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Esmeralda und ich schlafen bis in den frühen Mittag. Wir kuscheln und knutschen in den Tag hinein, bis wir so scharf aufeinander werden, dass wir noch einen Quickie einlegen, bevor wir gemeinsam Duschen und uns die Sünden der letzten Nacht von den schwitzigen Körpern waschen.
Am Nachmittag bringe ich sie nach einem ausgiebigen Frühstück wie gewohnt zum Bahnhof. Heute fällt es mir besonders schwer, sie wieder gehen zu lassen.
"Ich hoffe, irgendwann hören diese Abschiede auf", nuschele ich in ihr langes Haar und drücke ihren schlanken, in einen kuscheligen, grauen Jogginganzug gehüllten Körper enger an mich. "Wie soll das gehen?", fragt sie grinsend. "Wenn wir zusammen in unserer gemeinsamen Wohnung wohnen, jeden Morgen miteinander aufwachen und abends gemeinsam einschlafen."
"Das wäre schön", antwortet sie und schaut mir verträumt in die Augen. "Ich weiß nicht wann, aber ich werde nicht locker lassen, bis dieser Wunsch sich erfüllt", verspreche ich ihr und sehe ihr tief in die Augen.
Wir küssen uns ein letztes Mal am Gleis bevor Esmeralda in den Regionalexpress steigt und ich schaue ihrem Zug kurz hinterher, wie er aus dem Bahnhof fährt.
Als ich wenig später wieder zuhause bin, mache ich mich an die Beseitigung der Spuren, was deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt, als ich gedacht hätte. Ich habe das Aufräumen und Putzen im verkaterten Zustand heftig unterschätzt. Louis stößt irgendwann zu mir und hilft mir, die leeren Glasflaschen einzusammeln, die Tische zu putzen und den Boden zu wischen.
"Was hältst du von Pizza?", frage ich meinen Bruder, als das Wohnzimmer endlich wieder in einem ansehnlichen Zustand ist. "Die hast du dir verdient", zwinkere ich ihm zu. "Klingt gut", grinst er und pflanzt sich auf die Couch.
Ich öffne die Lieferando-App und bemerke, dass Esmeralda sich noch gar nicht bei mir gemeldet hat. Schnell checke ich WhatsApp, doch ich habe wirklich keine neue Nachricht von ihr. Komisch. Normalerweise meldet sie sich immer bei mir, wenn sie zuhause angekommen ist, damit ich mir keine Sorgen mache. Durch den Großputz ist mir das bis jetzt völlig untergegangen.
"Bist du gut zuhause angekommen, Schatz? 🥰" , tippe ich in mein Handy und versende die Nachricht, doch sie erhält nur einen Haken.
Meine Finger kribbeln. Bestimmt ist nur ihr Akku leer, versuche ich mich selbst zu beruhigen. Sie wird sich sowieso gleich melden und ich mache mich umsonst verrückt.
Ich schließe den Messenger und öffne stattdessen die Lieferdienst-App um mir eine Pizza Diavolo unserer Lieblingspizzeria in den Warenkorb zu packen, bevor ich mein Smartphone an Louis weiterreiche, damit der sich was aussucht.
Wir liegen beide auf der Couch und Louis schaltet einen Action-Film an, doch ich kann mich nicht auf die Handlung konzentrieren. Immer wieder checke ich mein Handy, schalte es aus und wieder an, verbinde das WLAN neu, doch ich bekomme weder eine Antwort noch einen zweiten Haken von Esmeralda. Je mehr Zeit vergeht, desto unruhiger werde ich und desto unwahrscheinlicher wird eine plausible Erklärung wie ein leerer Akku oder ein Funkloch.
Als Polizist weiß ich nur zu gut, was stattdessen alles passiert sein kann. Die schrecklichsten Szenen von einer Vergewaltigung, über eine Entführung bis hin zu einem Serienmörder, der meiner Freundin aufgelauert hat, spielen sich in meinem Kopfkino ab. Ich weiß, wie unwahrscheinlich das alles ist, aber die Angst lässt einen wenig objektiv denken.
Ein Schreckensszenario hingegen ist auch ganz objektiv betrachtet nicht ganz unwahrscheinlich: dass ihre eigene Familie ihr etwas angetan hat. Bei dem Gedanken an einen mutmaßlichen Ehrenmord steigt schlagartig Übelkeit in mir auf. Unruhig rutsche ich auf dem Sofa hin uns her.
"Alter! Hast du Hummeln im Hintern oder was? Was ist los mit dir?' Du bist die ganze Zeit schon so komisch", schnauzt mich Louis irgendwann an.
"Esmeralda hat sich nicht bei mir gemeldet und ich kriege nur einen Haken bei meiner Nachricht. Das sieht ihr gar nicht ähnlich", antworte ich bedrückt.
"Hat sie dich blockiert?", hakt er nach und zieht seine Augenbraue hoch.
