35. Kapitel: "Du tust, als wäre gar nichts geschehen."

Die Bar, die wir eine knappe Stunde später betreten, ist brechend voll. Französisches Geschnatter spült aus jeder Ecke in den Raum wie Wellen ans Meer-Ufer. Chansons aus den fünfziger und sechziger Jahren werden hier drin aufgelegt. Die Luft ist dicht und es riecht nach jeder Menge Schnaps. Vincent lässt mir den Vortritt. Ein Lächeln liegt auf seinen Lippen und seine Augen funkeln gespannt. Menschenansammlungen haben ihn schon immer fasziniert, er unterhält sich gern auf Partys, oder beobachtet die Leute und mokiert sich über sie. Ich steuere den Tresen an, wo ich zwei Bier vom Fass für uns bestelle. Vincent guckt sich neugierig um, reckt den Kopf mal nach links, mal nach rechts und geht zum krönenden Abschluss auf die Zehenspitzen, obwohl er die meisten Gäste ohnehin überragt.
„Schickes Etablissement", bekennt er, und ich muss grinsen. Er geht oft sehr kritisch ins Gericht mit meinen Vorschlägen, da bin ich froh, dass ich mit dieser Idee offensichtlich seinen Geschmack getroffen habe. „Und du?", wendet Vincent sich an mich, während ich dem Barkeeper einen Schein reiche und das Wechselgeld entgegennehme. Die Münzen stopfe ich in meine Hosentasche.
„Was ist mit mir?", frage ich. Mein bester Freund wackelt anzüglich mit den Augenbrauen.
„Bist du öfter hier, Süßer?" Ich muss lachen, entscheide mich aber doch dafür, auf den Scherz einzugehen.
„Immer wenn ich mal in Paris bin", bestätige ich und murmle leise Schwachkopf. Vincent lacht und ich schnappe mir derweil die Gläser, nicke hinein ins Getümmel. „Komm", fordere ich ihn auf. „Einer so feinen Lady wie dir gebe ich selbstverständlich 'nen Drink aus." Darauf bedacht nichts von unseren Getränken zu verschütten, bahne ich mir meinen Weg ins Innere der Bar. Schweiß- und Parfümgeruch vermischen sich, je weiter wir in den Raum vordringen.
„Da!", ruft Vincent. Ich drehe mich halb um, schaffe es gerade so, das Bier festzuhalten, als ich unvermittelt angerempelt werde.
„Pardon", entschuldigt sich eine Frau bei mir, deren brünettes Haar von grauen Strähnen durchzogen ist und die etwa im Alter meiner Mutter sein dürfte. Ich schenke ihr ein verzeihendes Lächeln und sie verschwindet wieder, als sie von ihrem Partner schwungvoll zurück auf die Tanzfläche gedreht wird.
„Da ist ein freier Tisch", reißt Vincents Stimme mich aus meiner Trance. Er nimmt mir die beiden Gläser aus der Hand und geht vor. Tatsächlich ist einer der runden Tische für vier Personen freigeworden. Vincent platziert zwei neue trockene Bierdeckel neben den aufgeweichten, die mittig in einer Pfütze auf der Holzoberfläche schwimmen. Schnell lässt er sich auf den Stuhl fallen und macht die Beine breit. Seine Haltung korrigiert er erst, nachdem auch ich mich gesetzt habe. Das Grinsen ist keine Sekunde aus seinem Gesicht gewichen. Ich hebe mein Glas, Vincent tut es mir gleich und wir stoßen an. Nippend hocke ich da und versuche erstmal vernünftig anzukommen, mich auf die Atmosphäre der Stadt einzulassen ... Mein Kumpel ist darin wesentlich schneller. Er hat sein Glas bereits zur Hälfte geleert und wischt sich den Mund trocken, als ich wieder zu ihm rüber schaue. Ich lasse meinen Blick ebenfalls durch die Menge schweifen.

Und dann steht da auf einmal Luna. Wirklich und leibhaftig.

