3.
Vorsichtig, um nicht entdeckt zu werden, schlich Juna durch die Gänge. Ihr langes Nachthemd aus silberweißer Seide umflatterte ihre Knöchel. Im Treppenhaus linste sie vorsichtig um die Ecke, bevor sie die breite Treppe aus dunklem Holz hinunterschritt. Auf diesem Weg gelangte sie in die Eingangshalle und versteckte sich dort in einer Nische hinter der Statue eines Elfs in Kriegeruniform, um über ihr weiteres Vorgehen nachzudenken.
Zu versuchen, durch den Haupteingang nach draußen zu gelangen, wäre unklug, denn er wurde rund um die Uhr bewacht. Es blieben also noch der Dienstboteneingang - doch das wäre vermutlich auch unklug, zu groß war die Gefahr einem der Bediensteten zu begegnen, die alle ganz genau wussten, dass ein Mädchen am Tag vor seiner Hochzeit nicht im Haus herumzugeistern hatte - oder aber eins der Fenster im Erdgeschoss. Juna beschloss, es mit letzterem zu versuchen, kroch wieder hinter der Statue hervor, durchquerte zügig die Halle und schlich einen weiteren Gang entlang. Schließlich öffnete sie die Tür zum Speisesaal einen Spaltbreit und schlüpfte hinein.
Der Raum lag in völliger Stille da. Nach dem Abendessen war bereits abgeräumt worden, und nun würde für lange Zeit niemand mehr darin speisen. Ihr Frühstück würde Juna morgen früh in ihrem Zimmer einnehmen, und ihr Mittagessen würde bereits das Festmahl im Haus ihres frischgebackenen Ehemannes sein. Bei diesem Gedanken krampften sich die Eingeweide der jungen Frau zusammen. Der Abschied war auf einmal so greifbar geworden, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Schnell blinzelte sie sie weg und konzentrierte sich auf ihr Ziel. Das Fenster ganz links im Saal ließ sich am leichtesten öffnen. Daran konnte sich Juna erinnern, weil sie mit ungefähr fünf Jahren eine Phase gehabt hatte, in der sie unbedingt auf dem Fenstersims sitzend hatte essen wollen, während Schmetterlinge an ihrer Nase vorbeiflatterten. Adelaida hatte sie stets getadelt wenn sie sie dabei erwischt hatte, doch insgeheim hatte sie schmunzeln müssen.
Irgendwann war Juna aus dieser Phase herausgewachsen, aber jetzt erwies dieses Wissen sich noch als nützlich. Vorsichtig öffnete sie das Fenster, zog sich am Sims hoch, schwang die Beine nach draußen und landete mit einem leisen Plumps in einem Mondblumenbeet.
"Verzeiht bitte!", flüsterte sie den Blumen zu, deren Stängel sie zerknickt hatte, und versuchte sie so gut es ohne Magie ging aufzurichten. Dann schlich sie an der Wand entlang weiter, darauf bedacht keine weiteren Pflanzen zu zertreten.
An der Rückseite des Gebäudes, wo es nicht mehr so wahrscheinlich war gesehen zu werden, wurde Juna entspannter. Die Erde unter ihren bloßen Füßen fühlte sich kühl an. Nachdenklich spazierte sie an den Orten entlang, mit denen sie aufgewachsen war, und spürte, wie Wellen der Traurigkeit drohten sie zu übermannen.
Doch gleichzeitig mit dieser Melancholie wurde sie von glücklichen Kindheitserinnerungen überschwemmt, und so hüpfte sie die Obstbaumallee entlang, grub ihre Zehen in die Erde des Gemüsegartens von Lys, der Köchin, schöpfte Wasser aus dem hübschen kleinen Teich mit den fluoreszierenden Seerosen und versuchte eine der winzigen, bläulich-violett leuchtenden Feen einzufangen, die wie ein Glühwürmchenschwarm darüber kreisten. Die Wesen stoben auseinander und Juna kicherte kurz unbändig, bevor sie wieder in ihrer Traurigkeit versank.
Je näher sie den Grundstücksgrenzen kam, desto wilder wuchsen die Pflanzen. Die Bäume wurden höher, der Boden war bedeckt von Moos und Tannennadeln, und das emotionale Wirrwarr in Junas Innerem legte sich ein wenig. Der Wald hatte schon immer so eine entspannende Wirkung auf sie gehabt. Wann immer sie wütend war oder sich einsam fühlte, kam sie hierher, seit sie denken konnte. Das Geflüster der Bäume tröstete sie, auch wenn sie nicht verstand was sie ihr sagten.
Den Weg zu ihrer Lieblingslichtung kannte Juna im Schlaf. Hier, nicht weit von der Grundstücksgrenze, hatte sie als Kind im Schutz der mächtigen Eichen immer gespielt. Als die vertrauten Umrisse der Bäume in Sicht kamen, legte Juna den Kopf in den Nacken, breitete die Arme aus und drehte sich unkontrolliert um die eigene Achse. Die Sterne am Himmel verschwammen zu leuchtenden Schlieren und Juna merkte, wie sich ihre Augen erneut mit Tränen füllten. Sie drehte sich immer schneller und schneller, bis sie schließlich nicht mehr konnte und sich auf das weiche Bett aus Moos fallen ließ.
"Ich muss vor dem Morgen mein Nachthemd wechseln", teilte sie dem Wald heiser flüsternd mit. Dann lag sie da und starrte zu den Sternen hinauf, während eine einzelne Träne aus ihrem Augenwinkel lief und auf den Waldboden tropfte.
Juna wusste nicht wie lange sie so dalag. Die Bäume rauschten. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Und auf einmal bemerkte die Elfe etwas merkwürdiges.
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