21

Der Rest der Woche vergeht monoton und unspannend. Neben meinen Schichten gehe ich zum Frisör, ins Fitnessstudio und zum Boxen. Ich begleite meine Mutter mit den Hunden in den Wald, wann immer ich die Zeit dazu habe und treffe mich an einem Abend mit Louis und unseren Freunden in einer Soccerhalle zum kicken. Ich tue alles dafür, bloß keine Langeweile aufkommen zu lassen, damit ich nicht an Esmeralda denken muss.

Ich habe trotz allem ein paar gute Momente, doch am Montag überschlagen sich dann die Ereignisse.

Ich hätte ahnen können, dass dies wie immer nur die Ruhe vorm Sturm war.

Ich nippe gerade an meinem ersten Kaffee, den Sam mir netterweise aus der geräumigen Büroküche mitgebracht hat, als Wolf unser Büro betritt.

Dem kräftigen Dienststellenleiter stehen die kurzen grauen Haare heute wüst vom Kopf ab und er hat in der Eile, die ihn zu treiben scheint, noch nicht mal geschafft, die schwarze Lesebrille von der Nase zu nehmen, die er für gewöhnlich nur bei der Bildschirmarbeit trägt. Jetzt zieht er sie ab, steckt sie beiläufig in die Brusttasche seines Hemdes und knallt mir ein Schriftstück auf den Schreibtisch.

"Haftbefehl", steht in großen Druckbuchstaben auf dem weißen Papier.

"Der ist gerade von der Staatsanwaltschaft gekommen", erklärt unser Vorgesetzter und steckt die Hände in die Hosentaschen.

"Nelu Serafin, wohnhaft Henriettenstraße 16 in 47169 Duisburg, geboren am 28.11.2004, Staatsangehörigkeit Rumänisch", lese ich weiter. Die Alarmglocken in meinem Kopf schrillen laut.

"Urteil des Amtsgerichts Duisburg." Ich überfliege die Passagen über Gerichtsurteile und Paragraphen nur grob, bis ich zum entscheidenden Punkt komme. "Erzwingungshaft. Offene Geldstrafe 400 €, Höhe Tagessatz 10 €, Tagessätze 40", steht in einer Tabelle neben den Aktenzeichen und anderen Formalitäten. "Da die verhangene Geldstrafe nicht beglichen wurde, wird die Gesamtsumme von 400 € sofort zu 40 Tagen Freiheitsstrafe umgewandelt zu einem Tagessatz von 10 € pro Tag. Da auch die letzte Frist bereits unwirksam verstrichen ist, wird die Rechtssprechung unwiderruflich durchgeführt."

Ich atme tief durch, erhebe mich von meinem Bürostuhl und reiche den Haftbefehl an Sam weiter.

"Unwiderruflich", wiederhole ich und sehe Wolf aus großen Augen an. "Gibt es keine Chance mehr für den Jungen, das abzuwenden?"

Wolf schüttelt energisch den Kopf. "Wenn, dann müsste er das mit der Staatsanwaltschaft klären, indem er die komplette Summe begleicht, das geht jederzeit. Wir haben den Haftbefehl bekommen und müssen vollstrecken. Ich habe im System gesehen, dass ihr den Jungen sowieso für heute Nachmittag vorgeladen habt. Ich würde euch bitten, ihn zu vernehmen und dann ins Polizeigewahrsam zu bringen. Er kann seine Eltern informieren und wird dann morgen in den Jugendvollzug überführt."

Mein Kopf beginnt zu rattern. Es kann doch nicht sein, dass der schmächtige, introvertierte Jugendliche nun wegen läppischen 400€ in den Knast soll.

Adonis hätte eine solche Erziehungsmaßnahme verdient, wenn nicht gar nötig, um ihn wachzurütteln, aber Nelu ist noch ein Kind und er wird an dem Druck und der Isolation zerbrechen, da bin ich mir sicher.

"Okay Chef", antwortet Sam pflichtbewusst und legt den Brief auf seinem Tisch ab, nachdem er ihn ebenfalls überflogen hat.

"Sagt mir Bescheid, wenn ihr ihn runterbringt", verabschiedet Wolf sich und verlässt unser Büro genau so schnell, wie er es vor wenigen Minuten betreten hat.

Das drohende Unheil, welches sich bereits angekündigt hat, ist also tatsächlich eingetreten. Ich hätte bloß nicht erwartet, dass es ausgerechnet Nelu trifft.

"Wofür hat er die Geldstrafe überhaupt bekommen?", frage ich meinen Kollegen, der mit der Zeit auch zu einem Freund für mich geworden ist. "Irgendwie habe ich das im Eifer des Gefechts überlesen."

Sam lacht abschätzig auf. "Schwarzfahren", antwortet er knapp.

Ungläubig schüttele ich den Kopf.