"Ich wüsste nicht wieso", gebe ich schulterzuckend zurück. "Hast du sie denn mal angerufen?" Ich schüttele den Kopf. "Mach doch mal. Vielleicht kriegst du dann eine Antwort."
Mit zitternden Fingern wähle ich ihre Nummer. Es tutet nicht mal, die Mailbox geht sofort ran. Ernüchtert schüttele ich den Kopf.
"Gib' mal ihre Nummer", fordert Louis mich auf. Ich schicke meinem Bruder den Kontakt, doch auch bei ihm ertönt sofort die Mailbox. "Ihr Handy ist aus", kommentiert er, was ich längst verstanden habe.
Die Türklingel reißt uns beide aus den Gedanken. Ich bin Louis dankbar dafür, dass er wortlos aufsteht und unsere Essenslieferung entgegenninmt.
Mein Hals ist so zugeschnürt und die Übelkeit so überwältigend, dass auch der köstliche Geruch von geschmolzenem Käse, frischem Teig und Knoblauch nichts daran ändert.
"Lass uns essen, Nick", fordert mein Bruder mich sanft auf, ein Stück seiner großen Thunfischpizza bereits hungrig in der linken Hand. "Iss ruhig, ich kriege gerade nichts runter", gebe ich zurück.
"Es gibt ganz sicher eine einfache Erklärung dafür", versucht er zu beschwichtigen, doch ich winke ab und lache verbittert. "Ich bin Polizist, Louis." Ich gucke ihm direkt in die Haselnussbraunen Augen. "Zu wie viel Prozent glaubst du wirklich an eine einfache Erklärung?", frage ich ihn direkt, ein provokanter Unterton in der Stimme.
Er schweigt, beißt stattdessen in die heiße Pizza, doch das ist Antwort genug für mich. Seufzend raufe ich mir durch mein dickes, blondes Haar.
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, ist, dass die lähmende Angst, die Sorgen und die Verzweiflung über meine Hilflosigkeit noch viel schlimmer werden.
Die Nacht von Sonntag auf Montag ist eine Qual. Ich mache kaum ein Auge zu, und wenn doch, schrecke ich bereits nach kurzer Zeit panisch hoch und kontrolliere mein Handy. Doch nichts passiert. Ich rufe Esmeralda noch mehrmals an, auch anonym, doch kein Lebenszeichen von ihr. Immer nur ihre verdammte Mailbox.
Ich bin völlig erschöpft und übernächtigt, als am nächsten Morgen um 5 Uhr mein Wecker für den Frühdienst klingelt. Es fällt mir wahnsinnig schwer, aufzustehen, doch zeitgleich bin ich dankbar für die Abwechslung. Hier zuhause weitere Stunden tatenlos auszuharren würden mich durchdrehen lassen.
Das dunkelblaue Poloshirt meiner Uniform lässt mich noch blasser aussehen, die lilanen Augenringe sprechen ihre eigene Sprache und die Mühe, meine verwuschelten Haare zu stylen mache ich mir gar nicht erst - es würde ja auch nichts mehr ändern. Der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein.
Dementsprechend überrascht, wenn nicht gar schockiert ist Sams Blick, als er schwungvoll die Bürotür aufreißt und meine erbärmliche Erscheinung entdeckt. Der Ausdruck in seinem Gesicht wird nicht besser, nachdem ich ihm erzählt habe, was mich die ganze Nacht wachgehalten hat.
"Nicht gut, gar nicht gut", antwortet er ehrlich und schaut mich mit ernster Miene an. "Sollen wir auf der Henriettenstraße vorbeifahren?"
"Das checken die doch sofort", entgegne ich.
"Dann saugen wir uns eine Ruhestörung aus den Fingern", kontert er schulterzuckend.
Ich schüttele entschieden den Kopf. "Das wäre die ultima ratio. Wenn ihr Untertauchen wirklich etwas mit ihrer Familie zu tun hat, bringen wir sie damit nur in noch größere Schwierigkeiten."
"Was sollen wir dann machen?"
Wir.
Ein kleines Wort, das in dieser Situation unglaubliches Gewicht hat. Sam lässt mich mit dieser Scheiße nicht alleine, auch nicht, wenn das gegen die Dienstvorschriften ist und auch nicht, obwohl er mich genau vor einer solchen Situation mehrfach gewarnt hat.
Dankbar ringe ich mir ein kleines Lächeln ab. "Ich weiß nur, dass sie eigentlich heute im Restaurant arbeiten muss. Wenn sie sich nicht krankgemeldet hat und wenn sie noch.." Ich schlucke hart. Was ich in dieser Sekunde denke, kann ich nicht aussprechen.
Muss ich zum Glück aber auch nicht. Sam versteht mich auch ohne Worte. Vor allem als Polizist, aber auch als der Freund der er geworden Ist. Nickend antwortet er: "Lass uns gleich bei Erçan frühstücken gehen. Vielleicht haben wir ja Glück."
