13. Kapitel: "Wir können doch Freunde bleiben, hast du gesagt."

Ein Sprung auf die Papiermülltonne und ich greife nach der Regenrinne, schwinge mich auf den Zaun, der den Hinterhof zwischen den zwei niedrigen Wohnhäusern umschließt und ziehe mich von dort aus auf das Fenstersims. Meine Finger umklammern die Dachkante. Bald darauf sitze ich an den Schornstein gelehnt da und schaue mir den Sonnenuntergang an. Ohne ihn mit jemandem teilen zu müssen. Das ist nur für mich, so egoistisch wird man ja wohl noch sein dürfen. Mir ist kalt, aber es ist erträglich. Meine Gefühle spielen verrückt, die Raserei in meinem Kopf und meinem Herzen wird mich schon ausreichend aufheizen, dass ich das hier überlebe und selbst wenn nicht – Stopp, Dag. Suizidgedanken, ernsthaft?

„Du bist so kaputt", flüstere ich, schließe die Augen dabei und weiß nicht, ob ich mich, Pari oder die Welt meine.

Ich sinke mit dem Hinterkopf erneut gegen die nackte, kühle Steineinfassung und massiere mir die Schläfen. Meine Kopfschmerzen werden mich noch umbringen. In der Innentasche meines Windbreakers habe ich Gras und Drehzeug verstaut. Die zulässige Menge für den Eigenbedarf, falls ich mal von den Bullen angehalten werden sollte. Kiffen oder nicht kiffen, das ist hier die Frage. Ich halte das Plastiktütchen bloß in der Hand, statt es zu öffnen. Warum zögere ich? Welche der vielen Stimmen, die in meinem Kopf wild durcheinander plappern, redet mir gerade ins Gewissen? Und wieso hat sich diese Stimme früher nie zu Wort gemeldet? Bin ich so ein Spießer geworden, dass ich auf einmal anfange, auf die Ratschläge meiner Mutter zu hören? Wenn ich nicht aufpasse, entwickle ich mich noch zurück ins Säuglingsalter.

Der Drang, mich von diesem Dach zu stürzen, ist noch immer da, aber er lässt nach, wenn ich in den leuchtenden Himmel schaue, der in den hübschesten Farben glüht. Warmes Orangegelb und über den Wolken das elektrische Blau, wie Rosenblüten, die auf der Meeresoberfläche treiben. Der Anblick wäre ein trügerisch schöner letzter Eindruck von dieser Erde, bevor ich sterbe, aber mein Todeswunsch hat sich beinah aufgelöst. Ich spüre mit voller Macht dieses Verlangen, das mich quält, die unbändige Sehnsucht.

Eigentlich sitze ich ungern still. Doch nachdem ich gerade drei Stunden ununterbrochen auf dem übelsten Parkour-Film durch diese Gegend der Stadt gehechtet bin, in der ich schon immer mal tracieren wollte, bin ich körperlich zu erschöpft. Wut, Angst und Beklemmung sind mir dabei fortgelaufen. Durch die Anstrengung hat sich mein Geist für einen Moment von meinem Körper gelöst. Alles, was mir geblieben ist, ist das Bild von Pari vor meinem inneren Auge, dass ich nun bewusst verblassen lasse, während ich im Schneidersitz hier oben hocke.

Ich will nicht länger Leute unter meiner schlechten Stimmung leiden lassen; ich denke, es ist besser, wenn ich mich vorerst wieder eine Weile isoliere. Vielleicht sage ich Vincent, dass ich krank bin – und lüge meinen besten Freund an als wär's nix, toller Plan. Kann ich dann ja gleich zur Gewohnheit werden lassen. Nein, damit ist jetzt Schluss. Ich muss ihm sagen, was mit mir los ist.

Wahrscheinlich war es falsch, die Einsamkeit so früh wieder aufzugeben. Hätte ich meinen Kopf weiter in Bücher gesteckt, wäre ich nicht zu Pari gefahren, um Mika sein Shirt zurückzugeben, und ich hätte mich nie mit Luna verkracht. Und hätte ich Alexa nicht geküsst, hätte ich sogar zwei Menschen an meiner Seite gehabt, mit denen ich ungehemmt über meinen Liebeskummer hätte sprechen können. Scheiße, was lässt mich eigentlich glauben, ich könnte mit meiner Ex-Freundin, meiner ersten großen Liebe, und einem Mädchen, das ich ihrerzeit selbst in die Friendzone verbannt habe, ungehemmt über meine Affäre sprechen? Das ist völlig irrational, genau wie Vincent gesagt hat.

Er hat Recht, er hat einfach Recht mit allem.

Ich bin der Dumme in dieser Geschichte und Pari ist eben nicht allein die Schuldige. Ich hab's so sehr versucht. Wo stünden wir heute, wenn es mir gelungen wäre, sie auszutricksen, sie zu einer Beziehung zu überreden, gegen ihren Willen? Müsste ich sie in der Nervenheilanstalt besuchen? Noch ein Pflegefall. Wie meine Oma.

