12

Mein Herz klopft aufgeregt gegen meine Brust, als ich hinter Sam durch die weit aufschwingende Glastür trete. Sofort steigt mir der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee, gebratenem Sucuk und Rührei in die Nase und mein Magen meldet sich prompt mit einem leisen Grummeln.

"Sam, Nick, guten Morgen", ruft Erçan uns freudig entgegen. "Guten Morgen", begrüßen wir den Restaurantinhaber wie aus einem Mund. "Frühstück?", fragt er wissend. Ich nicke ihm zu. "Setzt euch hin, ich mache euch was fertig", erwidert er wiederum und deutet auf die Tische im hinteren Bereich des Ladens.

Bemüht unauffällig sehe ich mich einmal im Laden um während ich den Raum durchquere, doch außer Erçan und einem anderen jungen Mann ist noch niemand hier.

"Sie schläft bestimmt noch", verkündet Sam grinsend und fängt meinen Blick ab. Ertappt lasse ich mich an einem der dunklen Holztische nieder.

"Also, was hast du am Wochenende geplant?", wechsele ich das Thema. Ich habe ihn zwar vorhin schon gefragt, aber wir sind irgendwie vom Thema abgekommen.

"Ich gehe morgen mit ein paar Jungs Bike fahren", antwortet er zufrieden.

"Ich wollte auch schon länger meinen Motorradführerschein machen", kommentiere ich frustriert.

"Aber?", hakt Sam nach.

"Keine Ahnung, hab's einfach nie in Angriff genommen."

"Solltest du schnellstmöglich tun. Ist einfach das geilste Gefühl der Welt, wenn du mit 160 Sachen Richtung Sonnenuntergang fährst, gute Musik auf den Ohren und der Wind peitscht um deinen Körper. So frei fühle ich mich nur auf meiner Maschine, sonst nie."

"Hast du eine Rennmaschine oder einen Chopper?", erkundige ich mich neugierig, während Erçan uns zwei dampfend heiße Tassen Kaffee auf den Tisch stellt.

"Einen Chopper, eine Harley-Davidson Fat Boy. Ich stehe eher auf gemütliches Fahren statt auf kopfloses Rasen. Was bringt es mir mit einer Kawasaki Ninja mit über 300 km/h über die Autobahn zu brettern? Ich will ja auch ein bisschen was von der Umgebung sehen, wenn ich fahre und nicht nur konturlose Dinge an mir vorbeischießen sehen."

"Ich bin ja so ein Adrenalin-Junkie, ich stelle mir das schon auch ziemlich gut vor", gebe ich grinsend zu. "Aber ich denke das muss man für sich selbst ausprobieren. Erstmal müsste ich mich eh dazu überwinden den Lappen zu machen."

"Wir machen einen Deal", schlägt Sam vor und lässt mich damit hellhörig werden. "Wenn du bis Ende des Jahres deinen Motorradführerschein hast, machen wir zusammen einen Wochenendtrip und alles geht auf meinen Nacken."

"Das sind doch nur noch drei oder vier Monate", protestiere ich.

"Nur?", fragt er lachend. "Ich habe meinen Motorradführerschein in acht Wochen gemacht. Mein Kollege Khalid, mit dem ich immer fahre, hat sogar nur sechs Wochen gebraucht. Es gibt mittlerweile Intensivkurse, die es dir ermöglichen, den Lappen innerhalb von ein bis zwei Wochen zu machen."

Fordernd hält Sam mir die Hand hin. Ich zögere einen Moment, schlage dann jedoch ein. Ich habe schließlich nichts zu verlieren und ein neues Projekt bringt mich vielleicht auf andere Gedanken.

Nach dem Essen fahren wir wirklich noch einmal durch die Henriettenstraße, entdecken aber weder Esmeralda noch ein anderes Familienmitglied des Serafin-Clans. An der Hauptstraße fährt Sam rechts ran, ich halte mit hektisch aufblinkender Warnblinkanlage neben ihm und lasse das Beifahrerfenster runter.

"Ich wünsche dir ein schönes Wochenende. Fahr vorsichtig und genieße die freie Zeit", rufe ich ihm zum Abschied rüber.

