Kapitel 89 - Mitte Oktober
Am 15. Oktober begann das Semester. Tom hatte den Tag herbeigesehnt, obwohl es Trennung von seiner Süßen bedeutete.
„Soll ich dich begleiten und Händchen halten?" zog sie ihn auf.
Sie lagen im Bett, hatten ein bisschen Spaß zusammen gehabt, die Einführungsveranstaltung begann erst um elf.
Er sah sie verständnislos an. „Ja, freilich! Ich habe schon damit gerechnet, dass du jeden Tag mit gehst, dich auf meinen Schoß setzt, und wenn die Vorlesung sehr langweilig ist, ein bisschen mit mir knutschst!"
Er zeigte ihr, was er meinte. „Oder ein bisschen mit mir rummachst! Da gibt es ganz viele Innenhöfe an der Uni!"
Sina hielt sich den Bauch vor Lachen. „Okay! Mir ist das recht!" Sie alberten noch eine Weile, rollten im Bett herum, wurden plötzlich wieder atemlos, liebten sich zärtlich, die Trennung würde lang sein, mindestens drei Stunden!
Er duschte, zog sich sorgfältig an.
Sie kniff die Augen zusammen, als er ins Wohnzimmer kam.
Er sah ihren Blick, schalt sich einen Trottel!
Ganz in Gedanken hatte er das Shirt angezogen, das sie ihm letzte Woche gekauft hatte, das sie liebte, weil sie es superheiß fand an ihm.
„Sorry!" brummte er, ging sich umziehen, kam zurück mit einem alten Hemd, das sie hasste, weil sie Hemden grundsätzlich nicht mochte bei ihm, und weil die Farbe und das Muster echt ätzend waren.
Sie lachte. „Gibt es nicht irgendwas dazwischen?" fragte sie glucksend.
Sie ging mit ihm ins Ankleidezimmer, er hielt ein paar Klamotten an sich, bis sie nickte und sich schnell umdrehte.
„Paragraph 25 von Sinas Grundgesetz?" fragte er.
„Korrekt!" antwortete sie nur und ging lieber nach vorne.
Aber er war trotz allem zu spät dran.
Parkplatzsuche war nicht mehr drin.
Es war an der Uni eigentlich echt nicht möglich, einen Parkplatz zu finden.
Er wollte mit dem Bus fahren, bei gutem Wetter mit dem Fahrrad, aber heute regnete es Bindfäden.
„Soll ich dich fahren?" bot sie an.
„Das wäre wahnsinnig lieb, Süße!"
Hoffentlich sprang ihr Auto an!
Sie hatte es seit Wochen nicht mehr gebraucht.
Aber der Mini, den ihre Eltern ihr zur Einserprüfung geschenkt hatten, war sehr zuverlässig.
Tom versuchte, seine fast 1,90 m im Auto unterzubringen.
Es gelang nur bedingt.
Sein Kopf musste in Schieflage bleiben, was sie zum Lachen brachte.
„Kannst du nicht mit meinem fahren?" bat er.
„Können tue ich schon, dürfen muss ich halt!" zog sie ihn auf.
„Also, dürfen tust du auch!" lachte er und gab ihr den Schlüssel.
Sie stieg in die heiße Kiste, stellte alles auf ihre Kleinheit ein.
Sie fuhr los. „Wow! Der geht aber ab!" staunte sie.
„O je! Da habe ich wohl mal ein Auto gehabt!" witzelte er, sah sie verliebt an. Der Wagen stand ihr gut!
„Genau! Wir tauschen!"
„Gut! Wenn du einen Mann mit Schiefkopf haben willst, von mir aus!"
„Nein! Das wäre echt schade um meinen hübschen Tom!" Sie standen gerade an einer roten Ampel, er konnte sich beruhigt eine Kuss klauen.
Wütendes Hupen hinter ihnen zeigte, das der Kuss ein wenig zu intensiv ausgefallen war.
Tom hob entschuldigend die Hände. „Frau am Steuer!" frotzelte er.
„Macho!" konterte sie.
Er sah sie ernst an. „O, Süße! Ich bin alles andere als ein Macho! Ich bin ein total verknallter Softie!"
Sie lächelte ihn süß an, drückte seine Hand.
„Und wenn du nicht zu lächeln aufhörst, kannst du gleich wieder umdrehen! Ich glaube, die Einführungsveranstaltung ist gar nicht so wichtig!"
Ihr Mund, ihre Nähe, ihr Duft in dem engen Innenraum sorgten schon wieder für einen ordentlichen Druck in seinen Lenden.
