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"Herr Klingenthal?"

Mein Herz schlägt schneller. Ohne dass sie ihren Namen nennen muss, ist mir sofort klar, wessen glockenhelle Stimme am anderen Ende der Leitung so verführerisch meinen Nachnamen flüstert.

Waren wir nicht bereits beim Du?

"Ja, Esmeralda", erwidere ich leise und meine Stimme überschlägt sich vor lauter Aufregung beinahe. "Wie komme ich denn zu der Ehre?"

Mir ist klar, woher sie die Nummer meines Diensthandys hat, schließlich haben Nelu und ich sie heute Mittag von diesem angerufen, doch ich bin neugierig darauf, wieso sie mich am späten Abend anruft. Es wird doch wohl nichts passiert sein?

"Sind Sie alleine?", hakt sie vorsichtig nach. Sie will wohl auf Nummer sicher gehen, um nicht denselben Fehler wie heute Mittag zu machen.

"Ja, bin ich", antworte ich schnell und die Aufregung in meinem Bauch kribbelt so sehr, dass ich nicht mal weiß, ob das ein gutes oder ein schlechtes Kribbeln ist.

"Gut, ich auch", antwortet sie. "Ich muss dringend mit dir reden, Nick."

Mein Herz setzt einen Schlag aus, bevor es dann wie wild vor meine Brust trommelt. Nach wie vor liebe ich es, wie sie meinen Namen ausspricht, doch ihre Wort machen mich seltsam nervös.

"Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich danke dir von ganzem Herzen, wirklich. Ich werde dir auf ewig dankbar sein und ich bin dir was schuldig. Keine Ahnung, was du getan hast, aber ich weiß, dass ich es dir zu verdanken habe, dass Nelu wieder auf freiem Fuß ist." Sie spricht aufgeregt, ein wenig wirr und ihre Stimme klingt, als hätte sie einen dicken Kloß im Hals.

"Woher weißt du das?", frage ich ohne Umschweife und schalte den laufenden Fernseher stumm.

"Na, ich wusste immerhin ganz sicher, dass entgegen Nelus Informationen nicht ich das Geld bezahlt habe, also habe ich all die Papiere studiert, die er mitgebracht hat: die Aufnahmeunterlagen, die Entlassungspapiere, den Haftbefehl und auch die Aufhebung des Haftbefehls und auf dem letzten Dokument habe ich dann den entscheidenden Hinweis gefunden: Oberstaatsanwalt Klingenthal. Das ist dein Vater, nicht wahr?"

"Genau, das ist mein Vater", gebe ich zu, überrascht über ihre Detektivarbeit.

"Hast du ihm die 400 € in meinem Namen geben?", schlussfolgert Esmeralda treffsicher.

"Ja."

"Danke, Nick, wirklich. Ich werde dir das Geld bis auf den letzten Cent zurück geben, das verspreche ich dir. Ich werde Erçan um ein paar extra Schichten bitten und alles tun, um dir das Geld so schnell wie möglich zurück zu zahlen. Vielleicht kann ich auch-" "Esmeralda", unterbreche ich sie zaghaft. "Ich will das Geld nicht zurück haben. Schau einfach, dass du das Beste aus deinem Leben machst und irgendwie da raus kommst. Und Nelu auch."

"Nein, Nick, das geht nicht. 400 € sind verdammt viel Geld, das kannst du nicht einfach für uns zahlen", beschließt sie.

"Habe ich aber und das war meine freie Entscheidung. Könnte ich das Geld nicht verschmerzen, hätte ich es nicht gemacht. Ich will nicht, dass du dich jetzt unter Druck gesetzt fühlst und dir ein Bein ausreißt für die Kohle. Ich gebe immer von Herzen oder gar nicht, also nimm es einfach als Geschenk an und gut ist."

"Bitte lass mich doch irgendwas tun, um mich zu revanchieren, sonst habe ich ein schlechtes Gewissen", jammert sie.

"Brauchst du wirklich nicht, Esmeralda", wiederhole ich mit Nachdruck. Ein seichtes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, da ich ihren Schmollmund und den Hundeblick, den sie mit Sicherheit gerade aufgesetzt hat, bildlich vor mir sehe. Zu gerne würde ich sie einfach in meine Arme schließen, sie schützend an meine Brust drücken und ihr noch mehr Last von ihren schmalen Schultern nehmen, um sie endlich wieder aus vollem Herzen lachen zu sehen.

"Gibt es denn gar nichts, womit ich dir eine Freude machen kann?", hakt sie erneut nach.

