Kapitel 52 - Donnerstag, 25.8. (*4*)
Patrick freute sich, als er Pauls Nummer auf dem Display sah. „Hallo, Provinzkleckser!" meldete er sich. Paul hatte auf Lautsprecher gestellt, die ganze Gruppe lachte. „Wo bist du denn? Auf einem spannenden Trachtenfest?"
„Sei lieber nicht so vorlaut, Künstler-Snob! Ich habe nämlich hier eine Geisel! Deine kleine Schwester!"
„Sina? Die ist meine große Schwester! Die ist zwei Minuten älter als ich, weil sie ein vorwitziges Weib ist! Wie kommst du denn zu Sina?"
Paul erzählte eine Zusammenfassung der Zufälle. „Unglaublich!" konstatierte Sinas Bruder. „Gib sie mir sie mal!"
„Sag, mal, ich habe gedacht, ihr macht Urlaub! Jetzt höre ich von Felsspalten und Schneesturm! Du passt aber schon auf auf dich, ja?"
„Ich nicht! Aber Tom passt auf!"
„Ja, toll! Schickt dich ausgerechnet in eine Höhle!" Patrick wusste doch um die Panikattacken, die sie als Kind immer gehabt hatte.
Tom zog den Kopf ein. Er konnte sich schon vorstellen, dass Patrick sauer war auf ihn. Sina musste lachen. „Jetzt hast du Tom buchstäblich einen Kopf kürzer gemacht!"
Der nahm ihr das Telefon aus der Hand, erklärte ihrem Bruder die Einsätze, dass Sina das Leben des Kleinen gerettet hatte. „Und davon hättest du sie auch nicht abgehalten, oder meinst du nicht?"
„Ja, sorry! Du hast schon Recht! Aber ich reagiere sehr empfindlich, was sie angeht, das weißt du ja!"
Sina rief laut: „Übrigens, wir bleiben noch eine Woche länger!"
„Na, prima! Jetzt hast du mich endgültig um meinen Nachtschlaf gebracht!" Sie legten auf.
Paul und Joe waren in der Zwischenzeit viele Gedanken durch den Kopf gegangen.
„Dann bist du die Schwester, wegen der er von Regensburg weggegangen ist, die eure Schwester praktisch in den Keller verbannt hat, die von ihrem Ex fast erwürgt worden ist?" fragte Joe.
„Ja, scheint so!" Das Ganze war so weit weg!
„Mannomann!" stöhnte Paul. „Da hast du ja in deine 25 Jahre ganz schön was reingepackt, Mädchen! Da kann man ja nur hoffen, dass das Schicksal damit genug angerichtet hat für den Rest deines Lebens!"
„Mit Sicherheit! Jetzt ist ja Tom da! Und jetzt Schluss mit der Vergangenheit! Heute wird mein hübscher Tom gefeiert!" Dieses Mal knutschte sie ihn nieder. Aber damit konnte er leben, sehr gut sogar, eigentlich außerordentlich gut!
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In München sah Patrick Marie liebevoll an. „Eigentlich könnten wir die beiden ja in Garmisch besuchen!" schlug er vor.
„Nachschauen, ob es ihr gut geht?" lachte sie.
„Nein! Ja! Vielleicht! Ein bisschen?" gestand er ein.
„Patrick! Bei Tom geht es ihr sicher gut! Aber so eine Nacht auf einer Alm wäre schon nicht schlecht!"
„Also, abgemacht! Morgen rufe ich an, ob sie da noch ein Zimmer haben, heute feiern sie ja!"
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Die Feier ging lautstark und lustig weiter. Viele Menschen klopften Tom auf die Schulter, viele Damen himmelten ihn an, viele Männeraugen blieben an Sina hängen.
Getrunken wurde zum Glück wenig, die meisten der Gäste mussten ja in der Nacht noch den langen Ziehweg den Berg hinunter gehen bis zum Parkplatz. Nur ein paar Ältere wurden in den Zimmern der Familie untergebracht. Die Hausgäste mischten sich unter die Verwandten, feierten fröhlich mit.
