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Am Mittwoch wissen wir nicht mehr, was wir noch an Recherche- oder Schreibtischarbeit verrichten sollen, so ruhig ist es um unsere liebste Großfamilie geworden. Kuno vermutet, dass die Serafins die verstärkte Polizeipräsenz und den Fokus auf sich bemerkt haben und sich deshalb aktuell etwas zurücknehmen, um wieder ungestört unter dem polizeilichen Radar fliegen zu können.
Wir fürchten schon langsam um unseren Job und unsere nette, kleine Soko, da kommt endlich wieder Bewegung in die ganze Sache.
Sam und ich sind in unserer Mittagspause zu Burger King gefahren und entschließen uns kurzerhand mit einem Pappbecher voll Cola in der einen und einem fettigen Bacon King Burger in der anderen Hand dazu, auf dem Rückweg nicht gleich zurück auf die Autobahn, sondern einen Schlenker durch Marxloh zu fahren.
"Vielleicht sehen wir ja endlich mal was, was uns ein bisschen auf Trab bringt. Selbst wenn es nicht Familie Serafin ist, sondern ein schnöder Banküberfall oder wenigstens eine klitzekleine Massenschlägerei. Ich fühle mich langsam wie ein fucking Bürokaufmann", meckert Sam vom Beifahrersitz aus, während ich die lange BMW-Limousine vom Parkplatz in Richtung Hauptstraße lenke, welche gesäumt ist von kleinen, türkischen und arabischen Supermärkten und Restaurants und bekannt für die zahlreichen Brautmodenläden, wegen der Menschen aus aller Welt sich in die Ruhrpottstadt verirren, die sonst ausnahmslos in negativen Schlagzeilen einen Namen hat.
Wir stehen gerade an einer kleinen Ampel, um von einer Seitenstraße, in der das Fastfood-Restaurant liegt, links blinkend auf die Weseler Straße zu fahren, als auf eben jener ein paar hundert Meter entfernt eine relativ neue, schwarze Mercedes Benz C-Klasse Limousine hält. Aus den Boxen des Wagens dröhnen durch die heruntergelassenen Fenster orientalische Klänge und dichter Zigarettenqualm dringt in weißen Schwaden nach draußen.
Irritiert starre ich durch die Frontscheibe in das Auto und kann nicht glauben, wer dort am Steuer sitzt. Sam, der meinen Blick zu bemerken scheint, jammert: "Du willst jetzt aber nicht so 'nen Poser-Spacken hochnehmen, oder? So verzweifelt bin ich nun wirklich nicht."
Ich schüttele den Kopf, lasse den Wagen langsam anrollen, den Blick weiterhin zielgerichtet in den dunklen Mercedes. "Mach mal eine Halterabfrage", weise ich Sam an. "DU - S - 222. Entweder sind unsere Serafin-Jungs jetzt auch unter die Autoknacker gegangen oder die haben sich bei Papi bedient, aber das hinter dem Steuer ist Adonis und der ist definitiv nicht volljährig, kann also gar keinen Lappen haben."
"It's Showtime, Baby." Sam lacht laut und schadenfroh, bevor er sich zufrieden die Hände reibt, das Funkgerät schnappt und herein spricht: "Die 2/17 an die 015." "Hier 015. Ich höre." "Wir haben eine 226 wegen.. ehm 034. 104 ist Duisburg, also Dora - Ulrich - Samuel - zwo zwo zwo."
Wir alle mussten lange genug Funkcodes und Polizeiabkürzungen büffeln, als dass ich aus dem Effeff verstehe, was Sam gerade durchgibt: Er fragt die Dienststelle nach der Überprüfung eines Kraftfahrzeuges wegen Verkehrsbehinderung als offiziellem Grund und buchstabiert seinem Gesprächspartner in einwandfreiem Buchstabieralphabet das Kennzeichen der dunklen Limousine.
Zeitgleich bin ich mehr oder minder behindernd in Schrittgeschwindigkeit über die Kreuzung gefahren, dann allerdings rechts statt wie geplant und angezeigt links abgebogen und ein paar Meter weiter auf die bunt leuchtende Tankstelle gefahren. Sam lässt die Mercedes Limousine nicht aus dem Blick, während ich mich primär auf mein Fahrmanöver konzentriere.
Kurz darauf knackt es erneut in der Leitung. "015 an 2/17. Halter ist ein Corneliu Serafin." "Alles klar, danke", antwortet Sam erneut und nickt mir wissend zu.
"Immerhin kein richtiger Diebstahl", kommentiert er anerkennend.