Wir arbeiten ein paar Aufgaben ab, doch da wir beide nicht bei der Sache sind, entscheiden wir uns einvernehmlich dazu, unsere Pause vorzuziehen und fahren bereits um kurz nach acht nach Marxloh.
Mit Übelkeit im Bauch, rasendem Herzen und schwitzigen Händen betrete ich das Ocakbasi und schaue mich suchend um, doch Esmeralda entdecke ich weder hinter der Theke noch im Gastraum. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und ich beiße mir auf die Zunge, um dem Schmerz irgendwie zu kontern.
"Ich hab so sehr darauf gehofft", flüstere ich mehr zu mir selbst als zu Sam, der sich bereits an einem der vorderen Tische niederlässt, um alles im Blick zu haben.
"Vielleicht", beginnt er, doch eine Bewegung in der Ecke des Raumes zieht meine Aufmerksamkeit auf sich, sodass ich ihm nicht mehr zuhöre. Die Tür vom Lagerraum zur Theke öffnet sich und als ihre grasgrünen Augen meine treffen, verharrt sie in ihrer Bewegung und starrt mich schockiert an. Instinktiv macht sie einen Schritt zurück, doch es ist zu spät. Ich habe sie bereits gesehen.
Sie hat es versucht zu überschminken, doch mein geschultes Auge sieht sofort, dass ihr Jochbein unter der ungewöhnlich dicken Schicht Makeup grün verfärbt ist, während das Lid dunkelrot und blutunterlaufen ist.
Mein Herz rast und ich blinzele in die grelle Deckenlampe um bloß nicht anzufangen zu heulen.
Mit einer zarten Handbewegung winkt sie mich zu sich. Ich blende Sam völlig aus und gehe wortlos auf sie zu, meine Schritte so schwer wie mein Herz.
Sie greift nach meiner Hand und zieht mich mit durch eine weitere Tür in den Hinterhof, wo die Angestellten vermutlich ihre Mittagspause verbringen oder zwischendurch kurz eine Zigarette rauchen.
Ich scanne sie ab, bemerke mehrere Hämatome an ihren Armen sowie Würgemale an ihrem Hals. Mir wird noch übler, falls das überhaupt möglich ist und ich kann nicht mehr verhindern, dass mir Tränen in die Augen schießen.
Ich traue mich nicht zu fragen, was mir auf der Seele brennt, doch Esmeralda beantwortet es mir auch so.
"Adonis hat gecheckt, dass ich nicht bei Kyra geschlafen habe. Er hat sie zufällig an dem Abend in der Stadt getroffen, mich nicht erreicht und eins und eins zusammengezählt. Als ich gestern nachhause gekommen bin, hat er mir mein Handy entrissen und es durchsucht. Er hat unsere Verläufe gefunden, er hat alles gelesen, bildlich untermalt mit unseren vielen Fotos.
Dann hat Adonis mich gepackt und seine ganze Wut an mir entladen. Leonidas hat alles mitbekommen und mich festgehalten, während Adonis mich zusammengeschlagen hat. Erst, als er mich so gewürgt hat, dass ich fast das Bewusstsein verloren habe, hat Leonidas ihn von mir weggezerrt", berichtet sie mit brüchiger Stimme, was meine ganze Welt im Bruchteil einer Sekunde zusammenbrechen lässt.
Es war immer meine größte Angst, dass ich Esmeralda mit unserer Beziehung schade. Genau das war das Letzte, was ich wollte. Ich balle meine Hände zu Fäusten und drehe mich von ihr weg, damit sie nicht sieht, dass mir heiße Tränen aus Wut und Verzweiflung die Wangen hinunterlaufen.
"Er hat mich so beschimpft, Nick", setzt sie nach und ich höre, dass auch sie weint. Ich muss mich regelrecht zwingen sie wieder anzuschauen, so wenig kann ich ertragen, wie verletzt sie ist, körperlich und seelisch.
"Adonis denkt, dass ich ein Spitzel bin, dass ich dir Infos über die Familie und ihre Machenschaften gebe, dabei habe ich das nie getan", rechtfertigt sie sich überflüssigerweise. Ihr wunderschönes, zartes Gesicht ist entstellt, benetzt mit Tränen. Die smaragdgrünen Augen sind leer, jedes Funkeln haben sie verloren.
"Ich habe ihm das auch erklärt, aber er meinte, selbst wenn ich die Familie nicht an die Polizei verpfiffen hätte, hätte ich sie immer noch verraten, indem ich mich entgegen der ausdrücklichen Anweisung der Familie mit dem Feind eingelassen habe. Ich sei eine Schlampe, eine Hure, die für einen Bullen die ganze Familie entehrt habe."
Das Blut rauscht durch meine Adern. Mein Kopf dröhnt, mein Herz rast und ich bin kurz davor, durchzudrehen.
"Das war zu viel", knurre ich. "Es ist mir egal, was du jetzt sagst - ich fahre jetzt zu deinen Brüdern und kläre das."
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