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Ich finde irgendwann doch noch in den langersehnten Schlaf und wache erst am späten Nachmittag wieder auf. Ich esse was und fahre dann für zwei Stunden ins Fitnessstudio bevor ich zuhause duschen gehe und mich für die nächste anstehende Nachtschicht vorbereite.

Als ich gerade dabei bin meine Haare zu föhnen, klingelt mein Handy.

"Ja?", begrüße ich Nedim kurz angebunden. "Jo Nick, was geht?", antwortet er. "Mache mich gerade fertig, hab doch diese Woche Nachtschicht", antworte ich und stelle das Handy auf Lautsprecher. Ich lege es auf die weiße Kommode und nehme mit meinem Finger etwas Haarwachs aus der blauen runden Dose.

"Aber am Wochenende hast du frei oder?", fragt er auffällig. "Was hast du vor?", erwidere ich grinsend und verteile das Wachs in meinen kurzen dunkelblonden Haaren. Ich höre ihm an, dass er auf etwas hinauswill.

"Also da ist so 'ne Party im Pulp..", beginnt er euphorisch. Wusste ich's doch. "So 'ne Hip-Hop Party und ich habe echt Bock da hin zu gehen. Willst du nicht mitkommen?"

"Wann denn?", hake ich nach. "Samstag", gibt er zurück. "Joa, können wir machen", entscheide ich spontan. "Wow. Ich dachte, das wird schwieriger", lacht mein bester Freund. "Ich muss unbedingt den Kopf frei kriegen, da kann das nicht schaden", denke ich laut.

Ich bin, wie Nedims Worte schon vermuten lassen, nicht unbedingt ein Partygänger. Private Feiern sind okay, aber Discos, und erstrecht die bescheidene Auswahl im näheren Umkreis, sind nicht so mein Fall. Ich habe einfach eine Aversion gegen volltrunkene Menschen, die sich ab einem gewissen Pegel nicht mehr zu benehmen wissen. Als Erwachsener sollte man doch eigentlich seine Grenzen kennen. Leider fällt es mir dann immer ziemlich schwer als Privatperson nicht wieder in den Dienstmodus zu verfallen, zumal der Polizeidienst nicht unbedingt nach Feierabend endet.

Es ist gesetzlich festgelegt, dass Beamte des Polizeidienstes grundsätzlich "Straftaten zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen haben, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten."

Das Legalitätsprinzip, nach dem die Polizei grundsätzlich ermitteln muss, wenn sie Kenntnis von einer Straftat erlangt, gilt nicht nur während der Arbeitszeit und zu Beginn meiner Karriere hatte ich wirklich Probleme damit, den schmalen Grat zwischen unangenehmer kleinkarierter Petze und Arbeitsverweigerung zu finden.

"Wieso, was beschäftigt dich? Fällt es dir immer noch schwer dich einzuarbeiten?", erkundigt Nedim sich aufmerksam.

"Jein. Ich muss dir das mal in Ruhe erzählen", weise ich ihn ab. Ich bin gerade dabei mir Esmeralda aus dem Kopf zu schlagen, da ist es nicht besonders förderlich, jetzt nochmal die ganze Geschichte mit ihr wieder aufzurollen.

"Okay", antwortet Nedim. "Wer kommt denn noch alles mit am Samstag?", wechsele ich wieder das Thema. "Melvin wollte mitkommen und ich wollte Luan noch fragen", erklärt er. Melvin und Luan sind ebenfalls Freunde von uns aus Schulzeiten. "Frag doch Louis ob er auch mitkommt", schlägt Nedim vor. "Ich frage ihn mal", antworte ich. "Fährst du?", frage ich grinsend. "Nein, aber ich zahle das Taxi, okay?", antwortet er lachend. "Ist ja auch das Mindeste", scherze ich.

"Stimmt. Okay, dann wünsche ich dir eine ruhige Schicht, Bruder", verabschiedet sich Nedim.

Ich laufe in Boxershorts in mein Zimmer und stehe vor dem Schrank mit meinen Uniformen. Neben ziemlich ähnlichen Hosen habe ich kurz- und langärmlige Hemden, ein Poloshirt, zwei Pullover, diverse Sakkos und Jacken, Krawatten und unterschiedliche Westen.

