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Sam läuft mit schnellen Schritten durch das karge Treppenhaus in den Keller und klopft kräftig an die Tür der diensthabenden Kollegen, die für die Überwachung der Gewahrsamszellen zuständig sind.

"Herein", kommt Julians tiefe Stimme aus dem Inneren.

Sam zieht die schwere Tür beinahe mühelos auf und steckt seinen Kopf durch die stählerne Brandschutztür, sodass nur noch sein dunkelhaariger Hinterkopf zu sehen ist.

"Moin Meister", begrüßt er unseren kaum älteren Kollegen grinsend. "Ist der Kleine noch da?"

Ich trete neben Sam, um ebenfalls einen Blick in das Büro werfen zu können. Die Einrichtung des Raumes schreit so laut Behörde, dass Julian und seine Kollegen sich nicht mal bemüht haben, dem Raum mit persönlichen Gegenständen, Zimmerpflanzen oder Dekoration ein bisschen Leben einzuhauchen. Lediglich einer dieser Standardwandkalender, an denen man mittels einer Plastiklasche den aktuellen Tag markieren kann, sowie eine schlichte, silberne Wanduhr hängen an den weißen Wänden des fensterlosen Zimmers. Hinter einem der zwei hellgrauen Schreibtische sitzt unser blonder Kollege in seiner Uniform, von dem anderen grüßt uns ein mittelalter, ranghöherer Beamter mit graumelierten Haaren und einem freundlichen Gesicht durch Zunicken.

"Ich sitze gerade noch an seinem Papierkram. Fünf Minuten, dann kann er abhauen. Wollt ihr ihn schonmal rausholen und mit eurem kleinen Empfangskommittee die frohe Botschaft überbringen?"

Eifrig nicke ich. Julian händigt uns vertrauensvoll einen schweren Schlüsselbund aus, an dem sich Schlüssel für die insgesamt fünfzehn Gewahrsamszellen unserer Wache befinden, gut gekennzeichnet durch bunte, beschriftete Plastikanhänger.

Ich bin tatsächlich ein bisschen aufgeregt, als ich den Schlüssel zuerst ins Schloss stecke und dann den Sicherheitsriegel der Tür öffne.

Nelu sitzt auf der dünnen Schaumstoffmatratze der weiß gekachelten Zelle, in der sich ansonsten nur eine Toilette ohne Deckel und ein Edelstahlwaschbecken befinden. Er wirkt wahnsinnig blass und seine Augen sind rot gerändert. Offensichtlich hat er in den letzten Stunden der Ungewissheit einige verzweifelte Tränen vergossen.

Er hebt nur langsam den Kopf und als er zuerst mich und dann meinen kräftigen Kollegen im Türrahmen erkennt, mustert er uns überrascht.

"Herr Klingenthal?", begrüßt er mich so fragend, als würde das all seine Gedanken zusammenfassen und ihm eine zufriedenstellende Antwort verschaffen. Überrascht nehme ich wahr, dass er sich mittlerweile meinen Namen gemerkt hat.

Ich mache drei Schritte in den bedrückenden, kleinen Raum, in dem der überforderte Jugendliche sitzt und überrascht zwischen Sam und mir hin und her sieht.

"Ja Nelu", antworte ich und schenke ihm ein warmes Lächeln. "Ich habe eine gute Nachricht für dich. Du bist nochmal mit einem blauen Auge davon gekommen. Wir sind hier, um dich wieder nachhause zu schicken."

Die Fragezeichen in seinem Gesicht werden noch größer und er legt den Kopf schief. Seine hellbraunen Augen fixieren mich skeptisch.

"Es sei denn, du willst lieber hier bleiben", scherzt Sam hinter mir, woraufhin Nelu sich aus seiner Schockstarre löst und schnell den Kopf schüttelt. "Nein, nein", protestiert er aufgeregt, wenn auch wie immer mit leiser Stimme.

