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"Und das ist Ihr Büro", eröffnet mir der erste Kriminalhauptkomissar Wolfgang Steiger, der gleich zur Begrüßung klargemacht hat, von allen nur Wolf genannt zu werden. Der großgewachsene Mann mit den grauen Haaren und den aufmerksam funkelnden Augen ist der Dienststellenleiter der Duisburger Hauptwache, dem Polizeipräsidium auf der Düsseldorfer Straße, wo von nun an mein neuer Arbeitsplatz sein wird.
Ich betrete den hellen, großzügigen Raum mit den kahlen Wänden und entdecke an dem rechten der beiden spartanisch ausgestatteten Schreibtische einen jungen Mann mit schwarzen Haaren, stechend blauen Augen und einer tadellos gebügelten Polizeiuniform.
"Herr Stein, das ist der Kollege Klingenthal, ebenfalls neu in Duisburg und ab heute Ihr Partner", stellt Wolf uns einander vor.
Der kräftige Mann steht vom Schreibtisch auf, während ich auf ihn zulaufe und ihm freundlich lächelnd die Hand reiche. "Nick", stelle ich mich vor. "Sam", erwidert der junge Mann mit einem breiten Grinsen und schüttelt kurz meine Hand.
Mein erster Eindruck sagt mir, dass man es mit ihm aushalten kann. Er ist mir zumindest auf den ersten Blick sehr sympathisch und das kann man mitnichten von jedem Kollegen behaupten.
Meine Gedanken werden von einem lauten Klingeln jäh unterbrochen. Wolf fischt schuldbewusst in seiner Hosentasche nach seinem Diensthandy, die ohnehin schon faltige Stirn skeptisch zusammengezogen.
"Ja?", bellt er in den Hörer. Dann herrscht einen Moment lang angespannte Stille, da er offensichtlich seinem Gesprächspartner zuhört.
"Okay, das passt ausgezeichnet. Ich habe gerade die neuen Kollegen Klingenthal und Stein vor mir. Ich würde vorschlagen, dass wir die beiden direkt mitnehmen, ja? Ein Sprung ins kalte Wasser hat schließlich noch niemandem beim Schwimmen lernen geschadet."
Der ältere Mann schmunzelt belustigt, dann herrscht wieder eine kurze Pause. "Okay, wir treffen uns am Wagen."
Mit einer kontrollierten Handbewegung steckt er das simple Mobiltelefon zurück in die Tasche seiner dunkelblauen Einsatzhose und wendet sich wieder an uns: "Die Herren, die Notfallzentrale hat mich soeben darüber informiert, dass ein Anruf von einer Anwohnerin der Henriettenstraße in Marxloh einging. Der Einsatz betrifft die Familie Serafin, also jene Großfamilie, auf denen in den nächsten Monaten Ihr Hauptaugenmerk liegen wird.
Die einzelnen Einsätze drehen sich meist nur um Kinkerlitzchen, aber die zwei neu geschaffenen und durch Sie beide besetzten Stellen zur Bekämpfung der Roma-Problematik im Duisburger Norden wollen wir vorerst dafür nutzen, die "Soko Serafin" zu gründen, die sich speziell mit dieser Familie beschäftigt. Wir haben mittlerweile einige Indizien dafür gesammelt, dass die Großfamilie in Clan-ähnlichen Strukturen Diebesbanden weit über die Duisburger Grenzen hinaus koordiniert. Es geht neben der organisierten Bandenkriminalität auch um Sozialbetrug in Millionenhöhe und Steuerhinterziehung. Wir suchen jeden noch so kleinen Beweis, um endlich zuschlagen und dem ganzen Spuk ein Ende setzen zu können.
Ich möchte, dass alles, was die Familie Serafin betrifft, über Ihren Tisch geht und wenn nur eines der zahlreichen Kinder Kaugummis am Kiosk klaut, dann will ich, dass Sie dorthin fahren, immer mit dem Augenmerk darauf, so viele Beweise wie möglich zu sammeln.
Wer hält sich im Haus der Familie auf? Welche uns noch unbekannten Strukturen gibt es? Jedes Wort, welches einer der Serafins verliert, will ich protokolliert haben und wenn einer von denen nur bei Rot über die Ampel geht, dann will ich, dass Sie davon Bescheid wissen."