"Das wünsche ich dir auch. Und lass dich ruhig mal von irgendeiner Aushilfs-Beyoncé abschleppen", grinst er mit Anspielung auf die bevorstehende Hip-Hop Party.

Ich winke ab und rufe: "Wahrscheinlich!" Dann lasse ich Sam grinsend zurück und fahre nachhause.

...

Am Samstagmorgen frühstücke ich ausgiebig gemeinsam mit meinen Eltern und Louis. Letzterer ist zwar noch zuhause, muss aber gleich zur Arbeit.

"Morgen hast du frei, oder?", frage ich Louis und beiße in mein Brötchen.

"Jo, Gott sei Dank", erwidert er kauend. "Im Moment ist es echt wieder schlimm bei uns. Je dunkler die Tage werden, desto mieser sind die alle drauf."

Ich nicke verstehend. "Hast du Bock heute Abend mit auf so 'ne Hip-Hop Party zu kommen?", frage ich ihn. Louis rührt in seinen Kaffee und sieht mich fragend an. "Bist du krank?"

"Nedim hat mich überredet", erkläre ich. "Wo ist denn die Party?" "Im Pulp." "Dieses Schloss da in Duisburg?" "Ja, genau." "Joa, wieso nicht. Anna macht eh 'nen Mädelsabend mit ihren Freundinnen."

"Korrekt", antworte ich und freue mich wirklich darüber. Da wir beide im Schichtdienst arbeiten, haben wir mittlerweile im Gegenteil zu früher wenig Gelegenheiten etwas zusammen zu unternehmen. Louis und ich haben wirklich ein gutes freundschaftliches Verhältnis und haben als Jugendliche den Großteil unserer Freizeit gemeinsam verbracht, da wir auch dieselben Interessen teilen.

"Eva, gehen wir auch mit?", fragt mein Vater und zwinkert meiner Mutter zu.

"Nein, lass uns lieber den kinderfreien Abend genießen", antwortet sie grinsend und greift plakativ nach seiner Hand.

"Oh mein Gott", stöhnt Louis leidend. "Macht sowas nie wieder!"

"Wieso denn? Wir lieben uns nun mal, oder was denkst du, wie ihr entstanden seid?", gibt unsere Mutter lachend zurück und treibt ihre Provokation damit auf die Spitze.

Louis hält sich demonstrativ die Ohren zu, was nun auch mich zum Lachen bringt. "Das ist echt unangenehm", pflichte ich meinem älteren Bruder bei.

"Hörst du das, Paul? Wir sind unseren Söhnen unangenehm", schimpft sie nun theatralisch.

"Nur manchmal", beschwichtige ich sie.

"Na und? Ihr wart uns auch öfter mal unangenehm", entgegnet unser Vater schulterzuckend.

"Wann das denn?", frage ich entsetzt. Ich würde eigentlich behaupten, dass wir immer verhältnismäßig leicht zu handeln waren.

"Zum Beispiel damals als ich dich sturzbetrunken bei Clara abholen musste, weil du in den Gartenteich ihrer Eltern gekotzt hast", antwortet mein Vater wie aus der Pistole geschossen.

Beschämt schlage ich mir die Hände vors Gesicht. Diesen Abend habe ich schon komplett aus meiner Erinnerung verbannt.

Clara war die erste meiner zwei Freundinnen. Wir waren gute vier Monate zusammen als ich siebzehn war und haben uns getrennt, weil sie sich in einen anderen Typen verliebt hat. Danach hatte ich wirklich fiesen Liebeskummer und war mir ziemlich sicher, niemals über sie hinweg zu kommen.

Bin ich natürlich doch, aber diese Beziehung hat böse Nachwirkungen bei mir hinterlassen. Bis heute fällt es mir schwer zu vertrauen, vor allem wenn es um die Beziehungsebene geht und ich bin nicht nur relativ unerfahren, sondern auch total verunsichert.

Die Erfahrungen, die ich mit Mädchen oder Frauen gemacht habe, waren allesamt nicht besonders positiv.

Ich bin schüchtern und nicht gut im flirten, weshalb ich per se schon wenig Frauen kennenlerne, und wenn ich dann doch mal mit einer anbandle, wird mir meine vorsichtige und zurückhaltende Art oft als Nachteil angekreidet.

