2.

Mit großen Schritten durchquerte Juna das Zimmer und blieb vor dem kleinen, hohen Rundbogenfenster stehen. Unter ihr erstreckten sich die ins Mondlicht getauchten Ländereien des Anwesens ihres Vaters, auf dem sie die letzten sechzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Erst jetzt, mit der Aussicht diesen Ort am nächsten Tag für immer zu verlassen, wurde ihr bewusst wie glücklich sie hier eigentlich gewesen war. Zwar hatte sie sich immer nichts sehnlicher gewünscht, als dem Anwesen zu entfliehen und die Welt zu erkunden, doch das war ihr auf Befehl ihres Vaters verboten.

Früher war das anders gewesen. Als Juna noch klein gewesen war, war der Fürst Taiklarr gemeinsam mit seiner Frau und Tochter sehr viel gereist, wie es für Männer von seinem Rang üblich war. Doch nachdem Junas Mutter an einer neuartigen Krankheit verstarb, war er zu dem Schluss gekommen, dass er seine Tochter nur beschützen konnte, wenn er sie auf ein Château mitten im Wald umsiedelte und sie dort vom Rest der Welt abschottete. Juna war nicht einverstanden gewesen, doch sie hatte da nichts mitzuentscheiden. Als sie älter wurde, konnte sie die Sorge ihres Vaters auch irgendwie verstehen. Diese Welt war grausam, ganz besonders für jemanden wie sie - ein junges Mädchen ohne Mutter, die sie weisen könnte - und er versuchte nur auf seine Weise ihr zu helfen.

Also versuchte sie das beste aus ihrer Situation zu machen. Sie verbrachte Stunden damit, zu lesen und sich über die Welt fortzubilden. Sie versuchte (mit mäßigem Erfolg) das Geflüster der Bäume zu verstehen oder bei Vollmond komplizierte magische Rituale durchzuführen. Sie freundete sich mit den Bediensteten an, ließ sich von Adelaida das Haareflechten beibringen und von dem alten Kobold, unter dessen Obhut die Bibliothek stand, Geschichten erzählen. Sie beschäftigte sich mit Kräuterkunde, mit Poesie, mit Nähen. Ihren Vater sah sie nicht oft, doch wenn er sie besuchte, wurde jedes Mal ein Festmahl serviert und er brachte ihr Geschke mit, die sie von weit entfernten Ländern träumen ließen.

Ja, es war trotz allem eine unbeschwerte Kindheit gewesen. Junas Mund umspielte ein kleines Lächeln.

Doch morgen würde alles vorbei sein. Der Blick der Elfe fiel auf ihre eigene Spiegelung in der dunklen Fensterscheibe. Das Gesicht mit der spitzen Nase und den sturmgrauen Augen schien noch blasser als sonst. Ihre hellbraunen Haare verschlangen sich dank Adelaidas Flechtkunst elegant auf ihrem Hinterkopf. Der Knoten diente dazu, ihre Magie in dieser Nacht zu binden. Am nächsten Tag würde ihr Bräutigam ihn dann lösen, den Zopf aufflechten und die darin gespeicherte Energie mithilfe eines speziellen Rituals an sich binden. Je besser das Haar der Braut aufgeladen war, desto stärker das Band. Der Ehemann hatte mehr Kontrolle über die Magie seiner Frau, und wenn er starb konnte es passieren dass sie ihre Magie vollständig verlor.

Genau das war Adelaida widerfahren. Nach dem Tod ihres Ehemannes war ihr Haar farblos und schlaff geworden, und jegliche Fähigkeiten Dinge in ihrer Umgebung zu kontrollieren oder magische Rituale an sich selbst durchzuführen waren ihr abhandengekommen. Ihre Haut hatte begonnen Falten zu schlagen und unter Einfluss der Sonne braun zu werden. Solche "verlorenen Witwen" waren nicht mehr heiratsfähig und wurden von der Allgemeinheit weitgehend ignoriert. Meistens stellten sie sich in den Dienst von irgendjemandem, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, oder aber sie zogen in irgendeine abgelegene Hütte mitten im Wald und versorgten sich selbst durch Jagen, Sammeln und Gartenbau. Es war nicht viel über sie bekannt.

Juna hatte diese Möglichkeit, ein Leben zu führen, lange durchdacht. Seit sie von ihrer Verlobung mit Fürst Epjsan erfahren hatte, war sie alle ihre Perspektiven im Kopf wieder und wieder durchgegangen. Flüchten kam nicht infrage, sie kannte sich schließlich überhaupt nicht in der Umgebung aus und man würde sie finden. So blieb ihr nur noch übrig zu hoffen, dass ihr Vater den Anwärter nach Anstand und nicht nach Geld ausgewählt hatte, und vorzusorgen für die Zeit, wenn ihr Ehemann starb.

Schließlich hatte Juna sich dafür entschieden, alles in Ihrer Macht stehende zu tun, damit das Band möglichst schwach wurde. Das bedeutete zwar, dass sie, wenn sie verwitwen sollte, sofort neu verheiratet werden würde, aber dafür würde sie während der Ehe etwas mehr Kontrolle über ihre Magie haben. Außerdem machte ihr die Aussicht, eines Tages ihre Magie zu verlieren, unglaubliche Angst. So schlimm sie das Heiraten auch fand, mit dem Langsamen Zerfall ihres Körpers und der Machtlosigkeit, die daraus folgen würde war das nicht zu vergleichen.

Also durfte sie in dieser Nacht nicht schlafen, damit sich ihr Haar möglichst schlecht auflud. Sie konnte die ganze Nacht in ihrem Zimmer herumsitzen - oder aber noch ein letztes Mal auf den Ländereien spazieren gehen. In einem plötzlichen Anfall von Kindheitsnostalgie fasste Juna diesen Entschluss und verließ leise ihr Zimmer.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top