Von dem Informationsfluss überrumpelt nicke ich nur. "Geht klar, Chef", antwortet Sam und schnappt sich seine Uniformjacke. "Dann wollen wir uns mal bei der Familie Serafin vorstellen."
Bevor ich den beiden Männern aus dem Büro folge, werfe ich einen prüfenden Blick zum Fenster, in dem ich mich spiegle und zupfe kritisch mein hellblaues Hemd zurecht. Meine dunkelblonden Haaren sind kurz geschnitten und der legere Dreitagebart akkurat rasiert. Mit meinen 1,90m und den gut hundert Kilo, die ich auf die Waage bringe, würde ich mich als gut gebaut bezeichnen. Dadurch, dass ich in meiner Freizeit ein richtiger Sportjunkie bin, neben diversem Kampfsport und regelmäßigen Besuchen im Fitnessstudio auch noch in unregelmäßigen Abständen surfen oder Wakeboard fahren gehe, mich mit meinen Jungs zum kicken oder Körbe werfen treffe, bin ich fit und durchtrainiert. Ich bin zwar nicht definiert wie ein Bodybuilder, aber ich bin zufrieden mit mir.
Wir begleiten Wolf durch das Treppenhaus runter in den Hof, in dem in Reih und Glied ein gutes Dutzend strahlend saubere Polizeifahrzeuge stehen.
Wolf hebt einen Autoschlüssel hoch und deutet mit der anderen Hand auf einen relativ neuen BMW 3er Kombi in typischer, blau-weißer Polizei-Folierung mit neongelben Details. "Das ist ihr Fahrzeug. Folgen sie uns einfach unauffällig, wer weiß, ob wir mal wieder einen von denen ins PG stecken müssen."
Sam nimmt den Schlüssel grinsend an sich, reicht ihn dann jedoch postwendend an mich weiter. "Ich denke, du solltest fahren. Du scheinst definitiv der Ruhigere von uns beiden zu sein."
"Geht klar", gebe ich nickend zurück und streife meine Uniformjacke ab, da sie mich beim Fahren in meiner Armfreiheit behindert. Ein Tick, den ich seit der Fahrschule nie mehr abgelegt habe.
"Moin Männer, Kuno", stellt sich nun ein weiterer Polizeibeamter mittleren Alters vor und begrüßt uns mit einem kräftigen Handschlag. "Dann wollen wir mal zu unseren Pappenheimern düsen", nickt er uns zu und hält zielstrebig auf eines der Autos zu.
"Kommst du aus Duisburg?", bricht Sam die Stille, als wir zwei getrennt von den beiden dienstälteren Beamten zum Einsatz fahren. Ich bin froh um diese kurze Möglichkeit, die sich uns bietet, um uns etwas näher kennenzulernen.
Außenstehende können es meist nur schwer nachvollziehen, aber so ziemlich alles in deiner Polizeikarriere hängt von der Wahl deines Partners ab. Du verbringst jeden Tag viele Stunden am Stück mit ihm, siehst ihn mehr als deine Freunde und Familie und musst dich in Gefahrensituationen blind auf ihn verlassen können. Wenn die Chemie stimmt und ihr an einem Strang zieht, dann werdet ihr automatisch um Längen erfolgreicher sein, als wenn du mit einem Partner arbeitest, mit dem du nicht harmonierst oder der dich im schlimmsten Fall sogar boykottiert und in deiner Arbeit behindert.
"Nein, ich komme aus Oberhausen und habe dort auch meine Ausbildung gemacht, und du?", antworte ich interessiert.
"Ich komme aus Duisburg, hier geboren und aufgewachsen und auch hier ausgebildet, allerdings bei einer anderen Wache", erklärt Sam offen.
Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass er ein richtiger Herzensbrecher ist, mit seiner aufgeschlossenen, charmanten und selbstbewussten Art und seinem guten Aussehen. Die Uniform hat auf viele Frauen per se eine anziehende Wirkung, aber Sam ist groß, durchtrainiert, hat markante, maskuline Gesichtszüge, strahlend blaue Augen, zum Undercut frisiertes schwarzes Haar und einen vollen Bart und wird auch in zivil keine Probleme damit haben, Frauen kennenzulernen.
"Dann ist wenigstens einer von uns ortskundig", stelle ich erleichtert fest. Sam nickt zustimmend. "Daran wird es nicht scheitern. Wie alt bist du?", hakt er nun weiter nach. "23 und du?" "Noch 25."