Sie waren selten gemeinsam im Auto unterwegs.
Jetzt weiß ich auch, warum! dachte er gottergeben.
Sie warf ihn in der Nähe des Zentralgebäudes hinaus, küsste ihn schnell.
„Brav bleiben!" rief sie ihm nach.
O Gott, Süße! dachte er. Ich könnte gar nicht anders, und wenn ich es noch so sehr wollte!
Aber ich will es nicht im Geringsten.
Er spurtete los, er war eh knapp dran.
Der Hörsaal war bereits gut gefüllt, nur in der ersten Reihe waren noch ein paar Plätze frei.
Wie in der Schule!
Vorne wollten nur die Streber sitzen!
Er sah sich um. Die Kommilitonen waren alle zehn Jahre jünger als er, in seinen Augen fast noch Kinder.
Der Professor betrat den Raum, erklärte Details zum Studienablauf, Skripten wurden durchgereicht, in denen alles stand, was der Dozent erzählte.
Tom hasste solche Veranstaltungen, wenn man nur etwas erfuhr, das man auch ganz einfach hätte nachlesen können.
Die Anwesenheitsliste kam bei ihm an, die Seminarpläne wurden verteilt.
Seltsamer Weise fand er seinen Namen nirgends.
Am Ende kam die Erklärung dafür.
Der Professor entließ die Studenten. „Ist Herr Tom Bergmann hier?" fragte er dann.
Tom hob die Hand.
Alle Blicke hefteten sich auf ihn.
Na toll, erst den Streberplatz und dann noch ein namentlicher Aufruf.
Das fing ja gut an!
„Kommen Sie doch bitte kurz zu mir!" bat der Dozent.
Tom quetschte sich die enge Bankreihe entlang, ging nach vorne.
Der Professor gab ihm die Hand.
„Herr Bergmann, ich freue mich, Sie kennenzulernen!" Hundert Paar Augen lagen auf den beiden. „Dr. Gruber ist ein enger Freund von mir!" fuhr der Professor leise fort.
Die Studenten verloren das Interesse, verließen den Raum.
„Sie haben eine sehr erfolgreiche Tätigkeit als Rettungsassistent hinter sich. Im ersten Jahr finden ja hauptsächlich Anatomie-Vorlesungen und –seminare statt, die sie wahrscheinlich selbst halten könnten. Deshalb habe ich zusammen mit meinen Kollegen einen speziellen Plan für Sie ausgearbeitet. Sie steigen eigentlich gleich im dritten Semester ein, machen ein paar Prüfungen in Anatomie, bekommen den Schein. Das Praktikumssemester im letzten Jahr entfällt auch, Praxis haben sie ja mehr als genug. Das Doktorandenjahr verkürzt sich auch, also falls Sie eine Doktorarbeit schreiben wollen. Sie haben eine sehr fundierte Abhandlung über das Rettungswesen in Deutschland geschrieben, die müssten Sie eigentlich nur aktualisieren, dann ist die Doktorarbeit auch schon fertig. Also, wenn Sie sich dahinterklemmen, müssten Sie in dreieinhalb Jahren fertig sein!"
In Toms Kopf drehte sich ein Karussell.
Einerseits war es ein großartiges Angebot, andererseits hatte er sich auf fünf lockere Jahre mit Sina und den Kindern eingestellt, vor allem am Anfang während der Schwangerschaft und der ersten Monate als Zwillingseltern wollte er viel Zeit haben, nicht so viel büffeln müssen.
Allerdings hatte er den Stoff des dritten und vierten Semesters auch schon drauf, er lernte leicht. Er erklärte dem Professor seine Gedankengänge ganz offen.
„Das verstehe ich jetzt vollkommen!" antwortete der. „Die Zeit mit Kindern kommt ja nie wieder zurück. Aber ich denke, Sie hätten dann ja Luft, zeitlich gesehen. Wenn Sie die Prüfungen mal ein Semester verschieben wollen, wäre das sicher kein Thema. Sie wären ja auch nicht der erste.Manche verschieben zwei- oder dreimal. Sie wären ja in Ihrer Planung vollkommen frei. Die Zahlungen des Klinikums laufen fünf Jahre, niemand wird Sie unter Druck setzen!"
Tom war beruhigt.
Ja, so war es perfekt.
Er konnte selbst entscheiden, wie schnell oder langsam er fertig werden wollte. Und wenn er länger als fünf Jahre bräuchte, weil er leben wollte, wäre es auch kein Problem. Dann müssten sie eben ohne die 1000 Euro auskommen, dann flog er ein paar Einsätze und sie kamen klar, hatten ja auch ein finanzielles Polster.