Ich entscheide mich für eine der dunkelblauen Hosen, das hellblaue Poloshirt und einen dunkelblauen Parka mit vielen aufgesetzten Taschen.

Die Nachtschicht vergeht schnell, es gibt so viel zu tun, dass Sam und ich zwei Einsätze fahren, um die Kollegen der Streife zu unterstützen. Am nächsten Morgen schlafe ich schnell ein, noch bevor der Rest meiner Familie sich für die Arbeit fertigmacht, sodass ich die drei komplett verpasse.

Nachmittags treffe ich mich mit Melvin, einem jungen Afroamerikaner mit wilden Locken und Milchkaffeefarbener Haut. Wir fahren gemeinsam mit seinem schicken 3er BMW ins Centro, dem größten Einkaufszentrum der Region, da ich mir ein paar neue Klamotten kaufen will.

Erstmal gehen wir in der Oase was essen und schlendern dann durch die Einkaufspassagen. Ich kaufe ein Paar Nikes, zwei Hoodies, eine Yankees Cap und eine zerrissene Jeans von Diesel. Eigentlich wollte ich mir noch ein Oberteil für Samstag holen, aber ich habe nichts gefunden, was mir gefallen hat.

"Weißt du, was wir beide machen?", fragt Sam, als ich just in time in unser Büro stürme. Irritiert starre ich ihn an. Der Verkehr auf der A40 war absolut schrecklich, sodass ich mich total abhetzen musste um noch pünktlich zu kommen. Ich bin so im Stress, dass ich ihm gerade nicht folgen kann.

"Wir gehen gleich schön frühstücken nach unserer letzten Nachtschicht vor dem freien Wochenende", schlägt er grinsend vor. "Vielleicht ist deine Püppi ja auch wieder da."

Ich schmeiße meine Jacke auf den Bürostuhl und werfe ihm einen nachdenklichen Blick zu. "Keine Ahnung, ob das so 'ne gute Idee ist."

"Hast du schlechte Laune?", fragt Sam aufmerksam und rutscht mit seinem Drehstuhl ein Stück zu mir rüber.

"Nein, nicht wirklich. Dieses ganze Esmeralda-Thema raubt mir einfach nur den letzten Nerv. Alle sagen mir immer: "Fahr da nicht hin, du siehst sie eh oft genug und kannst sie im Auge behalten", aber seit dem Vorfall am Bahnhof habe ich sie nicht mehr gesehen und langsam mache ich mir wirklich Gedanken, ob ihr etwas zugestoßen ist", gebe ich zu und setze mich hin.

"Kann ich verstehen", erwidert Sam und schmeißt seinen Kugelschreiber auf den Tisch. "Wir gehen gleich bei Erçan frühstücken und vielleicht ist sie ja wirklich da. Wenn nicht, können wir ja mal ganz unauffällig über die Henriettenstraße fahren und die Augen offenhalten", schlägt er vor und zwinkert mir grinsend zu. "Ist ja schließlich unsere Aufgabe, die Serafins im Auge zu behalten."

"Ganz unauffällig mit einem fünf Meter langen Streifenwagen", erwidere ich und muss lachen. "Du bist wirklich ein unverbesserlicher Optimist."

"Und du bist viel zu unentspannt. Du kannst die Situation doch gerade nicht ändern, wieso zerbricht du dir so den Kopf? Damit hilfst du ihr auch nicht."

"Ich weiß das doch", fahre ich ihn genervt an und schmeiße die Hände in die Luft. Sam zieht eine Augenbraue hoch. "Sorry", räume ich ein, schließe kurz die Augen und atme tief durch. "Ich kann das nun mal nicht abstellen, ich bin einfach so. Eigentlich habe ich da auf der Arbeit kein Problem mit..", beginne ich, doch Sam fällt mir ins Wort. "Aber bei ihr ist das anders."

Entschieden nicke ich. "Habe ich doch verstanden, alles cool. Du brauchst dich vor mir nicht zu rechtfertigen."

"Ich komme mir einfach nur selbst schon vor wie ein Depp", seufze ich.

"Liebe macht uns alle zu Deppen", erwidert er schulterzuckend.

"Es ist aber keine Liebe, ich kenne sie ja nicht mal", gebe ich zu Bedenken.

"Vielleicht Liebe auf den ersten Blick?", erwidert er.