Nun haben auch die Jungs links von uns auf der Hauptverkehrsstraße endlich grün und unser liebster Namensvetter des Gottes für Schönheit und Vegetation, sowohl in der römischen als auch in der griechischen Mythologie, setzt den Mittelklassewagen selbstbewusst in Bewegung, als hätte er nie was anderes getan. Als er an der Tankstelle vorbeifährt, an der wir etwas versteckt gewartet haben, trete ich aufs Gaspedal, biege auf die Straße und setze mich zügig genau vor ihn. Ich betätige eben jenen der zahlreichen Knöpfe, der "Polizei, bitte folgen" in roten Leuchtbuchstaben auf unserem Dach aufflimmern lässt, während Sam noch immer schadenfroh grinsend mit der Kelle aus dem Fenster winkt.
Glücklicherweise leistet Adonis unserer Anweisung zügig Folge und fährt umgehend auf den Parkstreifen ohne, dass wir uns eine hitzige Verfolgungsjagd mit ihm durch die engen Duisburger Gassen liefern müssen.
Sam und ich schnallen uns ab, mein Kollege steckt sich noch ein Pfefferminzkaugummi in den Mund und wir steigen aus dem Wagen.
Ich trete an die Fahrerseite, deren Fensterscheibe nun komplett heruntergelassen ist. "Guten Abend, die Herren", sage ich betont freundlich und werfe einen Blick auf den Beifahrersitz, auf dem kein Geringerer als Nelu sitzt, der bei Sam und mir den Spitznamen "Küken" weghat. Auch wenn es noch einen jüngeren Bruder in der Familie gibt, wirkt Nelu mit seinem weichen Gesicht und seiner zurückhaltenden, unsicheren Art, die ihn von seinen Brüdern und Cousins erheblich abgrenzt, deutlich jünger. Nicht zuletzt deshalb ist er auch der Serafin, der bei mir persönlich den größten Stein im Brett hat.
"Nabend", gibt Adonis mürrisch zurück und blickt mir starr in die Augen. Seine Haare sind fest nach hinten gegelt, sein schmächtiger Körper steckt in einem gemusterten Versace Trainingsanzug, der noch verbotener aussieht als das letzte Exemplar aus dem vermeintlichen Hause Gucci. Weißes Vollpolyester, schwarze Elemente, goldene Applikationen. Über die ganze rechte Brust ist goldgelb-glänzend ein Medusakopf - das Logo der Luxusmarke - gedruckt, über Ärmel und Hosenbeine gehen plakative Zierstreifen mit Ornamenten. Ich glaube bei diesem Ensemble müsste Versace nicht wegen der Herstellung und dem Verkauf von Plagiaten klagen, sondern eher wegen Rufschädigung.
"Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte", bringe ich freundlich mein Anliegen hervor. "Und einmal den Motor abstellen."
Adonis dreht den Schlüssel um und das brummende Motorengeräusch der Limousine verstummt. So großkotzig er bei unserem ersten Aufeinandertreffen auch war, umso kleinlauter ist er heute.
"Habsch nicht", nuschelt er leise, während im Hintergrund weiterhin Klänge von Flöten und Trommeln ausländischer Musik aus dem Autoradio plärren.
"Bitte?", hake ich nach, als hätte ich ihn nicht verstanden. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mir keinen Spaß macht, den selbstverliebten, überheblichen Jugendlichen ein wenig auflaufen zu lassen. Nicht zuletzt eine kleine Retourkutsche meinerseits, weil er letztens so herrisch und respektlos mit Esmeralda gesprochen hat.
"Ich hab keinen Führerschein, man", wiederholt er nun laut und deutlich und wischt sich mit der linken Hand über das Gesicht.
"Bitte einmal alle aussteigen", weist Sam die Jungen von der anderen Seite an und zückt seinen kleinen Block und einen Stift.
Über das Dach des schwarzen Autos hinweg sieht er Adonis mit festem Blick in die Augen, der seinem Befehl als Erstes folgt. "Klappt das friedlich oder müssen wir Verstärkung anfordern?"
Ich beiße mir schnell auf die Unterlippe, um ein Grinsen zu unterdrücken. Sam könnte die Nummer hier problemlos auch alleine durchziehen, schließlich sind Nelu und Adonis halb so groß und halb so schwer wie er und außerdem uns gegenüber bisher immer friedlich geblieben und sollten auf der Rückbank nicht Connor McGregor und Mike Tyson hocken, sollten ein oder zwei Personen mehr das Machtgefälle trotz Unterzahl unsererseits auch nicht ändern.
"Ne, klappt friedlich", antwortet er nickend und umrundet vor mir den Wagen, um auf dem schmalen Bürgersteig zum Stehen zu kommen. Nelu wirkt wie immer außerordentlich ruhig und passiv. Die Blessuren der Auseinandersetzung letzter Woche kann man ihm noch immer ansehen. Esmeralda hat mir erzählt, dass er tatsächlich einen Jochbeinbruch und zwei geprellte Rippen hatte. Der Cut, der über seiner Augenbraue war und sein Gesicht so enorm voll geblutet hat, wurde mit zwei oder drei Stichen genäht und die frische, wulstige Narbe glänzt hellrosa, die Haut um sein linkes Auge ist noch immer leicht gelb-grünlich verfärbt.