Bei Sonnenuntergang konnte sich Sina nicht mehr weigern, den Kindern eine Geschichte zu erzählen, weil sie so sehr bettelten.
„Das müsst ihr euch anhören!" erklärte Anna. „Das ist besser als Kino!"
So scharte sich eine große Menschenmenge um die im Gras sitzenden Kinder und Sina.
Paul und Joe standen bei Tom, als seine Süße anfing. Das war die spannendste Geschichte, alle hingen gebannt mit Augen und Ohren an der Erzählerin.
„Unglaublich!" stieß Paul hervor. „Sie hat ja ein unglaubliches schauspielerisches Talent!"
„Pst!" ermahnte Joe ihn.
Tom lächelte verträumt, stellte sich vor, wie ihre Kinder einmal um sie herum saßen und ihren Geschichten lauschten.
Aha, sagte die Stimme in ihm, jetzt sind es schon Kinder! Mach erst einmal eines!
Eine meiner leichtesten Übungen, antwortete er. Aber so ein Leben als Einzelkind ist auch nicht prickelnd! Zwei oder drei dürfen es ruhig werden! Er grinste bei dem Gedanken.
Dieses Mal durfte das Engelchen bei einem Kind im Bett schlafen, musste nicht auf die Wolke zurück, weil Petrus es belohnen wollte, dafür, dass es so tapfer gewesen war. Die Touristenkinder legten sich in die Betten, die der Verwandten durften in einem Nebenzimmer noch etwas spielen, die Gäste feierten weiter, waren aber tief beeindruckt von dem Erlebten.
Ein Akkordeonspieler spielte zu Tanz auf.
Christian forderte Sina auf, Anna Tom. „Keine Angst! Nur der eine Tanz! Wir haben den anderen schon gesagt, dass ihr euch nicht gerne trennt!"
„Ich liebe dich, Anna!" scherzte er.
„Lieb du nur deine Sina! Da hast du genug zu tun!"
„Wo sie Recht hat, hat sie Recht! Das ist echt ein Full-Time-Job!" lachte er.
Es war ein Zwiefacher, ein schwieriger bayerischer Tanz. Sina hatte ihn mal auf einer mehrtägigen Fortbildung für Volkstänze gelernt, kam ganz gut zurecht, vor allem, weil Christian sie hervorragend führte.
Tom kam auch klar, er hatte schon einmal mit Anna bei einer Sitzweil geübt, war außerdem ein begabter Tänzer.
Die anderen standen um die Tanzfläche herum, klatschten den Rhythmus mit.
Christian übergab Sina mit einer Verbeugung an Tom, nahm seine Frau in die Arme, die Tanzfläche füllte sich bei einem Foxtrott.
Danach kam ein Walzer. Sina und Tom schwebten übers Parkett, drehten sich so gekonnt, dass alle wieder Platz machten und dem hübschen Paar zusahen.
Nach einer Pause gab es ein paar langsame Liebeslieder, mit einem Akkordeon klangen sie ein wenig ungewohnt, aber schön. Eng aneinander geschmiegt drehte sich Tom mit seiner Süßen im Arm, tanzte mit ihr direkt auf Wolke Sieben.
Paul und Joe standen am Rand und beobachteten sie. Sie unterhielten sich über Sinas Schicksal, sie kannten jedes Detail.
Patrick hatte sich oft bei den Freunden ausgeheult, hatte ganze Abende lang nur von Sina erzählt, seiner anderen Hälfte. Und nun trafen sie es, das bildschöne Mädchen und sahen nur pures Glück!
Sie freuten sich von ganzem Herzen, auch wegen Patrick und Marie.
Sie bedauerten zwar, dass die beiden wieder nach Regensburg zogen, es war doch ein ganzes Stück weiter von Garmisch weg, wussten aber auch, dass der Freund in der Nähe von Sina sein musste.
„Wir könnten doch auch nach Regensburg ziehen!" schlug Joe vor.