"Na dann, auf mit dir", fordere ich ihn grinsend auf.

Nelu erhebt sich von dem harten Bett, kommt auf mich zu, hält dann jedoch noch einmal kurz inne. "Wieso muss ich jetzt doch nicht hier bleiben?", fragt er skeptisch und sieht mir direkt in die Augen.

Ich muss hart schlucken. Was soll ich ihm auf diese Frage antworten? Mein Kopf beginnt zu rattern. Ich bin einfach nicht der Typ dafür, Menschen ins Gesicht zu lügen. Trotzdem soll und darf er nicht erfahren, was der wahre Grund für seine schnelle Entlassung ist. Ich kann nicht einschätzen, wie tief er in den kriminellen Machenschaften seiner Familie mit drin hängt, wie hörig er seinen Brüdern und Cousins, seinem Vater und seinen Onkels ist.

Wer weiß, wie viel Druck oder Gewalt die älteren, kräftigeren Männer auf den schmächtigen, unsicheren Jungen ausüben, damit er einknickt oder wie sehr sie ihn manipulieren, damit er ihnen aus falscher Loyalität die Wahrheit sagt, wenn sie ihn nach dem Grund seiner plötzlichen Entlassung und der Aufhebung seiner Haftstrafe fragen würden.

Würde er seiner Familie erzählen, dass ich ihn "frei gekauft" habe, wäre das nicht nur für mich gefährlich, sondern auch für Esmeralda, denn meine großzügige Geste mit ihr und unserer Beziehung in Verbindung zu bringen liegt auf der Hand.

Es ist Sam, der geistesgegenwärtig reagiert und antwortet: "Deine Schwester hat das Geld für dich bezahlt, deshalb kannst du nachhause."

Nelu fällt alles aus dem Gesicht. "Was? Esmeralda? Wie hat sie das denn geschafft? Wo hat sie nun doch so viel Geld her? Sie hat doch gesagt, .."

"Am besten gehst du jetzt schnell nachhause und fragst sie selber, sie kann dir das bestimmt besser beantworten als wir beide", fällt mein blauäugiger Kollege ihm zwinkernd ins Wort. Dann erlischt sein Grinsen jedoch und er sieht den schlacksigen, jungen Mann wieder ernst an. "Ich hoffe, dass wir dich nicht nächste Woche wieder hier sitzen haben. Du bist angezählt mit deinen zahlreichen Vorstrafen, das weißt du genau so gut wie wir und wenn du dir jetzt noch ein oder zwei Aktionen erlaubst, wird dich der nächste Richter ganz bestimmt in den Jugendarrest stecken, ohne dass man das mit Geld regeln kann."

Zustimmend nicke ich. "Ich kann mir vorstellen, dass eure familiäre Situation nicht einfach ist", beginne ich vorsichtig und wähle meine weiteren Worte mit Bedacht, um bloß keine Informationen mit einfließen zu lassen, die Esmeralda mit im Vertrauen verraten hat. "Von deinen Brüdern über deine Cousins, deinen Vater und deinen Onkel sind alle mehrfach vorbestraft und zum Teil auch Hafterfahren, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Sich da zum Außenseiter zu machen und den geraden Weg zu gehen, ist bestimmt nicht einfach, aber du musst wirklich versuchen aus dieser Spirale der Kriminalität auszubrechen. Wenn du mit uns redest, können wir dir auch helfen. Wir haben Mittel und Wege, es gibt Anlaufstellen und mehr Hilfen als du dir vorstellen kannst, ob es bei einem Schulabschluss, einer Berufsausbildung oder auch der finanziellen Unterstützung für eine eigene Wohnung ist. Du bist ein guter Junge, Nelu, davon sind wir beide überzeugt."

Ich werfe Sam einen kurzen Seitenblick zu, der bestätigtend nickt und dem Jungen ein warmes Lächeln schenkt.

