Linnard- Der süße Klang der Freiheit

Als die Nachtigall vom Ende sang und
sich die silbernen Strahlen des fahlen Mondes auf der spiegelglatten Oberfläche des stillen Sees verloren, kam ein einsamer Mann des steinigen Weges. Verlassen und frierend, ohne Ziel oder Heimat, einen schweren Stoffbeutel mit seinen letzten Habseligkeiten über der Schulter, suchte er unter den altehrwürdigen Eichen Schutz und einen Schlafplatz, die die ersten Vorläufer des nahen Waldes bildeten. Lange war er gewandert, fast drei Tage schon, seit er das Heerlager am Koboldkamm verlassen musste.
Der Krieg war beendet, die Feinde unterworfen und das gewaltige Heer war zu teuer gewesen, um es halten zu können. So hatten die Soldaten einen kleinen Beutel mit dem letzten Lohn erhalten und waren nach Hause geschickt worden, um zu ihren Familien zurückzukehren. Doch für Linnard gab es keinen Ort, an den es sich lohnte zurückzukehren, keine Familie, die ihn sehnsüchtig erwartete. Er war bloß ein verbissener, ungeschickter, einsamer Mann, für den Kämpfen und Töten über Jahre hinweg der einzige Anker war, der sein bröckeliges Dasein vor dem Absturz bewahrte. Denn im Krieg gibt es ein klares Gut und Böse, zumindest für einen einfachen Soldaten. Im Leben hingegen nicht. Zu Kämpfen und zu Töten war so leicht. Es wurde gesagt, was man zu tun hatte und wenn man es nicht schaffte, trauerte niemand. Diese Klarheit vermisste Linnard, sehnte sich so sehr nach dem Rausch des Blutes, dass es ihn förmlich zu verschlingen schien.
Nun saß er hier, gebrochen und einsam, ohne Beruf, Heimat, Familie oder Geld, mit nichts als einem unbeschriebenen Tagebuch, dass seit Jahren auf seine Einträge wartete, seiner geliebten Panflöte, den Resten eines Leibes Brot und ein paar kläglichen Kupfermünzen. Die alten Weisen hatten stetig gesagt, dass man nichts benötige um glücklich zu sein. Doch da hatten sie geirrt. Im Angesicht der Schatten der Nacht wünschte Linnard sich nichts sehnlicher, als eine warme Mahlzeit, eine Decke und eine Unterkunft. Doch nichts von diesen Dingen schien ihm vergönnt zu sein.

So unerträglich drückend war die Dunkelheit, dass er kein Auge zutun konnte. Und so entschloss er, da ruhen sowieso nichts brachte, weiter zu wandern. Weiter des ungewissen Weges, hin, in eine unbekannte Zukunft.
Zitternd beobachtete Linnard die Zweige der Bäume, die sich gespenstisch im kalten Nachtwind wiegten, als er plötzlich in der Ferne ein Licht entdeckte. Dort, einige Meilen entfernt am Fuße eines Berges, schien ein Dorf zu liegen. Die Schritte des Mannes wurden schneller und hastiger, so erhoffte er sich eine warme Unterkunft und Sicherheit vor den Geschöpfen der Nacht. Fast rannte er, als er schließlich die ersten Hütten der kleinen Siedlung erreichte. Das Geblöke von Scharfen, das Muhen von Kühen und das Kreischen von Hühnern erfüllte selbst zu dieser späten Stunde noch die kühle Nachtluft. In diesem Moment klang es wie Musik in Linnards Ohren. Nach einigen weiteren Schritten gelangte der erschöpfte Mann auf einen verlassenen Marktplatz. Keine Menschenseele wagte sich zu solch später Stunde noch vor die Tür, nur ein alter Bettler kauerte auf einem Kartoffelsack im Dunkel einer dreckigen Ecke.
Lächelnd ging Linnard auf den Greis zu, freudiger als er gedacht hätte, endlich wieder ein menschliches Gesicht zu sehen. Als er den alten Mann schon fast erreicht hatte, bemerkte er die seltsame Haltung seines Gegenüber. Das eine Bein des Mannes fehlte, kaum mehr als ein fleischiger Stummel war davon noch zu sehen. Obwohl Linnard in all den Jahren im Krieg schon viel schlimmere Wunden gesehen hatte, machte ihn die Tatsache traurig, dass dieser Mann wohl nie wieder richtig laufen konnte.

Mitleidig wusste er nichts anderes zu fragen, als ein leises: „Was ist denn geschehen?" Verdutzt sah der Alte Linnard an als er bemerkte, dass er gemeint war. Angestrengt verzog er sein faltiges Gesicht. „Was interessiert dich das? Du bist doch gesund!", fragte er barsch und wendete den trüben Blick von Linnard ab. Fast wollte dieser sich wieder abwenden, Trauer und Angst vor der Nacht schienen ihm in diesem Moment brutaler denn je seine Gedärme zu zerreißen, da begann der Greis plötzlich zu erzählen, die Stimme leise und brüchig:
„Lange Jahre diente ich im Krieg. Doch dann verlor ich mein Bein. Ich konnte meine Frau und meine Kinder nicht mehr ernähren. Ich musste sie wegschicken in der Hoffnung, dass ein anderer sich um sie kümmern konnte. Mit meiner Wunde kann ich nicht mehr arbeiten und nicht mal mir selbst eine Lebensgrundlage schaffen", der Mann begab grunzend zu schluchzen, „Wenn ich doch nur wüsste wie es meiner geliebten Fridda und meinen Kindern geht. Ob sie noch am Leben sind?" Tränen ergossen sich über das Gesicht des Alten und sammelten sich in seiner Halsbeuge. Ebenfalls mit Tränen in den Augen legte Linnard dem Mann eine Hand auf die Schulter und versuchte ihn zu beruhigen. Gleichzeitig war ihm klar dass das Leid das dieser Mann erleiden musste, durch nichts wieder gut gemacht werden konnte. Und Schuld an alledem war das, was Linnard selbst am meisten bedeutete: Krieg, Kampf und Zerstörung. Er wusste nicht was er tun konnte, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Mit gequälter Miene öffnete Linnard langsam seinen Beutel und kramte zwei ganz besondere Gegenstände daraus hervor: Die kleine Panflöte und den Beutel mit dem Geld. Eine einzelne silberne Träne glitzerte in seinen Augen, als er dem verdutzten Greis das kleine Instrument überreichte. „Diese Flöte kannst du ohne deine Beine spielen. Möge ihre Melodie dir in dunkler Nacht einen Pfad der Hoffnung leuchten", mit diesen Worten wandte Linnard sich von dem Alten ab und schritt zurück in die Dunkelheit.

