26

Auf dem Weg nach unten habe ich ein mulmiges Gefühl im Bauch. Ich nehme die Treppenstufen extra langsam, eine nach der anderen, um das Gespräch so lange wie möglich herauszuzögern.

Ich habe mir noch keine Gesprächstaktik zurecht gelegt, will meinen Vater aber nicht noch länger auf mich warten lassen. Nach allem was er heute für mich getan hat, empfinde ich das als unhöflich und respektlos. Außerdem währt die Wahrheit sowieso am längsten.

Mein Vater sitzt auf der Couch und hat ein Glas und eine Bierflasche vor sich auf dem Wohnzimmertisch stehen. Sein schlanker Körper steckt noch in einer dunkelgrauen Anzugshose, er hat das Jacket und die Krawatte jedoch abgelegt und sein hellblaues Hemd aufgeknöpft.

"Heute kein Wein?", frage ich und ziehe damit seine Aufmerksamkeit auf mich. "Nein, Mama hatte keine Lust", antwortet er und sieht mit seinem schiefen Grinsen trotz der graumelierten Haare gleich einige Jahre jünger aus.

"Willst du auch ein Bier?", bietet er mir an. Ich überlege kurz. Ich muss heute nicht mehr weg. Eigentlich wollte ich mit Nedim zum Boxen, aber er hat spontan abgesagt und ich war so geschafft von dem Tag, dass ich alleine auch nicht gehen wollte.

"Eins würde ich nehmen", antworte ich daher. Kann ja nicht schaden, meine Nerven ein bisschen zu beruhigen und eine entspannte Atmosphäre zu schaffen.

Ich will mich schon zur Küche wenden, da winkt mein Vater ab und bedeutet mir, mich auf die Couch zu setzen. Er holt mir ein Bierglas, eine Flasche Becks, das Mama immer nur für Louis und mich kauft, und zwei Untersetzer für den Glastisch, damit meine Mutter ihn nicht umbringt.

Ich lasse mich auf die weiche, dunkelbraune Ledercouch in L-Form fallen und nehme meinem Vater dankend die Flasche und das Glas aus der Hand. Ich schütte die goldgelbe Flüssigkeit ein, die so kalt ist, dass das Glas beschlägt.

"Also, mein Junge. Was ist los bei dir?"

Ich greife umständlich in die Hosentasche meiner hellgrauen Jogginghose und ziehe vier glattgebügelte, grüne Hunderter heraus. First things first. "Danke Papa", sage ich und umarme ihn kurz, nachdem ich ihm das Geld gegeben habe.

"Schon gut", antwortet er und legt die Scheine unbeachtet auf den Glastisch. "Erkläre mir lieber den Hintergrund der Aktion."

Ich atme tief durch. "Dann muss ich aber etwas weiter ausholen. Denn dass der Junge mir leid tut und ich ihn mag, wird dir nicht reichen, richtig?"

Mein Vater richtet die schwarze Brille auf seiner Nase und seine hellen Augen funkeln mich belustigt an. "Absolut richtig."

"Gut, ich versuche dir die Wahrheit zu erzählen, ohne zu viel internes zu verraten. Du weißt ja, dass wir an dieser rumänischen Großfamilie dran sind. Die Familie hat acht Kinder vom Grundschulalter bis Anfang zwanzig. Bei unserem ersten Einsatz waren wir in ihrem Haus und ich habe die obere Etage kontrolliert und dort in ihrem Zimmer eine junge Frau angetroffen. Sie war ganz anders, als man es in diesem asozialen Umfeld erwartet hätte. Das Haus war dreckig, Müllberge und Ratten vor der Tür, kaum wer dort, der nicht mehrfach vorbestraft ist und sie mittendrin: klug, höflich, adrett gekleidet, beschämt über meine Anwesenheit und mit Anna Karenina in der Hand."

"Und das war zufällig Esmeralda, nicht wahr?"

"Du bist halt nicht ohne Grund Oberstaatsanwalt", kommentiere ich seine treffsichere Schlussfolgerung schmunzelnd. "Die junge Frau war Esmeralda. Zwischen uns hat schon im ersten Moment die Chemie gestimmt. Ich hatte gleich einen Zugang zu ihr, doch irgendwann ist ihr Vater in das Zimmer geplatzt und sie ist nahezu eingefroren. Aus der offenen, fröhlichen Frau wurde in dem Bruchteil einer Sekunde ein verängstigtes, kleines Mädchen. Und das Verhalten wiederholte sich jedes Mal, wenn ich sie sah. Sobald ihre Familie im Spiel war, war sie ein komplett anderer Mensch.
Einige Tage später wurden wir wegen einer Massenschlägerei zum Hauptbahnhof gerufen, in die einer ihrer Brüder, nennen wir ihn einfach Hades, verwickelt war und der Kleine, Nelu, der mit der Geldstrafe, ist zwischen die Fronten geraten und hat ordentlich was abbekommen. Ich habe gerade mit ihm gesprochen als Esmeralda angerannt kam und vor lauter Sorge um ihren jüngeren Bruder fast weinend vor uns stand.
Während Nelu von den Sanitätern versorgt wurde, habe ich sie beruhigt, mit ihr gesprochen und ihre Hand gehalten. Hades hat das mitbekommen und ist beinahe ausgerastet. Im Nachhinein hat sie wegen der Sache dann auch noch richtig Ärger Zuhause bekommen. Ich habe mir geschworen, mich von ihr fern zu halten, ich habe es mit aller Kraft versucht, aber ich bin ihr immer wieder über den Weg gelaufen, nicht nur beruflich sondern auch privat und sie hat jedes Mal das Gespräch und meine Nähe gesucht.
Das letzte Mal, als ich sie dann in der Disco getroffen habe, ist es so geendet, dass wir die Nacht miteinander im Hotel verbracht haben."