Sie wiegt sich im Takt der Musik auf der Tanzfläche, lächelt mit geschlossenen Augen und eine Gruppe älterer Herren pfeift. Sie sind ganz begeistert von ihren aufreizenden Bewegungen. Luna macht seit Jahren schon Pole-Dance, sie weiß genau, wie man so tanzt, dass man sämtliche Blicke auf sich zieht. Eine Erinnerung schießt mir durch den Kopf: Wir waren im Kino am Potsdamer Platz und saßen zusammen im Sony-Center vor der Gartenanlage. Sie hat mir von einer Lapdance-Trainingseinheit erzählt. Ich habe sie damit aufgezogen, und zu ihr gesagt, sie kann mir ruhig mal zeigen, was sie gelernt hat. Womit ich nicht gerechnet habe war, dass sie tatsächlich an Ort und Stelle einfach loslegen würde. Sie hat das voll durchgezogen, bis es mir so unangenehm war, dass ich sie von meinem Schoß runtergeschoben habe und zu ihr meinte, ich müsste aufbrechen, es sei schon spät. Luna hat daraufhin gelächelt, es war eine seltsame Mischung aus Ich wusste, dass du das sagen würdest und tiefroter Melancholie. So herzblutrot wie das Kuppeldach über uns geleuchtet hat.

Heute trägt sie ein weißes, tief ausgeschnittenes Top und einen Minirock in Jeans-Optik, der ihre weiblichen Rundungen verdammt vorteilhaft betont. Vincent pfeift neben mir anerkennend durch die Zähne.
„Heilige ...", raunt er. „Wusste gar nicht, dass Julia Roberts nach Paris ausgewandert ist." Pretty Women, denke ich, sie sieht wirklich ein bisschen aus wie die Film-Ikone. „Moment mal", realisiert Vincent allmählich, welche Frau da gerade gekonnt vor unseren Augen im Scheinwerferlicht duscht. „Ist das Luna?"
„Definitiv ist sie das", sage ich. Mein bester Freund lehnt sich mit dem Oberkörper ein Stück vor. Sein Mund steht halboffen „Die fandst du aber auch schon mal hässlicher, Diggi", schmunzle ich. Vincent schüttelt prompt den Kopf.
„Ich bin glücklich vergeben, nur damit das klar ist."
„Keine Sorge, ich verpetz dich schon nicht an deine Freundin, Alter", lache ich und klopfe ihm auf die Schulter.
Wie viele der anderen Barbesucher auch beobachten wir Lunas Showeinlage und unterhalten uns dabei ... Es dauert noch fast zehn Minuten, bis sie uns endlich bemerkt, und uns breit grinsend zuwinkt. Von dem Altherren-Stammtisch verabschiedet sie sich mit Luftküssen. Sie wirkt erschöpft, aber ihr charmantes Lächeln strahlt und täuscht erfolgreich darüber hinweg. Es wundert mich ein wenig, dass ihr Gesicht sich aufgehellt hat, als sie mich in der Menge entdeckt hat. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass es sich sofort verfinstern würde.
„Dir entkommt man aber auch nirgends auf der Welt, was?", spricht sie mich fröhlich an, nachdem sie sich zu Vincent und mir durchgekämpft hat.
„Probier's im Ami-Land, da stehen deine Chancen besser, mir aus dem Weg zu gehen", antworte ich und lasse mich von ihr in eine Umarmung ziehen. Sie riecht nach einem teuren Duft. Nach genau einem Spritzer zu viel davon.
„Was bist du auf einmal so gut auf mich zu sprechen? Ist was passiert?", frage ich.
„Tja, ich bin eben verliebt", lächelt sie verträumt und tippt mir gegen die Nasenspitze. Ich ziehe den Kopf ein. „In Lucas", erlöst sie mich jedoch und ich atme erleichtert auf.
„Achso, und wo ist der?", mischt mein bester Freund sich skeptisch ein.
„Hallo Vincent", flötet Luna und umarmt ihn genauso ungefragt wie mich. Vincent verzieht das Gesicht und klopft ihr hilflos auf den Rücken. „Lucas ist in Berlin", beantwortet sie seine Frage und tritt einen Schritt zurück. „Wollt ihr ein bisschen quatschen? Dann wartet einfach hier, ich hole mir nur rasch was zu trinken." Und schwupp-di-wupp ist sie davongehuscht.