"Du hast doch selbst gesagt, dass das zu nichts führt", wiederhole ich seine Worte.

"Das denke ich auch immer noch, aber seit wann trifft das Herz denn vernünftige Entscheidungen?"

Wir lassen diese Aussage beide so im Raum stehen und ich schalte meinen Rechner an.

"Den Einsatzbericht hast du schon geschrieben, oder?", frage ich Sam, während ich mich durch unseren Ordner klicke. "Ja, direkt danach, aber wir müssen die beiden Pappenheimer noch vorladen." "Ist der Kleine denn schon wieder aus dem Krankenhaus?", hake ich nach. "Keine Ahnung, aber wenn wir den für nächste Woche vorladen, müsste das passen. Ansonsten laden wir ihn halt nochmal, und wenn wir dann auch keine Reaktion bekommen, fahren wir mal vorbei und chauffieren ihn zur Dienststelle. Aber bis jetzt sind die eigentlich immer zur Vernehmung angetanzt, auch wenn die wenig Verwertbares gesagt haben."

Gedankenverloren nicke ich. "Dann mache ich die Vorladungen mal fertig."

Ich klicke mich in eine Vorlage und blättere durch meinen Tischkalender. "Übernächsten Montag haben wir Spätschicht, da könnten wir den einen für 16 Uhr und den anderen für 17 Uhr vorladen", schlage ich vor. "Passt", kommentiert Sam und notiert sich die Daten ebenfalls in seinem Kalender.

"Dann kommt Nelu um 16 Uhr und Adonis um 17 Uhr", beschließe ich und trage Nelu Serafin und seine Adresse als erstes in das Formular ein.

Ich drucke beide Briefe aus und lege sie in unser Fach für den Postausgang, der jeden Mittag von der Sekretärin der Dienststelle verpackt, frankiert und zur Post gebracht wird.

...

"Hast du irgendwelche Pläne für dein freies Wochenende?", fragt Sam, als wir nach Dienstschluss zum Parkplatz laufen.

"Ja, ich gehe morgen Abend mit ein paar Freunden auf eine Hip-Hop Party und du?"

"Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Hip-Hop Typ bist", erwidert Sam überrascht.

"Bin ich auch nicht, zumindest nicht so das Ami-Zeug. Deutschrap höre ich ganz gerne", antworte ich und bleibe unschlüssig vor unserem Dienstwagen stehen. "Macht eigentlich keinen Sinn jetzt mit dem Streifenwagen zu fahren, oder?"

"Ne, lass lieber mit unseren Autos fahren, dann können wir nach dem Frühstück direkt nachhause", stimmt Sam mir bei und zieht seinen privaten Autoschlüssel aus der Hosentasche. "Und außerdem fallen wir dann nicht so auf, wenn wir die Henriettenstraße fünfmal hoch und runter fahren", schiebt er hinterher und grinst mich schief an.

Ich verdrehe lachend die Augen. "Okay. Fahr vor, ich fahre dir hinterher", antworte ich mit einem Kopfnicken und laufe zu meinem grauen Audi A5. Sam parkt seinen mattschwarzen 6er BMW galant aus der Parklücke und fährt zuerst vom Hof.

Je näher wir Duisburg Marxloh kommen, desto unruhiger werde ich. Ich versuche mich auf den Verkehr zu konzentrieren, doch zu dieser unchristlichen Uhrzeit liegt der sonst so belebte Stadtteil noch im Tiefschlaf und uns begegnet kaum ein anderes Auto.

Wie soll ich mich verhalten, wenn Esmeralda gleich wirklich in dem Restaurant vor mir steht?

Ich kann nicht mal sagen, ob ich mir wünsche, sie zu sehen, oder ob ich auf das Gegenteil hoffen soll. Einerseits wäre ich beruhigt zu sehen, dass es ihr gut geht und dass sie meinetwegen nicht in Schwierigkeiten geraten ist, aber andererseits weiß ich auch nicht, wie ich reagieren soll, wenn sie da ist.

Als Sam dann direkt vor dem Restaurant auf dem Parkstreifen parkt, lenke ich meinen Wagen direkt hinter den seinen.

Zögernd schnalle ich mich ab und versuche durch die bunt beklebten Scheiben einen Blick ins Innere zu erhaschen, doch es gelingt mir nicht. Da bleibt mir nur eins übrig: Augen zu und durch.

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