Wir folgen dem von Kuno gesteurten Streifenwagen über die Autobahn von der Stadtmitte in den Duisburger Norden. Mein bester Freund Nedim hat gestern noch zu mir gesagt: "Der Duisburger Süden ist schön, aber je weiter du in den Norden fährst, desto schlimmer wird es." Und auch, wenn ich mich in Duisburg noch nicht so gut auskenne, so weiß ich, dass der schlimmste Stadtteil der bundesweit bekannte Problembezirk Marxloh ist.
Duisburg Marxloh liegt gut 10km von der Stadtmitte entfernt und war einst ein belebtes und beliebtes Geschäftsviertel, doch heute ist der Problembezirk einer der ärmsten und kriminellsten Stadtteile Deutschlands und ein oft zitiertes Beispiel für gescheiterte Integration.
Die Polizei spricht offiziell von einem rechtsfreien Raum, einer so genannten No-Go-Area, in der sie absolut überfordert und handlungsunfähig ist.
Der Ausländeranteil in Marxloh liegt bei 56%, wovon jeder 4. Bewohner ein Armutsflüchtling aus Bulgarien oder Rumänien ist.
Das gesamte Viertel ist durchzogen von Müllbergen, besetzt von Ratten und die hygienischen Zustände sind katastrophal. Viele Häuser sind von der Stadt mittlerweile sogar als unbewohnbar deklariert.
Ich habe oft davon gehört, jeder von uns kennt die Bilder aus Reportagen, aber ich muss zugeben, dass ich noch nie hier war.
Als wir von der Autobahn abfahren, fahren wir zuerst über die Weseler Straße mit unzähligen Brautmodenläden, in deren Schaufenstern prunkvolle, strahlend weiße Hochzeitskleider stehen, und vielen türkischen und arabischen Restaurants und Supermärkten, vor denen einige teure Autos parken.
Doch als wir von der Hauptstraße in eine Seitenstraße abbiegen, erstreckt sich vor uns das blanke Elend. Teppiche, versiffte Möbel, kaputte Fahrräder, Kleiderberge und Schrott liegen einfach am Straßenrand, dazwischen immer wieder Hausmüll, Lebensmittel oder benutzte Windeln.
Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen kann, von dem modernen Innenstadt Revier in Oberhausen nach Duisburg-Marxloh versetzt zu werden, um eine der neu geschaffenen Stellen zu besetzen, die sich vor allem mit der Roma-Problematik befasst, musste ich nicht lange überlegen.
Die Besonderheiten des Viertels reizen und erschrecken mich zugleich. Ich würde gerne etwas ändern und auch wenn es vielleicht abgehoben oder überheblich klingt und ich weiß, dass dies nicht allein in meiner Hand liegt, so will ich zumindest versuchen, nach bestem Wissen und Gewissen etwas dazu beizutragen. Denn wenn ich nur ein weiterer Mensch oder insbesondere Polizist bin, der wie die Politik vor den offensichtlichen Problemen die Augen verschließt, wird sich nie etwas ändern und nirgendwo ist ein Wandel dringender nötig als in Duisburg Marxloh.
Kuno blinkt und setzt die Limousine gemächlich an den Straßenrand. Ich tue es ihm gleich und parke meinen Einsatzwagen direkt dahinter.
"Tu dir selbst einen Gefallen und setz deine Mütze auf. Die schmeißen hier den Müll einfach aus den Fenstern, vor allem bei so gern gesehenem Besuch wie uns", warnt mich Sam grinsend und rückt die Schirmmütze auf seinem schwarzen Haar zurecht.
Dankend nehme ich seinen Rat an und setze mir die dunkelblaue Mütze ebenfalls auf den Kopf.
Wir laufen auf eine große Einfahrt zu, deren Tor verrostet und mit halbherzigen Grafittis besprüht ist und sperrangelweit offensteht.
"Hier ist immer Tag der offenen Tür", informiert Kuno uns und betritt wie selbstverständlich den Innenhof des hellgelben Mehrfamilienhauses.
Was dann hinter den hohen Betonmauern zum Vorschein kommt, verschlägt mir trotz aller Reportagen und Vorwarnungen im ersten Moment die Sprache.
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