"Er wurde dreimal ohne Ticket erwischt, hat nach dem dritten Mal eine Anzeige bekommen, sich nie dazu geäußert, weder bei den Kollegen eine Aussage gemacht noch vor Gericht und auf die Geldstrafe, zu der er verurteilt wurde, hat er seit über einem Jahr und trotz zahlreichen Bescheiden nicht reagiert."

"Ich finde das nicht richtig", kommentiere ich entschieden. "In den Knast gehören Verbrecher, aber niemand, der kein Geld auftreiben kann. Was soll die Inhaftierung denn in so einem Fall bringen? Schwarzfahren ist falsch, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren, aber das sind keine Leute, vor denen man die Gesellschaft schützen muss. Unser Küken wird da nach anderthalb Monaten raus kommen und ist noch kaputter und krimineller - weil er dreimal kein Ticket gekauft hat."

"Ich halte da auch nichts von, Nick", pflichtet Sam mir bei. "Aber das ist nun mal geltendes Recht und da kann nur die Politik was dran ändern."

"Jugendvollzug. Das ist nix für den Jungen, man. Der ist im Knast einfach nur ein Opfer, der kriegt da keinen Fuß auf den Boden, ich weiß das doch von Louis. Geschichten wie seine erzählt er mir tagtäglich. Diese 40 Tage werden ihn traumatisieren und bei dem liegt eh was im Argen, genauso wie bei Esmeralda, da bin ich mir sicher", rege ich mich weiter auf.

Ich mag mir gar nicht ausdenken, wie die zierliche Frau auf diese Hiobsbotschaft reagieren wird. Sie wird am Boden zerstört sein, wenn sie das erfährt.

Sam nickt. "Ich weiß das doch, aber wir können da nichts dran drehen. Wir hatten dieses Gespräch schon tausendmal. Wir haben denen unsere Hilfe angeboten, alles andere liegt außerhalb unserer Macht."

Den ganzen Vormittag liegt mir die neueste Entwicklung wie ein schwerer Stein im Magen, bis Nelu Serafin mit fünf Minuten Verspätung am Nachmittag den Kopf durch unsere Bürotür steckt.

"Hallo", begrüßt er uns höflich und bleibt unschlüssig im Türrahmen stehen. Sein schlanker Körper steckt in einem weißen Shirt, Jeanshose und Jeansjacke und er verschränkt hilfesuchend die Arme vor der Brust.

"Hallo Nelu, komm doch rein und setze dich", fordere ich ihn freundlich auf und deute auf den Stuhl gegenüber von mir.

Ich fühle mich scheußlich, wie ein Metzger, der ein argloses Lamm zur Schlachtbank führt, schließlich hat er noch keine Ahnung, dass die Befragung gleich für ihn im Keller unserer Wache in einer Arrestzelle enden wird.

Sam schiebt seinen Stuhl herüber und setzt sich seitlich von uns hin, um dem Gespräch ebenfalls beizuwohnen, obgleich er sich in vornehmer Zurückhaltung übt. Er ist der richtige Mann, wenn uns Adonis gegenüber sitzt, doch zu dem sensiblen Nelu habe ich den besseren Draht, weshalb er die Gesprächsführung unausgesprochen mir überlässt.

"Wie geht es dir?", beginne ich das Gespräch locker und öffne unser Computerprogramm, in dem wir Vernehmungen dokumentieren, bevor ich ihn über den hellgrauen Schreibtisch hinweg milde lächelnd anschaue.

"Ganz gut", antwortet er und spielt nervös an einem der Knöpfe seiner dunkelblauen Jeansjacke. Seine haselnussbraunen Augen wandern unruhig zwischen Sam und mir hin und her.

"Sehr schön", antworte ich mit einem dicken Kloß im Hals, wohlwissend, dass  sich das in der nächsten Stunde noch ändern wird. "Also, du bist heute hier, damit wir über die Schlägerei am Hauptbahnhof sprechen können. Ich lese dir einmal vor, was dir vorgeworfen wird und dann kannst du dich dazu äußern, okay?"

Nelu nickt aufmerksam. Er hat sich ordentlich angezogen für unseren heutigen Termin, auch wenn er ungewöhnlich blass aussieht.

Wir gleichen wie so oft in den letzten Wochen seine Personalien mit unserer Datenbank ab und ich belehre ihn darüber, dass er sich mit seinen Aussagen nicht selbst belasten muss.

"Du bist als Beschuldigter vorgeladen im Rahmen eines Körperverletzungsdeliktes, was bedeutet, dass wir einen Anfangsverdacht gegen dich haben und bereits ermitteln. Gleichzeitig bist du aber auch Geschädigter und wir wollen rausbekommen, was genau wirklich deine Rolle bei dem Vorfall war", erkläre ich ihm möglichst kleinschrittig und niederschwellig.