„Was macht die hier?", will Vincent wissen und deutet mit dem Daumen in die Richtung, in die Luna verschwunden ist.
„Was fragst du mich das?"
„Ihr habt doch eigentlich gar keinen Kontakt mehr."
„Stimmt."
„Was sollte das denn dann gerade, Dicka? ‚Probier's im Ami-Land, da stehen deine Chancen besser, mir aus dem Weg zu gehen'", äfft er mich nach. „Wieso bist du so nett zu der?"
„Weil sie mir nichts getan hat, Vincent. Ich bin der, der ihr falsche Hoffnungen gemacht hat damals und sich partout nie dafür ihr entschuldigen wollte. "
„Die Frau hat dich quasi gestalkt und eure Freundschaft damit erzwungen." Er setzt das Wort ‚Freundschaft' in imaginäre Anführungszeichen. Ich schnalze mit der Zunge.
„Du kennst sie nicht, mach dich locker, Stein, und sei nett zu ihr, Luna hat nichts verbrochen."
„Sag mal, hab ich irgendwas verpasst? Du bist in der Vergangenheit ständig über sie hergezogen."
„Psst", ermahne ich ihn. „Da kommt sie."

„Ich reise allein", erklärt Luna uns einen kurzen Augenblick später.
„Arbeitsbedingt?", hake ich interessiert nach. „Großer Marken-Deal?"
„Nein, fauler Urlaub samt Social-Media-Pause. Das gönne ich mir einmal im Jahr, nur für mich. Self-Care."
„Ich muss aufs Klo", brummt Vincent plötzlich. Verwirrt blicke ich ihm hinterher, aber er schiebt einen kleinen Mann beiseite, der ihn auf Französisch ziemlich ungehobelt anmotzt und ist abgetaucht.
„Wartest du? Ich bin gleich wieder da", verspreche ich und stehe auf, um meinem Kumpel zu folgen.
„Willst du später draußen eine rauchen?", fragt sie mich.
„Klar, gern."
„Wir treffen uns vor der Tür", lächelt sie und ich nicke knapp.

Vincent tigert in der Männertoilette vor den Waschbecken auf und ab. Er hat sich sein Handy ans Ohr gepresst.
„Mit wem telefonierst du?", forme ich mit den Lippen.
„Ich versuche, Charlotte zu erreichen", erwidert Vincent in normaler Lautstärke. Ich lehne mich gegen die Wand und vergrabe die Hände in den Hosentaschen. Es vergehen bloß ein paar Sekunden. Vincent legt auf und schaut mich an.
„Sie geht nicht ran. Übrigens muss ich echt pissen, also ..." Er stellt sich mit ausdrucksloser Miene vors Pissoir.
„Es stört dich, dass ich mit Luna rede, oder?", rate ich.
„Wir sind hergekommen, damit du über Pari nachdenkst, und darüber, wie's zwischen euch weitergehen soll", echauffiert er sich, während er die Hosen runterlässt. „Und nicht, damit du dich von der anschmachten lässt. Du hast schon mit Alexa gepennt, zweimal. Wenn du zu Luna heute nicht nein sagen kannst, kannst du die Sache mit Zwerg Nase knicken, das verkraftet die Kleine nicht."
„Luna ist nicht mein Typ", betone ich. „Wieso wolltest du Charlotte anrufen?"
„Um mich bei ihr über dein Verhalten aufzuregen", gibt er zu. Ich stoße mich von der Wand ab.
„Ich bin hier, reg dich bei mir über mein Verhalten auf."
„Okay!", meint Vincent. „Ich find's unverantwortlich von dir, dass du so nett zu ihr bist."
„Und was schlägst du dann vor?", frage ich ihn ruhig. „Soll ich scheiße zu ihr sein?" Vincent betätigt die Spülung und tritt vom Pissoir zurück.
„Nein, aber lass uns abhauen. Das wär' nur zu deinem Besten, dann läufst du nämlich keine Gefahr, mit deinem Schwanz zu denken."
„Mein Schwanz ist zu dumm, um zu denken", bemerke ich trocken. Vincent lacht. „Du Vollidiot ... Also, gehen wir?"