Ich schlage mich mit dem Schmerz rum, der entstanden ist, als sie mich verlassen hat, aber wie würden mich die Schmerzen foltern, wenn Pari sich auf eine Beziehung mit mir eingelassen hätte? Ich habe alles getan, sie hat mir in ihrem Brief sogar Anerkennung dafür gezollt, aber warum hat es dann nicht gereicht? Ich liebe diese Frau doch offensichtlich mehr als mein eigenes Leben. Wenn ich sie nicht retten konnte und meine Liebe sie nicht geheilt hat, was hilft da überhaupt noch? Wie will sie sich vor sich selbst schützen? Sie ist allein im Iran und sie hat doch keine Ahnung, wie grausam sie sein kann. Pari weiß nicht, wozu sie fähig ist. Was, wenn sie sich selbst verletzt? Ich hätte sie vorhin nicht anschreien dürfen am Telefon.
Ich hätte Mama nicht anschreien dürfen, vor allem nicht vor Oma. Hätte, hätte, Fahrradkette. Irren ist menschlich. Show must go on. Füge hier beliebige andere Binsenweisheit ein.

Dann rauche ich das Gras doch, inhaliere den Qualm, lasse ihn meine Lunge zerfressen, bevor ich ihn in die anbrechende Nacht entlasse. Ich nehme mein Handy aus der Tasche. Keine verpassten Anrufe, keine Nachrichten.
Vincent hat sein Profilbild geändert. Es zeigt nicht mehr ihn und mich im Studio, sondern ihn und Charlotte. Er würde mich nie durch seine Freundin ersetzen und trotzdem fühlt sich dieses klammheimlich ausgetauschte Foto an wie ein Peitschenhieb mitten ins Gesicht. Ich tippe auf unseren Chatverlauf und auf das Mikrofon-Symbol rechts über der Tastatur, um eine Sprachnachricht aufzunehmen.

„Hey ... Ich wollte mich bei dir entschuldigen, für mein Verhalten im Studio heute und in der ganzen letzten Zeit. Vorhin hab ich mich im Altenheim mit meiner Mutter vor den Augen meiner Oma gestritten, dann hab ich Pari angeschrien, die mich tausendmilliardenmal angerufen hat und irgendwie, jetzt im Nachhinein, komm ich mir vor wie das letzte Arschloch. Kein Plan, Mann ... Alter, ich weiß echt nicht, ich hab mir selbst so sehr wehgetan wie noch nie in meinem Leben durch die Sache mit Pari. Ich will von ihr loskommen, aber es ist wie mit Alexa damals oder noch schlimmer. Ist zu frisch, um das zu beurteilen. Ungünstiger Zeitpunkt gerade für mich, um bei SDP auszufallen, ich weiß. Aber du bist mein Bester, Vincent, wenn du mich nicht verstehst, dann hab ich niemanden mehr. Ey, ich hoffe wirklich, du magst mich noch, wenn wir uns dann wiedersehen. Wann auch immer das ist. Ich lass mein Handy ein paar Tage aus, schließ mich ein, du kennst das ja. Du kannst aber vorbeikommen, Dicka, für dich spiel ich immer gern den schlechten Gastgeber", scherze ich noch. „Grüß Charlotte, Küsschen aufs Nüsschen", verabschiede ich mich endgültig und als das Display schwarz wird, fühle ich mich langsam ein Stückchen leichter. Ausreichend jedenfalls um den Heimweg anzutreten.

In diesem Viertel hat Berlin echt Dorfflair, die Straßen sind leer, ein paar Leute führen ihre Hunde aus und ich begegne einem mageren Fuchs, der mich an mich selbst erinnert, weil er geknickt läuft, müde und geschlaucht wirkt. Das arme Tier sieht aus wie mindestens zweimal vom Laster überrollt.

Im Supermarkt bin ich einer der Letzten, ich strolche durch die Gänge, sammle Gemüse und Obst ein. Wenigstens meine Ernährung sollte einigermaßen ausgewogen bleiben, solange wie ich mich in meiner Bude verbarrikadiere. Ich ignoriere den Kassierer, der alles andere als begeistert aussieht, während er meinen Großeinkauf über den Scanner zieht. Mit zwei randvollen Tüten in den Händen spüre ich, dass meine Muskeln brennen. Ich muss unbedingt heiß duschen, Lungenentzündungen enden bei chronischen Rauchern statistisch gesehen sehr viel öfter tödlich. Vielleicht sollte ich aufhören mit dem Scheiß. Aber wozu? Ist ja nicht so, als gebe es eine Frau in meinem Leben, mit der ich zurzeit Kinder zeugen will. Ich wäre ohnehin ein grausiges Vorbild.