Dann trage ich Nelu vor, was ihm vorgeworfen wird. Mittlerweile haben Sam und ich auch die Aussagen der anderen Partei gelesen, die Jungs, die am Bahnhof und bereits danach auf der Wache von den beiden Kollegen vernommen wurden, die an dem besagten Tag zuerst am Bahnhof waren. Es handelt sich um drei ebenfalls minderjährige Jugendliche, die sie erwischt haben und die sehr schweigsam waren und kaum brauchbare Aussagen zu dem Sachverhalt gemacht haben.

Was wir bisher wissen, ist, dass es wegen einer alten Fehde zu der Auseinandersetzung kam. Die Jungen sind sich an diesem Tag zufällig in der Stadt begegnet und die Situation hat sich rasant hochgeschaukelt bis zur totalen Eskalation. Über den genauen Grund des Streites schweigen sich bisher allerdings alle Beteiligten aus.

"Ich habe auch deinen Arztbrief aus dem Krankenhaus vorliegen", eröffne ich ihm. "Du hast ja echt gut was abgekriegt: zwei geprellte Rippen, Platzwunde, Jochbeinbruch, Gehirnerschütterung. Weißt du, wer dir das angetan hat?"

Nelu schüttelt den Kopf. "Das ging alles so schnell. Ich kenne die Jungen nicht, es waren vier oder fünf. Einen von denen habe ich schonmal gesehen, weil Adonis mit ihm gestritten hat", erzählt er bereitwillig und ich tippe die wichtigsten Informationen nebenbei mit.

"Kennst du den Namen von dem Jungen?"

"Nein. Ich glaube der heißt Florin oder Florentin oder so."

"Ist er auch Rumäne?", hake ich nach. Nelu nickt bestätigend.

Er ist relativ gesprächig und wie immer nett und höflich. Er erzählt bereitwillig, was er über die Angreifer weiß, auch wenn das nicht wirklich viel ist.

Wie wir bereits vermutet haben, hat Nelu mit dem Streit an sich nichts zu tun gehabt. Er war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort und hat den Hass der gegnerischen Gruppe auf Adonis am eigenen Leib mit voller Brutalität zu spüren bekommen.

Ich lese ihm am Ende alles nochmal vor, was ich mitgeschrieben habe, drucke seine Aussage aus und lasse sie mir von ihm unterschreiben.

"Okay, dann wäre es das fürs Erste", verkünde ich und stecke den Kugelschreiber zurück in meinen Stiftebecher. Nelu will schon aufstehen, da halte ich ihn mit einer winkenden Handbewegung davon ab.

"Wir haben da allerdings noch ein anderes Problem", beginne ich schweren Herzens. Ich wende meinen Blick kurz Sam zu, der schweigend auf seinem Bürostuhl sitzt, sich nun ein wenig aufrichtet und mir ein aufmunterndes Nicken schenkt. Er weiß, wie viel mir an dem Jungen liegt und wie schwer mir das fällt, was jetzt folgt.

"Nelu, du wurdest letztes Jahr mehrfach beim Schwarzfahren erwischt, stimmt das?"

Er nickt beschämt und senkt seinen Blick. "Du hast nach dem dritten Mal eine Anzeige und eine Geldstrafe bekommen, wieso hast du die nicht bezahlt?"

"Ich hatte das Geld nicht", nuschelt er. "Ich musste schon jedes Mal die 60€ Strafe zahlen."

Verstehend nicke ich und mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Aus meiner Ablage nehme ich den Haftbefehl in die Hand und halte kurz inne, sammele mich, bevor ich weiter rede.

"Wenn man die Geldstrafe nicht bezahlt und die Briefe nicht beantwortet, dann bekommt man eine Ersatzfreiheitsstrafe." Ich reiche ihm schweren Herzens das Schreiben.

"Deine Strafe beträgt 400 €, 40 Tagessätze a 10 €", erkläre ich, was er nun schwarz auf weiß vor sich liegen hat. "Das bedeutet, dass du 40 Tage in Haft musst."

Dem schmächtigen Jugendlichen weicht nun auch der letzte Rest Farbe aus seinem eh schon bleichen Gesicht. Wortlos schüttelt er den Kopf.

"Weil du nie auf die Briefe reagiert hast und den mehrfachen Aufforderungen zur Zahlung nicht nachgekommen bist, hat die Staatsanwaltschaft jetzt einen Haftbefehl gegen dich erlassen. Wir haben heute morgen Bescheid bekommen."

"Und das bedeutet?", fragt er so leise, dass ich die Worte eher an seinen schmalen Lippen ablesen, als dass ich sie hören kann.

Ich schlucke schwer. Wieder suche ich Sams Blick und bin ihm dankbar dafür, dass er seine forsche und direkte Art in den passenden Momenten wie diesem völlig zurückfahren kann und mich in meinem Tempo verfahren lässt. Mittlerweile sieht auch der große, stämmige Mann mit den schwarzen Haaren und den eisblauen Augen reichlich zerknirscht aus.

"Das bedeutet, dass wir dich nun leider festnehmen müssen."

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