„Hey", lenke ich Lunas Aufmerksamkeit auf mich. Sie hat sich auf einer schmalen, grün-gestrichenen Bank niedergelassen. Eine Strickjacke in einem Fliederton bedeckt ihre Schultern und sie klopft auf den freien Platz neben sich, ohne den Blick von der Seine abzuwenden, die direkt vor der Bar vorbeifließt. Das Licht der Straßenlaternen glitzert auf dem Wasser.
Ich ziehe eine Packung Zigaretten aus meiner hinteren Hosentasche und hole einen der Glimmstängel raus, stecke ihn mit meinem Zippo an und inhaliere den Rauch tief in meine Lunge.
„Willst du dir eine schnorren?", biete ich Luna an. Sie schüttelt den Kopf und dreht ihn mir dann zu.
„Ich rauche nicht mehr", lächelt sie entschuldigend und streicht sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr, trinkt aus ihrem Weißweinglas.
„Nicht mal mehr gelegentlich?"
„Du solltest auch aufhören", erteilt sie mir dann einen sicherlich gut gemeinten Ratschlag und bekleckert sich mit Wein, doch es scheint ihr nichts auszumachen.
„Tja, die Laster, du weißt", seufze ich.
„Wo hast du Vincent gelassen?", wechselt sie das Thema.
„Er telefoniert mit seiner Freundin, sie hat ihn zurückgerufen."
„Ah", macht Luna desinteressiert. Wir schauen schweigend auf den leise rauschenden Fluss. Ich rauche, sie summt ‚La Vie en rose' und ich lausche. „Wie läuft's bei dir?", erkundigt sie sich, als das Lied vorbei ist.
„Frag nicht, immer noch genauso beschissen, wie beim letzten Mal, als wir uns gesehen haben", antworte ich wahrheitsgetreu.
„Vielleicht solltest du diese Frau einfach vergessen, Dag. So wie ich dich vergessen habe." Sie schwenkt den Weißwein in ihrem Glas und schmunzelt verhalten. „Ich bin hierhergekommen, weil ich herausfinden wollte, ob ich wirklich endgültig über dich hinweg bin, oder ob ich doch noch etwas für dich empfinde. Aber seit ich hier bin, vermisse ich dich kein Stück, ich vermisse nur all meine Freunde und Freundinnen – und Lucas. Er fehlt mir ganz besonders."
„Pass gut auf ihn auf, er ist ein prima Kerl." Luna streckt mir verspielt die Zunge raus.
„Das brauchst du mir nicht zu sagen, ich sehe auch so, dass er ganz anders ist als du." Ich schubse sie leicht und sie lacht.

„Ich glaube nicht, dass ich Pari vergessen kann", informiere ich sie im Anschluss nachdenklich.
„Wo ist sie?"
„In Berlin, wir haben uns gestritten. Ich hatte zweimal Sex mit meiner Ex und hab ihr nichts davon gesagt, dann ist es rausgekommen."
„Moment, war das etwa, während du schon mit Pari zusammen warst? Betrug hätte ich dir nicht zugetraut."
„Betrug? Was? Nein, so ein Quatsch. Sie war drei Monate im Iran bei Verwandten. Alles, was davor zwischen uns lief, war beendet." Luna bläht die Nasenflügel auf und atmet geräuschvoll aus.
„Dann wird sie sich sicher wieder einkriegen."
Ich zucke die Schultern, denn natürlich ist es nicht so einfach, aber Luna geht diese ganze Geschichte rund um Alexa und Linus nichts an. Sie weiß bestimmt noch von früher, dass ich ab und an auf meinen Nachbarsjungen aufgepasst habe, aber ich hab ihr nie erzählt, dass meine Nachbarin und die Mutter von diesem Jungen meine Ex-Freundin ist. Und dabei würde ich es auch gern belassen.
„Wenn nicht, dreht sich die Erde trotzdem weiter", sage ich und mustere ihr Profil. Sie ist wie immer stark geschminkt, aber ausnahmsweise wirkt es irgendwie cool. „Du bist echt selbstbewusst", mache ich ihr ein Kompliment.
„Ja, bin ich", grinst sie.
„Hat man gesehen, als du getanzt hast."
„Na na na", ermahnt sie mich. „Hast du mir was weggeguckt?"
„Niemals, guck, ich wasche meine Hände in Unschuld." Luna lacht, als ich die passende Geste vollführe. Doch nur wenig später werde ich ernst. „Tut mir leid. Alles von damals. Und auch, dass ich mich nie bei dir dafür entschuldigt habe."
„Danke, das ist sehr freundlich von dir." Sie lächelt warm.

„Dag!", durchschneidet Vincents Stimme die Nachtluft. Ich lege einen Arm um Luna und ziehe sie zu mir ran.
„Danke, dass du für mich da warst", sage ich. „Wir ziehen jetzt weiter." Ich zeige auf Vincent, der mit dem Fuß ungeduldig aufs Pflaster trommelt.
„Macht das", nickt Luna. „Bis irgendwann vielleicht."
„Ja, bis dann." Ich schenke ihr ein letztes Lächeln und springe auf. Vincent und ich laufen die Promenade runter. Die Bar und Luna rücken immer weiter in die Ferne. Irgendwann beginne ich ‚La Vie en rose' zu summen.

Ja ja aka. LMAA

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