Mein Vater nimmt seufzend die Brille ab und rauft sich durch die kurzen Haare.

"Nicht so wie du denkst", korrigiere ich sofort. "Wir haben die ganze Nacht geredet und sind uns zwar auch näher gekommen, aber ich habe nicht mit ihr geschlafen. Wir haben abgemacht, dass das eine einmalige Sache ist. Wir haben diese eine Nacht, in der wir machen, was wir wollen, heimlich und ohne Konsequenzen, aber danach halten wir uns für immer voneinander fern."

"Und habt ihr euch daran gehalten?"

"Tatsächlich ja, aber als ich ihrem Bruder heute morgen verkünden musste, dass wir ihn da behalten müssen und er die vierzig Tage absitzen muss, habe ich ihm noch die Möglichkeit gegeben, Esmeralda zu informieren. Sie hat so doll geweint, Papa und ich halte das Konzept der Ersatzfreiheitsstrafe für Schwarzfahren sowieso für absolut beschissen", rechtfertige ich mich halbherzig und nehme einen großen Schluck aus meinem Bierglas.

"Ich weiß, dass das falsch ist. Es ist nicht meine Aufgabe, es ist nicht förderlich für meinen Job. Es ist für keinen von uns gut, wenn wir uns nicht voneinander fernhalten, nicht für mich und nicht für sie. Es ist aussichtslos, vergebene Liebesmüh', ich weiß das alles.."

"Aber das Herz will, was das Herz will, hm?" Er sieht mich geradewegs fast mitleidig an.

Zögerlich nicke ich. Ich schaue beschämt auf meine Hände. Wann immer ich mich überwinden kann, über Esmeralda und mich zu sprechen, komme ich mir einfach nur hoffnungslos romantisch und naiv vor. Ich denke dass niemand außenstehendes die Verbindung nachvollziehen kann, die wir beide haben.

"Du warst einfach schon immer furchtbar altruistisch. Schon im Kindergarten hast du auch den frechen Jungen geholfen, die dich mit Sand beschmissen haben, weil du gesagt hast, dass du sonst genauso böse bist wie sie. Und beim Fußball hast du nie ein Tor geschossen, weil du lieber die Bälle verteilt hast, damit jeder eine Chance hat. "Das ist nämlich ein Teamsport, Papa", hast du mir immer erklärt, mit deinen zehn Jahren." Mein Vater hängt kurz seinen Gedanken nach und sein Bild fällt auf einen der silbernen Bilderrahmen an der gekachelten Wohnzimmerwand, in dem ein Foto vom Fotografen hängt. Das Bild zeigt Louis und mich mit sieben und neun Jahren. Wir tragen das gleiche weiße Poloshirt und stehen mit den Rücken zueinander. Mein älterer Bruder hat wie immer ein freches Grinsen im Gesicht und allein diese Momentaufnahme zeigt deutlich, dass ihm der Schalk im Nacken sitzt. Ich hingegen stehe gerade und lächele ganz lieb und schüchtern in die Kamera.

"Du bist ganz anders als Louis", erklärt er nachdenklich. "Du bist besonnener und vernünftiger als er, das ist gut, aber du bist auch oft zu weich. Ich glaube, du könntest dir viel Herzschmerz ersparen, wenn du mehr an dich und weniger an andere denken würdest, Nicki."

Nicki hat er mich vermutlich zuletzt genannt, als ich noch zur Schule gegangen bin. Mir wird ganz warm ums Herz. Oft entsteht der Eindruck, dass unser Vater nicht so eine enge Bindung zu uns hat, dabei ist er einfach nur zurückhaltender im Ausdruck seiner Emotionen. In Momenten wie diesen merkt man aber sehr deutlich, wie sehr wir beide ihm am Herzen liegen und dass wir uns immer zu einhundert Prozent auf ihn verlassen können.

"Louis weiß davon, oder? Ihr habt vor einiger Zeit beim Frühstück über ein Mädchen gesprochen und mir ganz offensichtlich versucht einen Bären aufzubinden, dass es um eine Autofahrerin aus einem Verkehrsunfall geht, aber du bist einfach ein miserabeler Lügner."

