2. Kapitel: "Die Olle mit der Macke."
Wenn sich sogar dein zu Hause wie der falsche Ort anfühlt, weißt du, etwas in deinem Leben ist nicht in Ordnung. Als ich die Tür zu meiner Wohnung aufschließe, merke ich sofort: In meinen eigenen vier Wänden wird mir höchstens die Decke auf den Kopf fallen.
Trotzdem betrete ich den Flur, schließe die Tür hinter mir und stehe ein paar Minuten reglos da. Ich bin unschlüssig, was ich tun soll und bringe es nicht mal über mich, meine Schuhe auszuziehen. Wahrscheinlich verpisse ich mich ohnehin gleich wieder nach draußen. Wohin ich dann laufen soll, weiß ich nicht, ist mir auch egal. Hauptsache weg.
Der Gedanke an Pari lässt sich nun mal leider nicht in irgendeine Kiste stopfen, die ich über Bord werfen könnte.
Mit zittrigen Fingern taste ich nach meinem Handy in der Jackentasche und rufe Vincent an. Nach dem dritten Klingeln rechne ich schon mit der Mailbox. Er scheint zu arbeiten, sonst hätte er längst abgenommen. Gerade will ich auflegen, da dringt die Stimme meines besten Freundes unverkennbar an mein Ohr.
„Big D, was willst du?", fragt er.
„Big D, dein Ernst?", wiederhole ich perplex.
„Passt zu Zwerg Nase."
Ich schließe die Augen, balle kurz die Hand zur Faust, fange mich aber schnell wieder. „Nenn mich nie wieder so. Big D ist eindeutig zu zweideutig. Ach ja, und – Streich sie, Pari ist Geschichte."
„Was? Warte mal ..." Ich höre, wie sein Bürostuhl ächzt und er wahrscheinlich vom Mischpult wegrollt. Die Tür, die von der Produzentenkabine zurück in die Chillecke unseres Studios führt, geht auf und der Riegel rastet nur einen knappen Sekundenbruchteil später wieder ein. „Okay, ich sitze bequem, schieß los, was ist passiert?"
„Ich hätte das nie zu ihr sagen dürfen", murmle ich.
„Dass du sie liebst? Ja, ich hab's dir doch gesagt, Alter. Aber hat sie das nicht erwidert? Ich dachte, sie hat das Gleiche gesagt. Hä? Ich check's nicht, fang mal von vorn an. Wie lief's denn gerade mit ihr? Ihr habt euch doch getroffen, oder nicht? Und was war los?"
„Sie wollte mich in die Friendzone abschieben, ich habe nein gesagt und das ist das Ende der Geschichte", fasse ich unser Treffen knapp zusammen.
„Scheiße, Mann, das tut mir voll leid für dich."
Eine Pause entsteht.
„Scheiß drauf", sage ich mehr zu mir selbst als zu Vincent.
Er bestätigt: „Scheiß drauf. Hey, wenn du jemanden zum Reden brauchst, kannst du bei mir pennen. Ich besorge dir guten Whiskey, geht auf mich."
Mein Blick schweift durch den Flur und bleibt an einem roten Stofffetzen kleben, der hinter der Kommode eingeklemmt wurde. Ein Tanga, und der kann nur einer gehören. Super. Erschöpft schließe ich die Augen.
„Wann soll ich bei dir sein?", frage ich Vincent.
„Ich mache hier im Studio gleich Schluss für heute und du machst dich direkt auf den Weg ."
„Danke, Mann."
„Nichts zu danken, Dicka."
Kurz nachdem ich aufgelegt habe, stehe ich auf und fische die Unterwäsche aus dem schmalen Schlitz zwischen der Wand und der schwarzen Acryl-Kommode. Obwohl ich den Impuls verspüre, kann ich mich gerade noch zusammenreißen und halte mir das Teil nicht vors Gesicht wie ein absoluter Creep. Ich werfe den Slip stattdessen zu meinen eigenen Unterhosen. Scheißegal, dass ihr Höschen nach Vanille duftet. Das verfliegt ... Was für ein Schwachsinn.
Der Weg zu Vincent ist die pure Qual für mich. Als ich die glücklichen Paare, die plötzlich überall aus dem Boden zu wachsen scheinen, nicht mehr ignorieren kann, steige ich mitten auf der Strecke aus und laufe zum nächstgelegenen Kiosk. Um ein paar Euro ärmer, dafür aber um zwei Bierflaschen reicher, warte ich auf die nächste Bahn.