"Komm zu uns und rede mit uns. Wir behandeln das alles vertraulich und wir setzen uns für dich ein", schiebt er hinterher und tritt dann zwei Schritte nach hinten. "Jetzt kannst du dir noch deine Sachen abholen, dein Portemonnaie, dein Handy und was du sonst noch dabei hattest und dann kannst du dich Zuhause von dem Schock erholen."

Nelu hat uns während unserer Ansprache ganz still und aufmerksam zugehört und uns aus seinen großen braunen Rehaugen mit einem beschämten Blick angeschaut. Man sieht ihm förmlich an, dass es in ihm arbeitet und ich hoffe inständig, dass unsere Worte fruchten und er sich uns öffnen wird. Natürlich können seine Informationen dann auch für einen großen Schritt Richtung Erfolg unserer kleinen SOKO führen, doch primär geht es mir wirklich um den Jungen persönlich. Er tut mir einfach wahnsinnig leid, genau wie seine Schwester.

Bevor ich mich in den Gedanken an die schöne Frau mit den prägnanten, grünen Augen verlieren kann, löst sich Nelu und tritt aus der Zelle auf den Flur. "Danke Herr Klingenthal und.." Er sieht Sam fragend an. "Stein", hilft der ihm wohlwollend auf die Sprünge. "Danke Herr Stein."

Julian händigt Nelu im Büro seine persönlichen Gegenstände aus und lässt sich abschließend noch diverse Dokumente unterschreiben, bevor wir ihn wieder durch den Flur ins Erdgeschoss begleiten und ihm noch kurz nachschauen, wie er nach einer kurzen Verabschiedung durch die schwere Eingangstür verschwindet, genau so schnell, wie er heute morgen gekommen ist. Den Nervenkrieg, den sowohl er als auch ich in den Stunden dazwischen durchlebt haben, werden wir beide so schnell nicht vergessen.

Sam holt mich aus meinen Gedanken, indem er mir kräftig auf die Schulter schlägt. "Glaub mir, ich hätte an deiner Stelle dasselbe gemacht", erklärt er und nickt mir aufmunternd zu. "Auch wenn das nicht heißt, dass es richtig war", fügt er schelmisch grinsend hinzu. Ich muss ebenfalls grinsen und atme tief durch. "Hoffen wir, dass meine noble Geste keine unbequemen Konsequenzen mit sich zieht. Man kann ja wirklich keinem neuen Kollegen zumuten, mit dir zusammen zu arbeiten", feixe ich.

Sam schüttelt erbost den Kopf, während wir wieder zu unserem Büro laufen. "Da gibt man dir die volle Rückendeckung, weil du im Liebesrausch undercover agierst und unsere Verbrecher freikaufst, und dann kann man sich sowas anhören. Was für eine bodenlose Frechheit."

Ich lache über sein empörtes Gesicht und boxe ihm freundschaftlich auf die Schulter. Er ist wirklich ein feiner Kerl und in der kurzen Zeit, in der wir nun Partner sind, habe ich ihn bereits sehr schätzen gelernt. Ich mag seine große Klappe und dass er einem seine Meinung direkt und ohne umschweifende Floskeln ins Gesicht sagt. Er ist witzig und frech, aber in den wichtigen Momenten ein guter Zuhörer und wahnsinnig loyal. Es ist ein bisschen, als hätten wir uns gesucht und gefunden, denn wir ergänzen uns so gut, dass wir selbst nach unseren langen gemeinsamen Schichten manchmal noch privat etwas gemeinsam unternehmen.

"Nicht mehr lange", informiere ich Sam mit Blick auf die Uhr, während er unsere Bürotür aufschließt. "Kannst es wohl kaum noch erwarten, nachhause zu kommen und Buße zu tun, was?", zieht er mich weiter auf.

"Ich renne gleich erstmal zum Sport, mich abreagieren", antworte ich trocken.

"Reicht langsam. Du siehst schon fast aus wie einer dieser Typen von den GQ-Covern. Da bekommt ja jeder normalsterbliche Mann Komplexe."