Gerade wenn die Frauen mich noch nicht so gut kennen, legen sie mir mein Verhalten als uninteressiert oder langweilig aus und verlieren schnell das Interesse an mir.

Mittlerweile bin ich an einem Punkt angelangt, wo ich mich auf den Sport und meine Karriere konzentriere und die Suche nach einer Partnerin in den Hintergrund gerückt ist.

Wenn sich was ergibt, freue ich mich darüber, aber ich suche auch nicht mehr aktiv danach. Tinder habe ich noch nie benutzt, One-Night-Stands liegen mir fern und flirten ist wie gesagt eh nicht mein Ding.

"Ja, Nick war schon immer der Schlimmere von uns beiden", verkündet mein großer Bruder grinsend.

"Wir wissen alle, dass das eine Lüge ist, Louis", verteidigt meine Mutter mich lachend.

"Ich habe nie eine Hausparty geschmissen während Mama und Papa auf einem Wochenendtrip waren, bei der das halbe Wohnzimmer zerlegt und alles entwendet wurde, was nicht niet- und nagelfest war", stichele ich zurück.

"Übertreib doch nicht!", gibt Louis entrüstet zurück. "Das halbe Wohnzimmer zerlegt", wiederholt er mich. "Da ist eine Vase zu Bruch gegangen."

"Eine chinesische Bodenvase aus dem 19. Jahrhundert, ein Erbstück von Oma Elfriede", korrigiert Mama ihn mit säuerlichem Gesichtsausdruck. Sie scheint ihm den Verlust des geschichtsträchtigen Porzellanstückes noch immer nicht ganz verziehen zu haben.

"Und dass unser dreitausend Euro teures Ölgemälde mit Penissen aus Edding verziert wurde, hast du wohl auch schon vergessen", wirft mein Vater ein.

"Oder verdrängt", gebe ich schadenfroh grinsend meinen Senf dazu.

Louis rauft sich grinsend durch die Haare. "Na gut, vielleicht war ich doch der Schlimmere", räumt er ein.

"Alles in allem hat sich das aber in Grenzen gehalten. Bis auf ein paar Ausrutscher wart ihr immer anständige, pflichtbewusste und strebsame Jungen", nimmt unsere Mutter uns in Schutz, läuft mit ihrem leeren Teller in der Hand um den Esstisch und drückt erst mir und dann Louis einen Kuss auf die Wange.

"Das stimmt. Wir sind wirklich sehr stolz auf euch", stimmt unser Vater ihr zu und nickt zufrieden. Dass er auch stolz auf Mama und sich ist, dass sie uns zu halbwegs wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft gemacht haben, steht ihm in plakativen Großbuchstaben ins Gesicht geschrieben.

...

Ich fahre am Vormittag mit Nedim ins Fitnessstudio und starte danach einen erneuten Versuch mit meinem besten Freund ein Oberteil für heute Abend in der Stadt zu besorgen. Wir fahren ins Forum, ein Shoppingcenter im Herzen der Duisburger Innenstadt, und ich trete nach einigem erfolglosen Suchen mit einem dunkelblauen Poloshirt von Nike aus der Umkleidekabine eines Footlocker-Stores und werfe Nedim einen fragenden Blick zu.

"Joa, ist ganz nett, aber sieht ehrlich gesagt aus wie deine Uniform", erklärt er grinsend. "Außerdem ist ein Poloshirt vielleicht nicht ganz das richtige für den Anlass."

"Mh", erwidere ich unzufrieden. Das Shirt gefällt mir, aber Nedim hat schon Recht mit seinen Bedenken. Als zweites ziehe ich ein bunt gestreiftes Shirt von Karl Kani an. "Viel besser", kommentiert Nedim meine Auswahl zufrieden und auch ich fühle mich wohl. Die bunten Farben sind zwar relativ exotisch für meine Verhältnisse, doch sie schmeicheln meiner gebräunten Haut.

Ich kaufe das Shirt und statte danach auf dem Rückweg meinem Friseur einen Besuch ab. Nedim und ich lassen uns Haare und Bart schneiden und gehen danach getrennter Wege, um den Nachmittag rumzubringen und uns zuhause in Ruhe fertig zu machen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top