"Geh mit mir essen", rutscht es mir schneller heraus, als ich darüber nachdenken kann.

Stille.

"Das war ein Scherz, Esmeralda", schiebe ich schnell hinterher. "Ich weiß doch, dass das nicht geht, deshalb wollte ich die Situation mit einem Witz ein wenig auflockern. Du bist mir nichts schuldig, es ist alles in Ordnung."

"Doch, doch, wir gehen miteinander essen", antwortet sie entschlossen. "Du musst mir nur versprechen, dass wir irgendwo hin fahren, wo uns niemand aus meiner Familie begegnen kann. Am besten ganz weit weg, damit keiner von uns noch mehr Ärger kriegt."

"Dafür würde ich auch mit dir ans andere Ende der Welt fliegen, aber es war wirklich nur ein Scherz. Du musst das nicht tun, du bist mir nichts schuldig."

"Du weißt genau, dass das damit nichts zu tun hat, Nick. Unsere gemeinsame Nacht im Hotel hat schließlich auch lange vor dem Geld stattgefunden", hält sie entschieden dagegen.

"So habe ich das nicht gemeint", revidiere ich zähneknirschend. Ich wollte ihr bestimmt nicht auf den Schlips treten und sie mit meinen Worten zu einer Prostituierten machen. Ich will nur nicht, dass sie sich aus falscher Verpflichtung auf ein Treffen einlässt, dass ihr Bauchschmerzen bereitet.

"Sei doch froh, dass wir beide endlich einen Vorwand gefunden haben, der rechtfertigt, dass wir unsere Abmachung von der einmaligen Nacht ohne Wiederholung brechen", erklärt sie und ich höre ihr verschmitztes Grinsen durch das Telefon.

Ich lache auf. "Ach Süße", seufze ich leidend. "Ich wünschte einfach, das alles wäre anders. Eine andere Situation, eine andere Zeit, ein anderer Ort. Dass wir uns nicht verstecken müssten, dass wir uns nicht voneinander fernhalten müssten, sondern dass wir uns einfach jederzeit und überall ganz ungeniert treffen könnten."

"Ich weiß", stimmt sie ein. "Ich habe mir nichts anderes in den letzten Wochen jeden Abend vor dem Einschlafen gewünscht. Ich verfluche deinen Job aber vor allem meine Familie dafür, dass sie so entschieden gegen dich, gegen uns sind, obwohl ich am liebsten jede Minute mit dir verbringen würde."

Ein warmes, wohliges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Es schmeichelt mir, dass Esmeralda ihre Zuneigung mir gegenüber so offen zugibt.

"Wie geht es dir denn sonst? Wie ist die Situation Zuhause?"

"Der heutige Tag war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Der Gedanke, dass Nelu nun wirklich in den Jugendknast muss, hat mir das Herz gebrochen. Unseren Vater hingegen hat das alles wieder überhaupt nicht gejuckt. Ich bin mir sicher, dass er die 400 € aus der Portokasse gezahlt hätte oder sie zumindest easy hätte auftreiben können. Aber meine Verwandten sind einstimmig der Meinung "Knast macht Männer" und Nelu würde eine Abhärtung nicht schaden, schließlich ist er eh viel zu weich und zu kindlich. Dass der Junge im Jugendarrest komplett zerbrechen und als psychisches Wrack wiederkommen würde, dafür fehlen denen einfach die Weitsicht und die Empathie. Er ist einfach kein harter, krass erwachsener, abgezockter Mann, er ist ein ganz sensibler, fragiler Mensch. Ich nenne ihn nicht umsonst immer puisor, das heißt sowas wie Küken."

"Kann nicht sein", entfährt es mir ungläubig und ich schüttele den Kopf. "Mein Kollege und ich nennen Nelu auch immer unser Küken."

"Nein?", hakt Esmeralda nach und lacht vergnügt auf. "Verrückt. Aber es passt halt auch wirklich zu ihm." "Ja total", stimme ich in ihr Lachen ein.

"Wir waren uns auch einig, dass Nelu im Jugendvollzug untergehen wird. Er ist ein lieber Junge und völlig harmlos, das habe ich auch meinem Kollegen gesagt, der sich um die Polizeigewahrsamszellen kümmert. Irgendwie hat er einfach einen Stein bei mir im Brett und deshalb hat es mir so widerstrebt, dass er die 40 Tage wegen einer dummen Geldstrafe absitzen muss. Ich sehe ihn da einfach nicht, genau so wenig wie du. Zwischen Schlägern, Vergewaltigern und Intensivstraftätern, die sich alle testosteronverstärkt untereinander behaupten wollen, wäre er nichts als ein gefundenes Opfer. Mein Bruder arbeitet ja als Justizvollzugsbeamter, deshalb weiß ich ganz gut Bescheid, wie es dort abläuft."

