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Esmeralda versteift sich neben mir, doch ich drücke beruhigend ihre Hand, bevor ich vom Bett aufstehe. "Das wird das Essen sein."

Zielstrebig öffne ich die Zimmertür und nehme ein silbernes Tablett mit einer großen Pizza entgegen. Mir steigt der herrliche Duft von frischem Teig, Knoblauch und geschmolzenem Käse in die Nase. Nach all dem Alkohol, den ich an diesem Abend fast wahllos ich mich reingeschüttet habe, wird mir diese fettige Mahlzeit gut tun.

"Hast du heute Abend eigentlich auch Alkohol getrunken?", frage ich Esmeralda und lege mich mit dem Tablett wieder neben sie. Hier im Hotel, wo die Bettwäsche morgen sowieso wieder gewechselt, gewaschen und gemangelt wird, kann man den Luxus genießen und im Bett essen.

"Ein wenig", gibt sie zu und grinst schief.

"Trinkst du öfter?", frage ich weiter. Ich versuche all die kleinen Puzzlestücke von Esmeraldas Charakter nach und nach zu einem großen Ganzen zusammenzubringen.

"Manchmal am Wochenende, wenn ich weggehe. Aber ich muss immer aufpassen, dass mich keiner meiner Brüder erwischt oder jemand, der mich bei ihnen verpetzt", erklärt sie, verdreht ihre schönen Augen genervt und nimmt selbstsicher ein Stück Pizza vom Teller. Der Käse zieht lange Fäden und Esmeralda beißt herzhaft hinein.

Es gefällt mir, dass sie sich nicht ziert oder vor mir geniert. Sie taut immer mehr auf, wird lockerer und ihre Augen leuchten wie Sterne.

Immer wieder muss ich mich zusammenreißen, sie nicht zu penetrant anzustarren, aber es fällt mir wirklich schwer. Sie ist ungelogen die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe.

"Wie ist das eigentlich mit deinen vielen  Brüdern? Mit Adonis kommst du nicht so gut klar und Nelu scheint dir besonders am Herzen zu liegen, aber was ist mit den anderen?", erkundige ich mich und nehme mir nun auch ein Stück der Käsepizza.

Esmeralda überlegt kurz, wobei sich ihre hohe Stirn in Falten legt. Sie trinkt einen Schluck Cola und sieht mir dann direkt in die Augen.

"Mit Adonis komme ich nicht besonders gut klar, das habe ich dir ja schon erzählt. Wir sind acht Kinder, drei Mädchen und fünf Jungs, allerdings sind Stella und Aurelia noch kleine Kinder, demnach bin ich so gut wie alleine mit fünf Brüdern: Adonis, Casian, Nelu, Corvin und Ilarion." Sie stockt kurz und mustert mich aufmerksam, ihr Gesichtsausdruck ist unergründlich.

"Du weißt das alles schon, nicht wahr?", fragt sie offen und beißt unsicher auf ihrer Unterlippe herum.

Ich atme tief durch. "Natürlich weiß ich, wer deine Geschwister sind", gebe ich zu. "Aber ich möchte gerne wissen, wie es dir mit ihnen geht - nicht als Polizist, sondern als Nick. Aber wenn du nicht darüber reden willst,-", beginne ich, doch Esmeralda fällt mir ins Wort: "Schon gut", sagt sie und legt ihre Hand an meine Wange. Sanft streicht sie von meinem Ohr meinen Kiefer entlang und schenkt mir ein liebliches Lächeln.

Ich schließe für eine Millisekunde die Augen und genieße das Gefühl, dass Esmeraldas Zuneigung in mir auslöst, das wohlig warme Kribbeln in meiner Magengrube, wenn sie mir ein Lächeln schenkt oder einen tiefen Blick aus ihren smaragdgrünen Augen.

"Nelu ist ein guter Junge, er ist halt mein kleiner Bruder. Er liegt mir sehr am Herzen, das stimmt. Wir sind eng zusammen aufgewachsen und ich fühle mich für ihn verantwortlich. Aber er ist halt sehr naiv und.."

Wieder einmal hält sie inne und scheint mit sich zu hadern. Mehr und mehr kriege ich das Gefühl, dass sie sich mir gerne offenbaren würde, aber Gewissensbisse hat. So schlecht ihre Familie vermutlich zu ihr ist, ist es immer noch ihre Familie und diese zu verraten widerstrebt schlichtweg den Urinstinkten jedes Menschen.

Ich stelle den großen, weißen Pizzateller auf den Nachttisch und nehme bestimmt ihre kleinen Hände in meine. Ihre Haut ist babyweich und ich streichele sie zaghaft mit meinem Daumen. Esmeralda blinzelt sanft mit den Augen und scheint für einen Augenblick die Luft anzuhalten.