Als er wieder zwischen den Bäumen verschwunden war und der kalte Nachtwind seine Glieder liebkostet, wie einen alten Freund, musste Linnard plötzlich lächeln. Und so folgte er dem verschlungenen Pfad mit dem Gewissen, wenigstens einen Menschen glücklich gemacht zu haben.

Als der Mond fast schon hinter den fernen Bergen verschwunden war und man in der Ferne die ersten Strahlen der Sonne erahnen konnte, vernahm Linnard Stimmen. In der Angst vor Wegelagerern oder Plünderern verbarg er sich mit klopfendem Herzen und zitternden Fingern hinter einem Brombeerbusch und wartete ab. Die Stimmen kamen immer näher, sodass Linnard mittlerweile sogar die Schritte der Fremden hören konnte.

Als die Spannung schließlich fast ins unermessliche stieg und das Adrenalin Linnards Körper durchflutete, überkam ihn plötzlich der bekannte Rausch, das einzig wahre Gefühl, die Vorfreude auf einen Kampf. Die Muskeln des Mannes spannten sich an, mit den schweißnassen Händen umklammerte er einen schweren Stock und hielt ihn eisern in seinen großen Händen.

Fast war er enttäuscht als es bloß zwei junge Mädchen waren, sicher kaum älter als 15 Jahre, die eilig den Weg entlangliefen. Langsam trat Linnard aus seinem Versteck und kam auf die Mädchen zu. „Was treibt ihr zu so früher Stunde alleine im Wald?", fragte er mit tiefer Stimme, wobei das Rauschen der Blätter im Wind seine Worte mit leisem Rascheln und Knistern unterstrich.
Erschrocken blieben die Mädchen stehen. „Was... was willst du von uns?", fragte die eine panisch, die andere schwieg. Langsam ließ Linnard den Kopf sinken. „Keine Sorge, ich tue euch nichts", sagte er erschöpft, „Wer seid ihr?"
„Das Mädchen, das ihm auch eben geantwortet hatte, übernahm nach kurzem Zögern wieder das Sprechen: „Ich bin Sanna und das hier ist meine Zwillingsschwester Jusha." Beim Aussprechen des Namens ihrer Schwester senkte Sanna resigniert die Stimme. „Ist alles in Ordnung?", fragte Linnard schnell. „Jusha... Sie hat, als unser Dorf geplündert wurde... ihre Stimme verloren", erzählte Sanna niedergeschlagen.

Linnard benötigte einige Momente um die Worte seines Gegenüber zu verdauen. Die Stimme verloren. Fast wie von selbst griff er in seinen dünnen Beutel und überreichte der armen Jusha das ledergebundene Tagebuch, das eigentlich mit seinen Geschichten gefüllt hätte sein müssen. Nun hatte sie wenigstens diesen Weg, ihre Gedanken mit der Welt zu teilen. Dankend sah das Mädchen Linnard in die müden braunen Augen. Und dann schrieb sie.
,Ich Danke dir'
Mehr war es nicht, das sie ihm geben konnte.

Als Linnard weiterzog war sein Beutel leicht und leer. Die letzten Brotreste hatte er hungrig verspeist und nun hatte er nichts mehr, dass ihm helfen könnte. Der Wald lichtete sich und er blickte geradewegs auf ein großes Tal, das von den ersten Strahlen der Morgensonne in ein rotes Licht getaucht wurde. Müde und erschöpft ließ der Mann sich auf den Boden sinken.

Und da überkam ihn plötzlich die ganze Wahrheit, die volle Erkenntnis: All die Tage auf Reisen hatte er kein Blut benötigt um voll zu sein. Er hatte alles was er gewesen war in den Schatten der Nacht zurückgelassen. All das, was er nie hatte sein wollen.
Und mit einem Lächeln auf dem Gesicht begann er all das in die lockere Erde zu schreiben jede Geschichte, jeden Mord, jeden Kampf. Und dann sah er zu wie der milde Wind die Buchstaben hinfort trug, auf seinen Schwingen in eine andere Welt, vom Winde verweht. Und erst dann fühlte er sich vollkommen frei und so sehr er selbst, wie er noch nie vorher gewesen war.
Während die Sonne immer höher stieg und Wald und Berge in ein goldenes Licht tauchte, begann er vor Freude zu singen. Ein altes Lied von Freude und Freiheit, von Liebe und Neuanfang, dessen Töne sich sogleich in den Weiten der Welt verloren.
Und so endet diese Geschichte dort, wo die Linnards beginnt.

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