Kelly beobachtete ihn von der Seite. Seine breite Statur, die Muskeln die sich unter den Klamotten abzeichneten und der ausgelassene Gesichtsausdruck. Nach einer Weile begann er zu pfeifen und sie musste unwillkürlich lächeln und flüsterte leise den Text mit. "Sie kennen das Lied?", fragte er überrascht. Kelly nickte leicht. "Meine Mutter hat es mir oft vorgesungen, es ist ein wirklich wunderschönes Lied." "Das stimmt. Mir hat meine Mutter dieses Lied beugebracht als ich 4 wurde. Sie meinte, irgendwann würde mir dieses Lied das Leben retten. Keine Ahnung, wie sie das meinte, aber naja, fragen kann ich sie auch nicht mehr.", seine Stimme hatte etwas niedergeschlagenes an sich. "Oh das tut mir leid", meinte Kelly und blickte zu Boden. "Oh nein, sie ist nicht tot, wenn Sie das meinen. Meine Mutter lebt in einem Altenheim und leidet unter Alzheimer.", lächelte er kurz. Irgendetwas stimmte mit diesem Mann nicht, seine schnellen Stimmungswechsel und dieser unbeschwerte Ton, selbst wenn er von traurigen Sachen berichtet.... Kelly nickte und folgte ihm weiterhin.

Die Zeit schien zu verfliegen, Kelly hatte jegliches Zeitgefühl verloren und lief einfach neben Nik her. "Erzählen Sie doch ein bisschen etwas über sich!", meinte sie irgendwann. Sie waren bereits am Stadtrand angekommen und streiften durch die menschenleeren Straßen. "Da gibt es nicht sehr viel zu erzählen. Mein Vater ist seit einigen Jahren tot und meine Mutter lebt im Altenheim, ich verbringe meine Freizeit damit, durch die Wüste zu wandern und immer wieder neue Gebiete zu erkunden. Aber seit neustem rette ich auch nette junge Damen davor in einen Abgrund zu fallen", grinste er. "Danke", sagte sie kurz und blickte wieder nach vorn. Ihre Beine taten langsam weh, doch sie wollte sich nichts anmerken lassen. "Keine Sorge, es ist nicht mehr weit, aber es ist auch nicht gerade ein Palast.", lächelte er und wandte sich Kelly zu. "Wieso wollten Sie springen?", fragte er plötzlich und Kellys Herz begann schneller zu schlagen. Ja, wieso? Weil eine alte Frau sagte, dass du wieder in deiner Welt aufwachst? Das klingt selbst in deinen Ohren verrückt! Sie schwieg und sah zu Boden. "In Ordnung, sie wollen wohl nicht darüber reden", er bog in eine kleinere Gasse ab und blieb vor einer Eingangstür stehen. Er kramte eine Zeit lang in seinen Taschen und zog einen Schlüssel daraus hervor. Kelly lächelte freundlich. "Na dann treten Sie mal ein, Kelly", meinte er und hielt ihr die Tür auf. Sie betrat die Wohnung nur vorsichtig und sah sich um. Die Wohnung war aufgeräumt, an den Wänden hingen große Poster mit Sachen, die Kelly nicht kannte, doch sie konnten den schlechten Zustand der Wohnung nicht verdecken. "Nett hier", meinte sie leicht lächelnd und sah sich um. "Ich weiß es gibt nicht viel her, aber naja es ist mein Zuhause.", er zuckte entschuldigend die Achseln. "Ach was, ich meins erst. Es ist gemütlich und eingerichtet, mehr braucht man nicht" Er lachte, "Von dieser Seite hab ich es noch nie gesehen!", meinte er nachdenklich und ließ sich auf die Couch fallen. "Entschuldie, willst du was essen?", schnell stand er wieder auf. "Nein nein, nur keine Umstände. Ich brauche nichts." "Es macht keine Umstände." Sie schüttelte den Kopf. "Ich brauche wirklich nichts.", sie lachte und setzte sich auf das Sofa. Langsam setzte Nik sich neben sie. "Also dann, wieso wolltest du springen?", er machte ein ernstes Gesicht und auf ihrem Gesicht zeichnete sich der Schrecken ab. "Ach komm, sag bloß, du dachtest ich wär blind. Mir war von Anfang an klar, dass du nicht abgerutscht bist, aber ich fand es unhöflich so direkt zu fragen", er musterte sie von der Seite. "Und jetzt nicht mehr?", fragte sie und fügte nich etwas leiser hinzu, "Es hatte persönliche Gründe." "Was könnte so schlimm sein, dass man sich umbringen möchte?" Sie dachte nicht über ihre Antwort nach sondern es sprudelte einfach aus ihr heraus. "Fremd in der eigenen Stadt zu sein. Nicht zu wissen, wer man ist und seine Familie nicht mehr gesehen hat und sie vermutlich nie wieder sehen wird..."

Schweigen.