Ich knie vor ihr auf dem Bett und drücke ihre Hände leicht. "Lass uns das Thema wechseln, okay? Ich will nicht, dass du dich unwohl fühlst. Ich möchte dich kennenlernen, aber ich verstehe absolut, wenn die Situation für dich weird ist. Vielleicht kann ich dir stattdessen was über mich erzählen?", schlage ich ihr vor. Ich will sie in keine Zwickmühle bringen, ich möchte nur eine gute Zeit mit ihr haben.

Esmeralda entspannt sich merklich und schenkt mir ein Lächeln. "Danke", antwortet sie und streichelt nun ihrerseits mit ihrem rechten Daumen über meinen Handrücken. Meine Haut kribbelt, dort wo sie mich berührt und ein Ziehen durchfährt meinen Bauch.

"Hast du nur den einen Bruder?", fragt Esmeralda interessiert und richtet sich ein wenig auf.

"Genau, ich habe nur einen älteren Bruder. Hast du ihn vorhin in der Disco gesehen?"

"Ja, als ihr euch verabschiedet habt. Er sieht dir verdammt ähnlich", erinnert sie sich.

"Stimmt. Wobei er wohl sagen würde, dass er deutlich besser aussieht", lache ich und kann Louis' selbstgefälliges Grinsen lebhaft vor meinem inneren Auge sehen.

"Da muss ich ganz klar widersprechen", entgegnet Esmeralda entschieden und zwinkert mir zu. Wieder durchfährt ein wohliges Kribbeln meinen ganzen Körper.

Unser Augenkontakt ist intensiv, mir wird warm und mein Herz klopft immer schneller. Ich habe das Gefühl, dass die Luft zwischen uns schon knistert, als wir plötzlich von einem lauten, schrillen Klingelton unterbrochen werden.

Hektisch angelt Esmeralda nach ihrer kleinen Handtasche, die sie achtlos auf den Boden neben das Bett gelegt hat, und zieht ihr iPhone heraus.

Sie wirft mir einen entschuldigenden Seitenblick zu. "Ich muss da kurz rangehen", informiert sie mich und nimmt den Anruf an. "Casian", leuchtet hektisch auf ihrem Display auf.

"Esmeralda, unde ești?", höre ich eine helle Männerstimme lautstark aus dem Lautsprecher dröhnen. Schnell drückt Esmeralda die Lautstärke leiser.

"Ich bin bei Delia. Ich habe Papa doch gesagt, dass ich heute bei ihr schlafe", antwortet sie und spielt nervös an dem schmalen Silberring, der ihren Ringfinger ziert.

Ich nutze den Moment, um leise im Badezimmer zu verschwinden. Ich will ihr nicht das Gefühl geben, dass ich sie belausche.

So sehr ich ihre Nähe genieße, so anstrengend ist der Drahtseilakt, sie kennenlernen zu wollen, aber ihr gleichzeitig nicht das Gefühl zu geben, dass ich sie aus beruflichen Gründen ausquetsche.

Wohlwollend betrachte ich mich in dem breiten Spiegel über dem Waschbecken. Das bunt gestreifte Karl Kani Shirt in rot, blau und gelb schmeichelt meiner gebräunten Haut. Auf meinen muskulösen Armen sieht man vermehrt feine Härchen, die von der Sonne ausgeblichen wurden. Mein dunkelblondes Haar liegt noch immer perfekt frisiert und meine braunen Augen strahlen mehr denn je. Selbst meine Wangen sind leicht gerötet, so aufregend ist die ganze Situation für mich.

Ich habe generell wenig Erfahrung mit Frauen, aber so angezogen wie Esmeralda hat mich keine bisher.

Ich gehe auf die Toilette, wasche mir die Hände und benetze mein Gesicht mit kaltem Wasser, bevor ich zurück ins Hotelzimmer trete. Esmeralda hat den Anruf mittlerweile beendet und sich noch ein Stück Pizza genommen, in welches sie genüsslich beißt, als ich mich wieder neben sie setze.

"Alles okay?", frage ich und lege ihr zögerlich meine Hand auf den Oberschenkel. Ich habe das dringende Bedürfnis, sie immer zu berühren, will allerdings auch nicht aufdringlich oder gar übergriffig sein.

"Ja, alles gut. Casian wollte nur wissen, wo ich bin, weil er keinen Schlüssel dabei hat. Ich konnte ihm aber eine glaubhafte Geschichte verkaufen", erklärt sie, zwinkert mir zu und legt ihre kleine Hand auf meine.

Sie dreht ihren Oberkörper zu mir und legt den Kopf ein wenig schief. Ihr schwarzes Kleid hat keinen tiefen Ausschnitt, aber einen, der ihre kleine Oberweite perfekt in Szene setzt. Sie riecht dezent nach Vanille und Sandelholz und mein Atem wird schwerer.