„Sie benimmt sich wie ein nervtötendes Kleinkind!", fluche ich wenig später, als ich zusammen mit meinem besten Kumpel auf dessen Balkon hocke. „Ja, genau! Natürlich ist alles meine Schuld", keife ich in zynischer Verachtung für Pari und spucke in den Aschenbecher. „Die Frau ist eine wandelnde charakterliche Katastrophe!"
„Dickerchen, Dickerchen", unterbricht mich Vincent. „Kein Disrespect an deine Feelings und so." Vorsorglich hebt er die Hände. „Aber so unvernünftig, wie du diesen Sommer warst, hab ich dich auch das letzte Mal mit sechzehn oder siebzehn erlebt. Du hast deine Reisen nach Paris immer geplant und mit mir abgesprochen, sodass ich das für SDP koordinieren konnte, aber dein beschissener Romantik-Trip mit Pari war 'ne Nacht-und-Nebel-Aktion. Du hast mich angelogen für diese Frau, Alter. Ich bin dein bester Freund. Mädchen kommen und gehen – ich bleibe. Verscherz es dir mit denen meinetwegen nach Lust und Laune, aber mich wirst du aushalten müssen, bis du ins Gras beißt, also verscherz es dir lieber nicht mit mir."
Ich seufze.
„Bist du fertig mit deinem Selbstmitleids-Gejaule? Hatten wir das nicht längst durch?", frage ich ihn.
Mein bester Freund mustert mich düster von der Seite.
„Mann, mich hat das verletzt", meint er ernst.
„Ich weiß, Whynee, und es tut mir leid. Bin ich jetzt endlich wieder dran mit Rumheulen?"
Vincent atmet zischend aus.
„Los, mach halt weiter." Er klopft die Asche von seiner Zigarette ab, die er sich nur aus Solidarität angesteckt hat, und starrt den Horizont an, während er den nächsten Zug nimmt.
„Das mit ihr ging viel zu lange, ich hätte sie direkt in den Wind schießen sollen."
„Das Gleiche sagt sie über dich, das ist dir schon klar, oder?"
„Was sie sagt, zählt nicht mehr, auf ihr Wort ist eh kein Verlass", grummle ich.
„Ich verstehe, dass du angefressen bist, aber sie ist nicht die Einzige, die sich da in was verrannt hat", wirft Vincent ein.
„Alter, bitte hör auf, sie in Schutz zu nehmen, ich kann's nicht mehr hören. Gerade ist noch nicht der Zeitpunkt, beide Seiten verstehen zu wollen, okay? Ich leide hier."
„Gut, ich kann auch Löcher in die Luft starren, statt mich mit dir zu unterhalten."
„Hör doch einfach zu! Mann, dass du immer jeden Scheiß so voreilig kommentieren musst, das geht mir so auf die Nerven."
„Du gehst mir auch richtig hart auf die Eier", murmelt er und ich wende mich ihm zu. Er ist angespannt, die Adern an seinen Schläfen treten hervor.
„Wow, was ist denn los?", frage ich ihn, diesmal ernstlich erstaunt.
„Das fragst du noch? Mann, du hast deine komische Fickbeziehung über unsere Freundschaft gestellt! Du hast mich angelogen und du schämst dich nicht mal dafür. Was ist los mit dir, wer hat dir ins Gehirn geschissen, Dag?"
„Tut mir leid", rudere ich schuldbewusst zurück.
Aber Vincent ist noch nicht fertig.
„Ich hab's dir gesagt, wenn du dich in die verknallst, geht das nicht gut aus für dich. Du kannst dir nicht so 'nen Gefühlskrüppel wie Pari ans Bein binden, das macht deine Psyche doch gar nicht mehr mit seit Alexa."
„Die Sache mit Alexa hat rein gar nichts mit Pari zu tun", widerspreche ich.
„Doch, natürlich hat das was mit ihr zu tun", herrscht er mich an. „All deine Freundinnen danach hattest du doch nur, um sie zu ersetzen. Die große, strahlende Alexa, deine persönliche Göttin."
„Du laberst vielleicht eine Scheiße", knurre ich.
