie will nicht, dass du dich wegen ihr in Gefahr bringst. Sie weiß, dass du ihr nur helfen willst, aber am besten hilfst du ihr damit, wenn du.." Er stockt.
"Wenn ich was?"
Er atmet tief durch, schließt kurz die Augen. "Sie meinte am meisten hilfst du ihr damit, wenn du einfach versuchst sie zu vergessen."
Ich lache heiser. "Klar. Ich drücke einfach auf den Schalter in meinem Hirn, der Erinnerungen und Emotionen löscht wie so 'ne fucking Delete-Taste."
Sam schweigt.
Ich sehe ihm tief in die Augen. "Ich muss ihr doch helfen, Sam. Ich muss sie da raus holen. Ich muss dahin fahren und Adonis auf die Fresse hauen, so sehr, dass er ihr nie wieder auch nur ein Haar krümmt! Du kannst mir doch nicht sagen, dass du nicht verdammt nochmal dasselbe machen würdest!" Aufgebracht stoße ich die Worte aus und verkrampfe meine Hände um das Lenkrad.
"Nick, vertraust du mir?" Sam sieht mich todernst an, die markanten Gesichtszüge verhärtet, die Stimme fast schon beschwörend ruhig.
"Natürlich vertraue ich dir."
"Dann vertraue mir, wenn ich dir sage, dass ich deinen Wunsch, diesem Affen die Visage zu polieren zu einhundert Prozent verstehe. Aber das hilft ihr wirklich nicht. Wir müssen einen anderen Weg finden."
"Und welchen? Ich habe ihr doch alles vorgeschlagen, sie hat jede Idee abgelehnt. Ich wollte sie mit zu mir nehmen, sie in ein Frauenhaus bringen, ich habe ihr ein Zeugenschutzprogramm vorgeschlagen - nichts davon wollte sie", lasse ich verzweifelt Revue passieren.
"Pass auf. Wir fahren zurück zur Wache und reden mit Wolf. Wir erklären ihm, dass sich die ganze Sache zuspitzt, dass wir ermittelt haben, dass massiver Druck und körperliche Gewalt gegen die ältere Schwester ausgeübt wird und bitten ihn, das Jugendamt einzuschalten und Hilfe für die Kinder zu holen."
"Das Jugendamt war letztens erst bei denen, habe ich dir doch erzählt. Die sind eh schon angezählt."
"Umso besser. Wenn wir sie jetzt auch noch auf die Serafins ansetzen, können sie kein Auge mehr zudrücken."
Nachdenklich nicke ich.
"Lass es uns versuchen. Wir begründen das mit Gefahr für Leib und Leben, Kindeswohlgefährdung, wir fahren die vollen Geschütze auf."
"Sie werden wissen, dass das von mir kommt wegen Esmeralda und genau das wollen wir doch vermeiden", gebe ich zu bedenken.
"Aber nicht, wenn das Jugendamt eh schon da war. Die sollen das als wierholte Kontrolle verkaufen."
"Könnte funktionieren", gebe ich zu, auch wenn ich von dem Plan nicht vollends überzeugt bin. Ich weiß halt nur einfach auch keine gute Alternative.
Ich starte den Motor. "Du lässt mich gleich reden. Du bist emotional zu stark involviert", bestimmt mein Partner mit Nachdruck. Ich nicke und fädele den Wagen in den fließenden Verkehr.
"Weißt du was das Schlimmste ist?", frage ich, merke wie meine Stimme bricht und räuspere mich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Sam den Kopf schüttelt. "Dass ich Schuld daran bin, wie sie Esmeralda zugerichtet haben. Hätte ich mich von Anfang an von ihr ferngehalten, wie du es mir geraten hast, und Louis, und jeder gottverdammte Mensch, der im Gegensatz zu mir mehr als drei Gehirnzellen besitzt, dann wäre es niemals so weit gekommen."
"Sie wollte das doch auch, Nick. Sie kannte das Risiko genauso gut wie du und sie hat sich mit vollem Bewusstsein darauf eingelassen."
"Ich hätte sie schützen müssen."
"Du hast sie immer geschützt, wo du nur konntest."
Energisch schüttele ich den Kopf. "Gestern war ich nicht da um sie zu schützen."
"Dass ihre Familie so krank ist, dass die Brüder ihre eigene Schwester zusammenschlagen, ist nicht deine Schuld, okay? Hör auf, die Schuld bei dir zu suchen. Du hast dich auf sie eingelassen, weil du sie liebst und sie hat das gleiche getan, weil sie dich liebt. Ihr habt nichts falsches getan, ihr habt niemandem geschadet. Ihr wolltet einfach nur zusammen glücklich sein."
"Aber wir hätten es besser wissen müssen."
"Hätte, hätte, Fahrradkette verdammt! Ihr habt euch so krass ineinander verliebt, dass ihr euch eben nicht dagegen wehren konntet. Das Herz will, was das Herz will. Weder Esmeralda noch du hat das geplant. Ihr habt oft versucht, euch dagegen zu wehren, aber am Ende kommt immer zusammen, was zusammen gehört."
"Glaubst du wirklich, dass wir zusammengehören?", frage ich mit heiserer Stimme.
"Nachdem ich euch am Wochenende zusammen gesehen habe, habe ich nicht den geringsten Zweifel daran. Und auch, wenn du gerade das Gefühl hast, dass alles scheiße ist und du vor lauter Dunkelheit keinen Ausweg siehst - sei dir sicher, die Sonne wird irgendwann wieder scheinen. Und zwei Herzen, die zusammen gehören, werden immer wieder zusammenfinden, weil die Liebe die stärkste Macht der Welt ist."
Stumm nicke ich und muss mich zusammenreißen, nicht wieder in Tränen auszubrechen.
Gestern morgen war noch alles perfekt, ich war der glücklichste Mensch der Welt und nur 24 Stunden später liegt meine Welt in Schutt und Asche. Esmeralda und ich müssen uns wieder voneinander fernhalten, weil alles andere sie in ernsthafte Gefahr bringen würde.
In was für einen Alptraum bin ich hier nur geraten? Am liebsten würde ich mit ihr durchbrennen ans andere Ende der Welt, wo uns keiner was kann und wo
wir einfach zusammen sein können.
Nur sie und ich, unsere Liebe und eine ernsthafte Chance.
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