Linus hat einen Zettel an meine Wohnungstür geklebt und eine Zeichnung. Darauf sind er, Alexa und ich zu sehen. Oder unsere Krickel-Krakel-Vertreter. Und wir sehen aus, wie eine glückliche Familie. Tja, tut mir leid, Linus, dein echter Papa ist ein Vergewaltiger, vor dem ich deine Mama nicht beschützen konnte. Meine Gedanken wandern automatisch zu Alexa und zu dem Augenblick, in dem ich sie nach Jahren das erste Mal wiedergesehen habe. Ihre schwarzen Haare waren nass, wohl gerade frisch gewaschen; sie hatte ein Tablett mit selbstgebackenen Brownies in der Hand, die sie an die Nachbarn im Haus verteilen wollte und hat mich aus ihren dunklen Augen angeblickt, als wäre ich ein Geist aus ferner Vergangenheit. So war es ja auch. Das Tablett fiel ihr runter und die Brownies waren durch den Dreck auf meiner Fußmatte danach ungenießbar, aber anstatt die verdorbenen Küchlein zu bedauern, haben wir uns bei mir auf die Couch gesetzt und geschlagene zwei Stunden miteinander geredet. Es hat sich genauso angefühlt wie in unserer Jugend; ganz genauso wie damals. Wir haben gelacht, wir haben getrunken und geflirtet ... Es war, als hätte das Schicksal sie mir gesandt. Ich dachte, nach meiner Durststrecke, die streng genommen mit der Trennung von Alexa eingesetzt hatte, versucht mich das Universum endlich für meine Geduld mit der Liebe zu entlohnen. Meine erste große Liebe könnte doch meine Bestimmung sein. Wie in den großen Romanen.

Wenn ich in einem Buch gelesen hätte, was mit Alexa und mir in den Monaten darauf passiert ist, ich hätte es brüllend an die Wand geschleudert. Ihr Strahlen an dem Abend, als wir festgestellt haben, dass wir Nachbarn sind, war genauso fröhlich wie ihre Miene unendliche Trauer widergespiegelt hat, als sie mir beichten musste, dass sie schwanger war. Nicht von mir, ihrem Ex-Freund, sondern von ihrem Freund. Ihrem gewalttätigen Freund, der in Polizeigewahrsam genommen worden war, weil er sie grün und blau geprügelt hatte.

Wieso bin ich über zigtausend Dinge noch nicht hinweg? Nicht nur die Sache mit Alexa belastet mich noch immer, die Trennung meiner Eltern hat ein tiefes Loch in die Beziehung zu meinem Vater gerissen, dass wir bis heute nicht vollständig flicken konnten, die voranschreitende Demenzerkrankung meiner Oma zieht mich runter ... Warum schaffe ich es nicht, diese ganzen Sorgen ein für alle Mal loszulassen? Ich klammere mich an die Vergangenheit, als hinge mein zukünftiges Leben davon ab. Fuck, ich muss nicht erst zu Pari werden: Ich bin längst wie sie. Wir verletzen Menschen, die uns nahestehen. Nicht willentlich, aber macht das irgendeinen relevanten Unterschied? Gegen diese Parallele in unserem Verhalten hätte ich mich an ihrer Stelle auch mit Händen und Füßen gewehrt, gestehe ich mir ein.

Ich habe angefangen Kartoffeln zu schälen, blicke auf meine Finger, stocke, lege das Schälmesser weg und stelle fest, dass ich zittere. Erst duschen, dann kochen, beschließe ich. Mit geballten Fäusten lasse ich in der Küche alles stehen und liegen und laufe ins Bad. Meine Klamotten fallen auf die weißen Fliesen. Dann lasse ich warmes Wasser über meine Haut rinnen und das prasselnde Geräusch vermischt sich mit meiner Stimme. Es ist ewig her, seit ich unter der Dusche gesungen habe und diese Flucht in die Vergangenheit beruhigt mich, wenn auch nur kurzfristig.

Nämlich nur bis ich den Spiegelschrank öffne und Paris Lippenstift in Rosa, ihre Wimperntusche, Rouge, kurzum einen beachtlichen Bruchteil ihrer Schminksammlung darin vorfinde, zusammen mit einer Haarbürste. Unschlüssig nehme ich jeden einzelnen Gegenstand in die Hand. Was soll ich damit machen?

Seufzend hole ich eine Plastiktüte aus dem Schrank, die eigentlich für den Badmülleimer gedacht ist und sammle den Kram darin. Ein fester Knoten noch, damit nichts rausfällt und ich verstaue ihr Zeug bei den Putzmitteln ganz weit hinten. Auf dass ich es nie wiedersehen muss. Zumindest solange nicht, bis sie es vielleicht eines Tages mal zurückhaben will.

Ich betrachte mein Gesicht im Spiegel, das Farbe angenommen hat, seit ich aus der Dusche gestiegen bin. Wem will ich eigentlich was vormachen? Ich wünsche mir nach wie vor, dass Pari zu mir zurückkommt. Meine Wut auf sie kann nichts an dieser Tatsache ändern. Ich muss dringend aufhören, mich dafür zu schämen, dass ich sie vermisse.

Ich muss immer an dich denken

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