Vincent schüttelt lachend den Kopf, aber es klingt freudlos.
„Ich labere also Scheiße. Na, danke." Er steht auf und stützt die Arme auf der Balkonbrüstung ab. „Ich bin's leid, dass ich in deinem Leben immer der Trottel bin, sobald du dich verliebst. Glaubst du, mir macht das Spaß, dich daran zu erinnern, dass wir noch im Studio verabredet sind und Druck auf dich auszuüben, weil du mal wieder keinen Bock hast und es lieber irgendeiner Tussi besorgst? Am besten auch noch in Paris, ohne mir vorher Bescheid zu sagen?" Er blickt mich über die Schulter hinweg enttäuscht an. Ich würde gern irgendwas sagen, aber ich bringe keinen Ton raus.
„Weißt du, Dag", setzt Vincent erneut an. „Manchmal bin ich fast sicher, meine Beziehung mit Charlotte wäre nie in die Brüche gegangen, wenn du irgendwann mal mehr Verantwortung übernommen hättest."
„Du weißt genau, dass das absoluter Bullshit ist. Ich habe rein gar nichts mit eurer Trennung zu tun, die Scheiße hast du dir schön selbst zuzuschreiben", erwidere ich kühl. Vincent vergräbt sein Gesicht in den Händen.
„Ja ja. Ich meine nur, du bist nicht der einzige, der Probleme hat."
„Und wieso redest du nicht mit mir darüber, wenn ich fragen darf?", feuere ich zurück.
„Weil du zuletzt so viel Zeit und Muße hattest, mir zuzuhören, meinst du?", verspottet er mich.
„Ey, ich kann doch nichts für meine Gefühle", verdrehe ich die Augen.
Vincent schnaubt bloß.
„Nee, ich aber auch nicht."
„Digga", meine ich leise. „Komm, setz dich mal wieder hin jetzt." Vincent reagiert nicht, sondern stiert den Horizont an, auf der Suche nach dem rettenden Silberstreif. Ich stehe auf und trete zu ihm an den Balkonrand. „Wir sind beide unglücklich wegen Frauen und statt uns gegenseitig wiederaufzubauen, streiten wir", beschreibe ich unsere derzeitige Situation. „Das sollte doch nicht so sein, wir sind doch beste Freunde, Whynee." Ich lege ihm eine Hand auf den Rücken und beobachte, wie sich seine Kiefermuskulatur für ein paar Sekunden anspannt.
„Warum sind wir eigentlich solche Flachpfeifen?", fragt er mich schließlich und ich muss grinsen, was ihn glücklicherweise ansteckt. Länger hätte ich die miese Stimmung zwischen uns vermutlich ohnehin nicht abgekonnt. Lächelnd boxe ich ihn in die Seite.
„Du bist meine Lieblingsflachpfeife." Vincent lacht.
„Kann ich nur zurückgeben." Aus dem Nichts umarmt er mich schließlich und ich drücke ihn fest. Er ist sonst gar nicht der Typ für Umarmungen. Die Geschichte mit seiner Ex-Freundin Charlotte geht ihm offenbar echt verdammt nah. Bisher muss ich das wirklich unterschätzt haben. Ein bisschen schäme ich mich dafür. Mein bester Freund ist wie ein Bruder für mich und ich habe ihn mit seinem Liebeskummer einfach allein gelassen, nachdem Pari in mein Leben getreten ist. Ihm geht's echt unter aller Sau und mir war es wichtiger, diese beschissene Affäre unter Dach und Fach zu bringen. Dabei hätte ich mich um Vincent kümmern sollen.
„Tut mir leid, dass ich nicht für dich da war", entschuldige ich mich endlich aufrichtig bei ihm. Spontan nach Paris zu fliegen und ihm nichts davon zu sagen, ist nur das, was sich auf der Oberfläche eines riesigen Fehlers spiegelt, den ich begangen habe: Ich hätte fast unsere Freundschaft zerstört.
„Du bist 'ner Illusion aufgesessen. Schon okay. Passiert ja hin und wieder", relativiert Vincent meinen Schmerz. Hin und wieder passiert das ... Ja, da hat er Recht. Mich lässt nur eins nicht los: Weshalb hätte ich es nicht checken sollen, wenn Pari mir die ganze Zeit bloß was vorgespielt hat? Vincent nennt es eine Illusion, aber Illusionen habe ich mir bei Alexa gemacht, kurz nachdem sie schräg unter mir eingezogen ist.