Ich mustere ihn kurz, um einzuschätzen, ob er sich nun wieder einen Scherz mit mir erlaubt, doch er scheint es ernst zu meinen.

Prüfend betrachte ich mich in der Fensterscheibe. Sam hat Recht, ich habe in den letzten Monaten wirklich nochmal deutlich an Muskelmasse zugelegt und merke jeden Morgen an meinen Uniformhemden, dass diese an der Brust und den Oberarmen zunehmend spannen.

"Ist einfach meine Art, Stress abzubauen und davon hatte ich in den letzten Wochen mehr als genug", kommentiere ich und strecke mich kurz.

"Ich wünschte, das könnte ich auch von mir behaupten, aber ich bekämpfe Ärger lieber mit Pizza und Burgern", antwortet er und verdreht über sich selbst die Augen.

"Sieht man", kommentiere ich hämisch grinsend. "Du hast echt eine ganz schöne Plauze bekommen."

Sofort sieht er an sich herunter und legt prüfend eine Hand auf seinen Bauch. "So schlimm?"

"Passt schon", antworte ich gönnerhaft. "Louisa scheint es ja nicht zu stören."

Sam wirft mir einen strafenden Blick zu. "Du bist so ein Wixxer", schimpft er, erreicht bei mir damit aber eher das Gegenteil.

Louisa, eine junge Dame, die vor kurzem ein Praktikum bei uns gemacht hat, hat sich anscheinend Hals über Kopf in ihn verliebt und ihm schon mehrere Nachrichten bei Instagram geschrieben. Sam fand das aufgrund ihres jungen Alters allerdings weniger schmeichelhaft, weshalb ich ihn seitdem mit Vergnügen damit aufziehe.

"Immer noch besser, als sich in unser Klientel zu verlieben", schießt er scharf zurück.

Ich schüttele den Kopf, muss aber Schmunzeln. Wer über sich selbst lachen kann, lacht schließlich am Besten.

"Ich starte jetzt in den Feierabend", informiere ich ihn. "Kommst du mit zum Sport oder verbringst du deinen Abend mit Lieferando?"

"Nein, Bruder, ich bin von der alten Schule. Ich rufe an."

Wir lachen beide, bevor wir uns voneinander verabschieden und ich direkt von der Wache aus ins Fitnessstudio fahre.

Nach dem Training, einer ausgiebigen Dusche und einer warmen Mahlzeit lege ich mich schon früh auf mein Bett. Ich bin erschöpft und will ungestört meinen Gedanken nachhängen, während ich mich von einer seichten Fernsehserie berieseln lasse.

Ich zappe gerade durch die zahlreichen Pay-TV-Sender, die andere Hand in einer Tüte Studentenfutter, als plötzlich mein Diensthandy klingelt.

Es dauert einen Moment der Überraschung bis ich alarmiert vom Bett springe und von meiner weißen Kommode das simple, schwarze Smartphone aufhebe.

Dass mein Diensthandy nach Dienstschluss klingelt passiert selten. Es muss schon richtig die Kacke am Dampfen sein, wenn die Kollegen uns in unserer Freizeit kontaktieren.

Ob es einen akuten Notfall bei den Serafins gibt? Wieso sonst sollten die Kollegen mich informieren. Und wer der Bande ist diesmal der Übeltäter?

Die Gedanken schießen wie Blitze durch meinen Kopf, doch als mein Blick auf das blinkende Display fällt, stelle ich überrascht fest, dass ich die Nummer nicht kenne und es keiner meiner Kollegen von der Wache oder die Leitstelle wegen eines Notfalls ist.

Es ist eine private Handynummer, die mir zwar irgendwie bekannt vorkommt, doch die ich nicht zuordnen kann.

Ich zögere kurz und tippe dann auf den grünen Hörer. "Ja?"

"Herr Klingenthal?"

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