"Ich weiß", pflichte ich ihm bei und rolle mit den Augen. Manchmal wäre ich gern abgebrühter. "Ja, Louis habe ich schon ganz am Anfang von Esmeralda erzählt, aber er hält gar nichts von alldem. Als ich an dem Abend aus der Disco abgehauen bin um Zeit mit ihr zu verbringen, war er richtig sauer auf mich. Wenn er von der Sache mit dem Geld erfahren würde, würde er garantiert ausflippen. Aber man kann sich halt nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Kann ja nicht jeder so viel Glück haben wie er mit Anna. Ich wäre auch lieber schon seit Jahren glücklich vergeben anstatt mich in eine Frau zu vergucken, mit der ich auf keiner Ebene auch nur den Hauch einer Chance habe."

Mein Vater legt den Kopf schief und kurz huscht ein Ausdruck von Sorge über sein sonnengebräuntes Gesicht. "Es gibt immer eine Chance, Nick. Ich muss dir nicht erklären, dass es betreutes Wohnen gibt, Frauenhäuser, Zeugenschutzprogramme. Wenn deine Esmeralda es will, gibt es genug Möglichkeiten. Aber ich brauche dir auch nichts vorzumachen; du weißt selbst, wie schwer und steinig jeder dieser Wege ist. Sie müsste alle ihre Werte wie Loyalität und Zusammenhalt verraten, gegen ihre eigene Familie aussagen und mit ihnen brechen. Es gibt nicht viele, die die Kraft und den Mut dazu haben, erstrecht nicht, wenn es um ihre Eltern geht. Es ist ein Urinstinkt von Kindern, das Verhalten ihrer Eltern zu rechtfertigen und sie bedingungslos zu lieben, auch wenn sie sie schlecht behandeln."

Nachdenklich nicke ich. "Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob sie das machen wird. Sie wirkt wahnsinnig eingeschüchtert und ängstlich, wie ich gesagt habe."

"Dann wird das eher nicht passieren. Du kannst nur versuchen, ihr dir Möglichkeiten immer wieder aufzuzeigen und schön zu reden, aber am Ende muss sie diese Entscheidung alleine treffen. Du kannst ihr helfen, aber den Weg muss sie alleine gehen. Und wichtig ist, dass du dich nicht völlig für sie aufopferst. Du musst auch an dich denken. Es ist keinem damit geholfen, wenn du ins Fadenkreuz dieses Verbrecher-Clans gerätst und an den Füßen einbetoniert im Rhein landest. Außerdem hast du immer noch deinen Job, und du hast dich per Eid dazu verpflichtet, das Amt des Polizisten gewissenhaft zu erfüllen. Pass auf, dass du in keinen Gewissenskonflikt gerätst, der dir am Ende das Genick bricht."

Ich will gerade etwas antworten, als die gläserne Hausstür aufgeht und Louis in einem schwarzen Jogginganzug herein kommt. "Was geht denn hier für eine Party?", erkundigt er sich mit Blick auf unsere Biergläser, während er seine weißen Nikes von den Füßen schiebt. Er will gerade in die offene Küche laufen und vermutlich nachschauen, was unsere Mutter gekocht hat, als er innehält und uns mustert. Bedrückte Gesichter, geknickte Stimmung, keine direkte Antwort.

"Oder ist das hier Frusttrinken? Ist was passiert? Papa, wo ist Mama?" Seine Augen weiten sich aufgeregt.

"Nein, nein, mein Junge, alles gut", beruhigt mein Vater ihn sofort. "Nick und ich haben uns nur unterhalten."

Louis' Blick trifft meinen, er durchbohrt mich fast. Ich halte seinem Blick kurz stand, dann atme ich schwer aus und richte mich ein wenig auf. "Ich habe Papa von Esmeralda erzählt."

Ungläubig starrt mich mein Bruder an. "So ernst ist es also?"

"Es gab ein paar Komplikationen und ich brauchte seine Hilfe, also habe ich ihm reinen Wein eingeschenkt."

"Ist dir was passiert, Nick? Haben dir dir was getan?", erkundigt er sich alarmiert und nimmt unbewusst sofort eine Kampfstellung ein. Brust raus, Rücken und Knie durchgedrückt.

"Nein, keine Sorge."

"Und was sagst du dazu, Papa? Das kannst du doch unmöglich gutheißen!" Louis sieht an mir vorbei und fixiert unseren Vater mit seinen hellbraunen Augen.

"Natürlich ist das nicht gerade mein Wunschszenario, in dem ich einen meiner Söhne sehen möchte, aber Nick ist vernünftig und wird schon auf sich aufpassen. Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Vielleicht wendet sich alles zum Guten, vielleicht erledigt sich die Sache auch von selbst. Abwarten. Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht."

Ich kann gar nicht sagen, wer von uns beiden unseren Vater ungläubiger anstarrt. Noch heute Mittag hätte ich niemals mit so viel Rückendeckung seinerseits gerechnet.

"Ich habe einfach kein gutes Gefühl dabei", seufzt mein Bruder und schüttelt den Kopf.

"Ich auch nicht, aber es geht nicht um uns, sondern um Nicks Gefühle und die scheinen eindeutig bei dem Mädchen zu sein. Und schon Oma hat gesagt: Gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top