Paris Gefühle für mich waren kein Trugbild. Ich bin mir absolut sicher, dass sie es ernstgemeint hat, als sie mir gesagt hat, dass sie mich liebt. Dieser Moment zwischen uns war echt.
Sie ist einfach nur so kaputt.
Das Klingeln von Vincents Handy reißt mich aus meinen Gedanken. Als er sich entschließt, ranzugehen, seufze ich.
„Yo", begrüßt Vince neben mir wen auch immer, dann wendet er sich an mich. „Das ist Iara. Bist du zu sprechen?"
Überrascht sehe ich runter auf das Telefon in Vincents Hand. Er deckt das Mikrofon ab.
„Nein", sage ich leise.
„Er ist nicht bei mir ... Ja, ich sag's ihm ... Ja ... Tschüss." Mein Kumpel beendet den Anruf. „Du sollst dich bei ihr melden", überbringt er mir ihre Nachricht.
Ich kann nur rätseln, was Iara von mir will. In Anbetracht der Tatsache, dass sie Paris beste Freundin ist, wird sie mich wahrscheinlich über meine aktuelle Sicht der Dinge ausquetschen wollen; mich vielleicht sogar bitten, ihr eine zweite Chance zu geben.
Aber ich bin müde. Überhaupt an Pari ranzukommen, war anstrengend genug. Ich werde mich hüten, nochmal die gleiche Tortur über mich ergehen zu lassen, nachdem sie eigenständig beschlossen hat, alles was wir hatten, in die Tonne zu treten. Wozu die Mühe, wenn das mit ihr jederzeit wieder so schnell einstürzen könnte wie ein instabiles Kartenhaus?
„Die Friendzone ist gar nicht so schlimm", lallt Vincent ein paar Stunden später. Wir sitzen auf seiner Couch. Auf der Couch, auf der sie und ich friedlich nebeneinander eingeschlafen sind, und es kommt mir vor, als wäre ein ganzes Jahrhundert vergangen seitdem. „Wenn du mit ihr befreundet wärst, könntest du sie wenigstens weiter anschauen, sie ist verflucht hübsch", fährt Vincent in seinen Überlegungen fort. Ich schwenke den Whiskey in meinem Glas, bevor ich ihn austrinke.
„Nur gucken statt anfassen ist aber beschissen, wenn du erstmal weißt, dass anfassen noch geiler ist."
„Dir geht's doch nicht allein um den Sex mit ihr", durchschaut Vincent mich sofort.
Tja, Betrunkene sagen immer die Wahrheit, also zucke ich gleichgültig die Achseln.
„Aber doch zu 'nem erschreckend großen Teil. Ich vermisse es schon jetzt, sie zu vögeln."
Vincent lacht auf und legt mir einen Arm um die Schultern.
„Dagi, da draußen gibt's zigtausend Frauen, die sich 24/7 von dir flachlegen lassen würden. Wenn's dir ums Ficken geht, kann Tinder Abhilfe schaffen."
„Tinder", ächze ich. „Halt doch dein Maul, ich kann mir selber Abhilfe verschaffen. Ohne Tinder", betone ich.
Vincent grinst.
„Machst du bestimmt mit links." Er schielt noch extra auf meine linke Hand und ich lache.
„Verzieh dich." Ich schiebe ihn weg von mir und Vince schüttet sich den restlichen Whiskey direkt aus der Flasche in den Rachen.
„Nichts geht über ein vernünftiges Saufgelage", befindet er, ehe er den geleerten Schnaps auf dem niedrigen Tisch vor uns abstellt.
„Fuck", entwischt es mir leise in einem Anflug plötzlicher Rationalität und ich fahre mir durchs Haar. „Sind wir etwa wieder sechzehn, Dicka?" Ich stelle die Frage in den Raum hinein und sie verhallt in Vincents Wohnzimmer. Mein bester Freund hat die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Ich bezweifle, dass er mir zugehört hat. Er verblüfft mich vollkommen, als er bestimmt eine gute Minute später antwortet: „Ich wünschte, Alter. Manchmal wünschte ich, wir wären noch sechzehn."
Die Olle mit der Macke
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