Er lächelte den Professor glücklich an.
Der freute sich mit dem jungen Mann, der außerordentlich tüchtig war, wie Benno ihm berichtet hatte.
„Ich habe gehört, Sie haben eine sehr schöne und patente Frau!" merkte er noch an.
Tom strahlte ihn an. „Ja! Wir sind zwar nicht verheiratet, werden es auch nie sein, aber sie ist die Liebe meines Lebens! Und patent? Ja, sie ist sehr patent, meine kleine Krabbe!"
Er hatte diese eher altmodische Wort lange nicht mehr gehört, aber es traf den Nagel auf den Kopf.
Der Professor packte seine Unterlagen zusammen. „Benno hat mir von der Geschichte mit der Felsspalte in Garmisch erzählt! Und dass sie drei Stunden im Schneesturm ausharren musste, Ihnen aber nicht einmal den Kopf abgerissen hat!" meinte er beim Hinausgehen.
„Ja! So ist sie, meine Kleine!" sagte Tom stolz.
„Meine Frau war auch so! Leider ist sie letztes Jahr tödlich verunglückt! Skiunfall am Großvenediger, ein Betrunkener hat sie über den Haufen gefahren, sie ist den Abhang hinuntergestürzt. Man konnte sie erst zwei Tage später bergen, sie war erfroren! Vielleicht hätten Sie sie retten können!"
Der Professor hatte Tränen in den Augen.
Toms Atem stockte. „Das war ihre Frau? O Gott!"
Er erinnerte sich noch genau an das Drama.
„Ich war dort! Aber ich konnte sie nur noch tot heraufholen. Sie hatten mich zu spät gerufen, irgendein Kompetenzgerangel, falsche Eitelkeiten der dortigen Bergwachtspiloten, kostbare Stunden waren vergangen, bis ich losflog!"
Ins Gespräch vertieft verließen die beiden Männer das Gebäude. Ein kurzes Hupen ließ Tom aufsehen. Ein paar Meter entfernt stand seine Süße mit seinem Auto.
„Ah, mein Mädchen holt mich ab!" freute er sich.
„Na, dann kann ich sie gleich kennenlernen!"
Der Professor machte sich mit Tom auf den Weg. Sina stieg aus, Tom stellte die beiden einander vor.
„Frau Christen, Professor Osterwald!" Der Professor deutete einen Handkuss an. „Da hat der Benno aber gewaltig untertrieben!" merkte er lächelnd an.
Tom wusste, was er meinte.
Sie sah heute schon wunderschön aus!
„Wir könnte doch in der Pizzeria einen Happen essen!" schlug der Dozent vor. „Parken Sie dort drüben auf meinem Platz!" schlug er vor, als die beiden zustimmten. Er lief hinter dem Auto her, legte seinen Parkausweis hinein. „Ich bin heute zu Fuß hier!" erklärte er.
Im Lokal zeigte er ein Foto seiner Frau.
Sie sah aus wie eine ältere Schwester Sinas.
Unglaublich! dachte Tom.
Sie erzählten Sina von dem Drama.
„Sie hatte Energie für zehn! Als hätte sie gespürt, dass ihr Leben nur kurz sein würde!" erinnerte er sich.
„Und Sie fliegen auch Heli?" fragte er Sina.
„Nein, ich fliege nur mit! Für den Pilotenschein bin ich zu klein. Aber ich werde vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, wegen Benachteiligung Kleinwüchsiger!"
Der Professor lachte.
Er hatte sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt wie in Gesellschaft dieser verliebten jungen Leute.
„Haben Sie Kinder?" wollte Sina wissen.
Das Gesicht Dr. Osterwalds verdunkelte sich ein bisschen.
„Ich habe eine 15jährige Tochter, Jessi, die mir im Moment einige Sorgen macht. Seit dem Tod ihrer Mutter, für den sie mich verantwortlich macht, weil ich nicht mit in den Skiurlaub fahren wollte, ist sie mir mehr und mehr entglitten. Falsche Freunde, schlechter Umgang, alles eine Trotzreaktion! Seit einiger Zeit habe ich den Verdacht, dass sie Drogen nimmt!"
Tom wischte sich mit den Händen übers Gesicht.
Immer wieder diese verdammten Drogen!
Warum konnten die Kids denn nicht einfach die Finger davon lassen?
Kinder aus bestem Haus warfen ihre ganze Zukunft weg wegen dieses Drecks!
Sina erzählte von Toms Verein, er erzählten von ihrem Einsatz gegen Drogen vor Jahren.