Aus den Hintertüren des Wagens steigen zwei weitere Jungen, die schätzungsweise ebenfalls sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein müssten.
"Wir brauchen von euch allen ein Ausweisdokument", verkünde ich bestimmt. "Personalausweis oder Reisepass."
"Oder halt einen Führerschein", kommentiert Sam trocken und zwinkert Adonis zu.
Nelus und Adonis' Personalien kennen wir beinahe auswendig, weshalb wir uns ihre Dokumente eher aus Prinzip zeigen lassen. Der dritte junge Mann mit schmal gezupften Augenbrauen, dauergewelltem Deckhaar, einer grauen Jogginghose und einem Paris Saint Germain Trikot ist ein ebenfalls in der Henriettenstraße 16 wohnender Cousin der Jungen namens Leonidas, dem wir bisher nur auf dem Papier begegnet sind.
Die Nummer vier im Bunde hat mittelbraunes Haar zum Undercut geschnitten, einen goldenen Ohrring am linken Ohrläppchen und einen schmalen Oberlippenbart. Seine Augen sind honigbraun und er trägt Jeans und einen Sweater mit großflächigen Louis Vuitton Monogrammen. "Viorel Razvăn Mitriță", schreibt Sam seinen Namen in leserlichen Großbuchstaben von seinem rumänischen Pass ab.
"Wieso seid ihr mit dem Auto unterwegs, obwohl keiner von euch einen Führerschein hat? Und wem gehört die Karre überhaupt? Habt ihr die geklaut?", stichelt Sam und seine himmelblauen Augen funkeln provokant. Dass wir längst wissen, dass der Wagen Corneliu Serafin gehört, wissen die Jungs ja nicht. Er scheint an dem spontanen Einsatz mindestens die gleiche diebische Freude zu haben wie ich.
"Der Wagen gehört meinem Vater", rückt Adonis nach kurzem Zögern mit der Sprache raus. "Wir sind nicht weit gefahren, wir wollten von Zuhause nur kurz zur Tankstelle, wirklich", beteuert er.
"Abgesehen davon, dass du an der Tankstelle vorbeigefahren bist - egal wie kurz oder lang die Strecke ist, du hast keinen Führerschein, also darfst du keinen PKW im Straßenverkehr führen", belehre ich ihn. "Fahren ohne Fahrerlaubnis ist ein erheblicher und gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr und gibt 'ne Anzeige."
"Junge, du kannst es aber auch nicht lassen, oder?", fährt Sam ihn genervt an. "Du hast auch noch diese Sache mit der Schlägerei offen. Bist du so scharf auf den Jugendknast oder was?"
"Ne", stößt Adonis wütend aus und schüttelt energisch den Kopf. Er hat keinen Bock darauf, sich ausgerechnet von uns belehren zu lassen, das steht ihm in sein grimmiges Gesicht geschrieben.
"Wieso machst du dann so 'ne Scheiße?"
"Ja, keine Ahnung", antwortet er genervt und tritt frustriert vor das dicke schwarze Gummi des Autoreifens.
"Wir müssen euren Vater anrufen. Der muss euch abholen und den Wagen auch, deshalb schlage ich vor, dass wir uns den Umweg mit der Beschlagnahmung des Autos sparen, genauso wie euch mit auf die Wache zu nehmen, und euren Vater stattdessen auf dem kurzen Dienstweg zur Übergabe hierhin bestellen, in Ordnung?", schlage ich nach kurzem Austausch mit Sam vor. Ein legaler Weg, uns unnötige Arbeit mit noch mehr verhasstem Schreibkram zu ersparen.
Nelu und Adonis nicken schweigsam.
"Gib mir mal seine Nummer", weise ich Nelu wie schon beim letzten Mal an und spiele kurz mit dem Gedanken die Nummer gleich einzuspeichern, während Sam Adonis fragt: "Weiß er denn, dass du den Wagen hast oder fällt er gleich aus allen Wolken, wenn meine Kollege ihn anruft?"
"Keine Ahnung, hab ihn jedenfalls nicht gefragt", gibt er zu und zieht eine rot weiße Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche.
"Jugendschutzgesetz, Rauchverbot für Minderjährige", erinnert Sam ihn mit hochgezogener Augenbraue und nimmt ihm die Pappschachtel energisch aus der Hand, bevor er eine Kippe herausnehmen kann.
Ich tippe die Handynummer ein, die Nelu mir auf seinem gerissenen Display unter die Nase hält. "Ich rufe euren Dad jetzt an."
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