"Louis?", erkundigt sie sich interessiert und ich bemerke sofort, dass sie sich seinen Namen gemerkt hat. "Ja genau. Er ist damals in den Strafvollzug gegangen und ich in die Strafverfolgung." "Beides spannend", kommentiert sie. "Und du, was willst du mal machen?"

Sie überlegt einen Moment. "Ich habe natürlich keinen guten Schulabschluss, aber wenn ich mir es ganz frei aussuchen könnte, dann würde ich gerne Rettungssanitäterin werden oder halt wenigstens Krankenschwester."

"Das kann ich mir richtig gut vorstellen. Du solltest das versuchen, zu verwirklichen, es herrscht doch eh Fachkräftemangel. Gute Leute werden händeringend gesucht. Ich habe einen Freund bei der Berufsfeuerwehr in Oberhausen, wenn du magst, können wir mal bei ihm nachfragen, wie die Voraussetzungen für die Ausbildung zur Rettungssanitäterin sind."

Esmeralda und ich kommen von einem Thema zum nächsten und als unsere Telefonverbindung nach zwei Stunden vom Mobilfunkanbieter wie üblich zwangsgetrennt wird, ruft sie gleich wieder an. Stundenlang quatschen wir ganz unbeschwert über alles, was uns in den Sinn kommt: über unsere Schulzeit, unsere Hobbies, meine beiden Hunde und meinen Schichtdienst.

Vermutlich wären uns auch bis tief in die Nacht die Gesprächsthemen nicht ausgegangen, doch es ist mein Vater, der unser Telefonat schlussendlich enden lässt, da er kräftig an meine Zimmertür klopft und nur kurz darauf seinen Kopf durch meine Tür steckt.

"Hey Nick, hast du kurz Zeit für mich? Ich würde gerne mit dir sprechen", erklärt er mit ruhiger Stimme und nickt mir aufmunternd zu. Keine Spur von Wut oder Zorn in seinem Gesicht, auch wenn der Grund, aus dem er ein Gespräch sucht, klar auf der Hand liegt: es geht um den Gefallen, den er mir heute getan hat, die Geldstrafe von Nelu Serafin zu begleichen.

"Na klar. Gibst du mir fünf Minuten? Ich beende nur eben mein Telefonat und komme dann runter zu dir, okay?", bitte ich ihn. Er nickt kurz und zieht dann die Tür wieder hinter sich ins Schloss.

"Ich wurde zum Verhör gebeten", informiere ich Esmeralda. "Der Herr Oberstaatsanwalt hat sich zum Ziel gesetzt, herauszufinden, wieso sein Sohn, der Polizist, einen seiner Kriminellen freikauft. Lange wird es nicht dauern bis er mich geknackt hat, er hat vorhin nämlich schon den Verdacht geäußert, dass die Schwester etwas damit zu tun hat."

"Oh oh. Hoffentlich bekommst du meinetwegen keinen Ärger. Vielleicht können wir ja morgen wieder telefonieren, wenn du magst?", schlägt sie vor. "Sehr gerne, allerdings sollten wir das dann lieber über mein Privathandy machen", entgegne ich und bin schon dabei, ihre Handynummer in mein iPhone zu tippen.

Ich öffne WhatsApp und klicke auf Esmeraldas Nummer. Ihr Profilbild ist wunderschön und raubt mir kurz den Atem. Ihr dunkles Haar liegt ganz glatt über ihre Schultern. Ihr blutjunges Gesicht wirkt weich und glatt, obwohl sie ungeschminkt ist. Lediglich die langen Wimpern sind ein wenig getuscht und die Augenbrauen in Form gekämmt.

Sie ist so wandelbar, sieht bei jedem Treffen und auf jedem Foto anders aus, einzig ihre unverkennbaren grünen Augen strahlen immer auf die selbe Art und Weise, die mich nahezu magisch anzieht.

Ich schicke ihr ein Emoji und entscheide mich für eine Sonnenblume 🌻, wieso auch immer. Es ist das erste Symbol, welches mir ins Auge fällt.

"Ich habe dir bei WhatsApp geschrieben, damit du meine private Nummer hast", informiere ich sie noch, bevor wir uns verabschieden und nach fast vier Stunden unser Telefonat beenden.

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