Der Professor hörte aufmerksam zu.
Das waren schon zwei ganz besondere Menschen, Benno hatte Recht gehabt, als er ihm Tom ans Herz gelegt hatte.
„Am Samstag haben wir Mitgliederversammlung im Goldenen Ochsen. Sie können gerne vorbeischauen und beitreten!" schlug Tom lächelnd vor.
„Das werde ich tun!" versprach der Dozent. Dann ließ er sich noch informieren über Programme und Therapien, die der Verein anbot.
Sie saßen zwei Stunden, aßen Pizza, Nachtisch, tranken einen Espresso, Sina brauchte noch einen kleinen Eisbecher mit Sahne.
„Wo essen Sie denn das alles hin?" scherzte der Professor.
„Ich muss ja für drei essen!" gab sie zurück. „Und Tom wiegt mich täglich, wie ein Spanferkelchen!"
Die Männer lachten, Tom musste sie jetzt endlich mal küssen.
Der Professor bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen.
Sie gingen langsam durch den mittlerweile sonnigen Oktobertag zurück zum Auto, gaben dem Prof seine Parkkarte zurück, fuhren nach Hause.
Der Dozent sah ihnen nach.
Erfrischend, die beiden!
Das waren schöne Stunden gewesen, sie hatten ihm gut getan, ihn ein wenig abgelenkt von der Trauer um seine Frau und der Sorge um seine Tochter.
Zu Hause rief er Benno an, einen Freund aus der Schulzeit, berichtete ihm von dem Treffen.
„Hatte ich doch Recht, oder? Die beiden sind schon etwas Besonderes, nicht wahr?"
Er berichtete noch ein wenig vom Schicksal Sinas, wie ihr Mann sie beinahe erwürgt hätte, von ihrer durchgeknallten Schwester, der Anzeige gegen Tom, dem Nervenfieber des jungen Mannes.
Er hätte nicht so viel preisgeben dürfen, das wusste er schon, aber Freunden gegenüber musste man sich manchmal auch etwas von der Seele reden können.
Dr. Osterwald war überrascht.
Er hatte gedacht, die beiden hätten nur schieres Glück erlebt bisher, so fröhlich und unbeschwert wie sie schienen.
Doch manchmal täuschte der Eindruck eben gewaltig, sie hatten schon einen ganz schönen Packen auf ihrer noch jungen Liebe. Er wünschte ihnen von Herzen, dass es damit gut war!
Dass die Zukunft nur Gutes für sie brachte.
Zu Hause erzählte Tom ihr von den Vorschlägen des Professors.
Sie hörte atemlos zu, auch seinen Bedenken, seinen Argumenten und Gegenargumenten.
Dann lächelte sie, nahm ihn in die Arme. „Wir werden es einfach so ausprobieren. Es nehmen, wie es kommt! Denn, wenn ich mich recht erinnere, haben große Planungen bei uns noch nie so richtig geklappt!" antwortete sie schließlich.
Und er wusste, dass sie wieder einmal die richtige Antwort gefunden hatte, diese weise Krabbe, die nicht weise sein wollte, weil sie erst 25 Jahre alt war.
Ja, sie würden das Leben nehmen, wie es kam!
Und jetzt kam erst einmal ein langer Kuss, ein sanfter zärtlicher Kuss, ein Streicheln über weiche Lippen, eine Bitte um Zugang zu ihrer Zunge, ein Spiel mit ihr, ein zartes Saugen, ein leichtes Knabbern, ein Versprechen auf mehr Streicheln, Knabbern, Spielen!
Ein Versprechen, das sie sich beide gaben und das sie auch bald einlösten.
Der Rest der Woche verging schnell. Sie kochten fast jeden Abend, manches gelang, manches landete im Müll, dann gingen sie entweder weg oder bestellten sich etwas.
Selten gelang es ihnen auch, eine Fernsehsendung zu Ende zu sehen. Sie gingen viel spazieren, einmal kamen Patrick und Marie mit. Sie telefonierte mit ihrer Mutter, legte aber bald wieder auf, weil es schwer war, mit ihr zu sprechen, ohne Susanne zu erwähnen.
Fabian und Andrea kamen mit der süßen Lea vorbei, die sofort sehr an Sina hing, wie alle Kinder.
Beim Studium ging es langsam los, es war eine Woche der allgemeinen Orientierung. Manchmal schaffte es Tom, den Bus zu erwischen, manchmal hielt ihn eine kleine Krabbe im Bett gefangen, dann fuhr sie ihn.
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