Esmeraldas Blick in meine Augen intensiviert sich und sie legt ihre Hand liebevoll auf meine. Mein Herz klopft aufgeregt gegen meine Brust. Ich nehme all meinen Mut zusammen, streiche Esmeralda eine Haarsträhne aus dem Gesicht, lege meine Hand erst an ihre Wange, lasse sie dann in ihren Nacken gleiten und ziehe die wunderschöne Frau leicht an mich.

Millimeter für Millimeter, wie in Zeitlupe, nähert mein Gesicht sich dem ihren. Mein Herz schlägt so heftig und das Blut rauscht durch meine Adern, dass ich mir sicher bin, dass sie es hören können muss.

Es ist schließlich Esmeralda, die die letzte Distanz zwischen uns überwindet und ihre vollen, kirschroten Lippen liebevoll auf meine presst. Ich traue mich nicht zu atmen oder mich auch nur minimal zu bewegen, aus Angst, dass dieser einzigartige Moment zu schnell endet.

Esmeralda küsst mich und die Welt um mich herum bleibt für einen Augenblick stehen.

Vorsichtig öffne ich meinen Mund und lasse meine Zunge in ihren Mund gleiten. Esmeraldas Lippen schmecken nach süßen Früchten und Minze und nach Erfüllung.

Was würde ich nur dafür geben, sie jeden Tag so küssen zu können..

Meine Hände wandern über ihren Oberkörper, während sie ihre schlanken Finger in meinen vollen, dunkelblonden Haaren vergräbt und sie lächelt in den Kuss herein.

Es fällt mir schwer, mich irgendwann von ihr zu lösen.

"Wow", entfährt ihr leise. "Das war wohl der schönste Kuss, den ich je bekommen habe", sagt sie verträumt und mit glänzenden Augen.

"Das kann ich nur zurückgeben", antworte ich und himmele sie mit meinen Blicken an.

Wenn es bis dato nicht schon zu spät war, ist das der Moment, in dem ich mich in Esmeralda verliebt habe.

Wir schlafen in dieser Nacht nicht eine Sekunde, viel zu kostbar ist die wenige, endliche Zeit, die wir miteinander haben.

Wir liegen in dem weichen Hotelbett, reden über Gott und die Welt und lachen viel und herzlich miteinander. Auch wenn unsere Unterhaltungen am Anfang holprig und steif waren, können wir beide unsere Unsicherheit mit der Zeit ablegen und schaffen es uns besser kennenzulernen, indem wir alles ihre Familie betreffende größtenteils meiden.

Immer wieder versinken wir auch in sehnsüchtigen Küssen. Es sind intime, herzerwärmende Momente von subtiler Erotik, auch wenn wir über Knutschen und sanftes Streicheln nicht herausgehen.

Je mehr Zeit vergeht, desto klarer wird uns beiden, dass unsere Zeit bald enden wird, auch wenn keiner von uns dies wagt auszusprechen. Die symbolische Sanduhr, deren feiner Sand immer weiter rinnt und die Zeit, die gegen uns rennt, hängen uns permanent im Nacken.

Wir haben uns versprochen, dass wir uns voneinander fernhalten, sobald die Sonne aufgeht.

Mit jeder Minute die vergeht, weiß ich, was für eine Herausforderung das für mich wird.

Solange ich in meinem Alltag bin und sie nicht sehen muss, wird es schon schwer genug, doch was für eine Qual wird es erst, wenn ich ihr durch meinen Job wieder begegne?

Wie soll ich es schaffen mich von ihr fernzuhalten, wenn sie irgendwann plötzlich und überraschend vor mir steht, mich aus ihren großen grünen Augen anschaut und mir mit ihren vollen Lippen ein hinreißendes Lächeln schenkt, wie gerade in diesem Augenblick.

"Worüber denkst du nach?", fragt sie unverblümt und legt den Kopf schräg wie ein kleiner Welpe.

Bei ihrem Anblick schleicht sich ein Schmunzeln auf meine Lippen.

"Ich habe darüber nachgedacht, wie es wohl sein wird, wenn wir das nächste Mal aufeinandertreffen", gebe ich zu und lasse meinen Blick an ihr vorbeischweifen.

"Auf jeden Fall nicht so schön wie in den letzten Stunden", wispert sie schweren Herzens und schlingt ihre Arme um meinen Bauch.

"Ist auch schwer zu toppen", antworte ich und versuche die Stimmung damit aufzulockern. "Fakt ist, wir werden uns sehen und es wird mir schwerfallen, das hier dann nicht zu tun." Zärtlich drücke ich meine Lippen auf die ihren, schmiege mich an sie und lasse meine Finger durch ihre langen, dunkelbraunen Haare gleiten.

Vielleicht zum allerletzten Mal.

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