Paul sah ihn an. „Ja, klar, das könnten wir! Da hätten wir es auch leichter als hier!"
„Gut! Dann planen wir das mal! Wir können uns ja Zeit lassen!" Joe hätte seinen Freund jetzt gerne geküsst, aber das wollte er den Feiernden dann doch nicht zumuten. Sie wurden zwar mittlerweile nicht mehr beschimpft in der Stadt, aber so recht akzeptiert hatte man sie auch noch nicht, eher geduldet.
Tom und Sina waren in sich selbst versunken, hielten sich im Arm, fühlten sich so wohl, so wohl miteinander, drehten sich zur Musik, drehten sich auch noch weiter, als die Musik Pause machte.
Die anderen Gäste schmunzelten. Na, das war aber ein herzerfrischendes Liebespaar! Der gutaussehende, große Lebensretter und die kleine Schönheit, die, wie man hörte, auch sehr tapfer war.
Als die beiden merkten, dass das Akkordeon verstummt war, dass alle ihnen zusahen, wie sie verträumt weiter tanzten, lächelten sie in die Runde.
Tom zuckte mit den Schultern. „Ich lasse sie immer ungern los!" erklärte er grinsend.
„Ist ja auch verständlich!" sagte einer der Gäste, was dem eine ordentlichen Knuff seiner Frau einbrachte.
„Puh! Jetzt wäre eine Zigarette recht!" Tom hatte schon ein wenig Entzugserscheinungen, gab es auch offen zu.
„Na, eine wird die Jungs schon nicht umbringen!" beruhigte Sina ihn.
„Ist ja auch noch eine Weile hin!" meinte er.
„Außerdem muss man seine guten Vorsätze immer so hoch hängen, dass man bequem darunter durch kann!"
Tom lachte. „Wer sagt das? Konfuzius?"
„Nein, Sina Christen!"
„Ah, die kenne ich! Das ist eine ganz kluge Frau! Was die sagt, stimmt immer!" Er lief nach oben, holte die Schachtel und ein Feuerzeug.
Rauchend standen sie dann vor der Türe, genossen die noch immer warme Nacht.
Paul und Joe gesellten sich zu ihnen. „Deine Geschichte war echt toll! Und wie du sie erzählt hast, grandios!" meinte Joe.
„Na, du warst ja auch der Star der Theater-AG am Gymnasium!" erinnerte sich Paul.
Tom und Sina sahen ihn verwundert an. Er, weil er davon noch gar nichts wusste, sie, weil sie überrascht war, dass Paul das wusste.
„Wir kennen dein ganzes Leben, Sina!" erklärte Paul. „Patrick hat ganze Nächte lang nur von dir gesprochen! Es war schwer für ihn, dass du so unglücklich warst! Er hat sehr gelitten!"
„Ich weiß!" sagte Sina. „Aber bitte, lassen wir die Vergangenheit ruhen! Sie ist vorbei! Seit fast vier Wochen endgültig!"
„Ja! Entschuldige bitte! Es ist nur, weil wir dauernd über diesen verrückten Zufall nachdenken müssen, dass wir euch hier getroffen haben! Und weil Patrick ein wirklich guter Freund von uns ist und Marie unsere Freundin!"
Tom nahm sein geliebtes Mädchen in den Arm.
„Und weil wir uns halt so sehr freuen, dass es dir heute so gut geht! Und auch, dass wir euch kennengelernt haben!" ergänzte Joe.
„Wir sind auch froh!" Tom meinte das ehrlich. Das waren schon tolle Jungs! Sensibel, ehrlich, offen.
„Und wir sind auch froh, dass Patrick so guten Freunde hatte, die ihm geholfen haben, das alles auszuhalten!"
Sina strahlte ihn an. Ihr Supertom! Er war fantastisch! Ein anderer Mann hätte sich wahrscheinlich nicht einen Deut darum gekümmert, wie es dem Zwillingsbruder seiner Freundin ergangen war. Aber Tom war einfach anders! Mitfühlend, sensibel, empathisch! Wie sollte sie so einen Mann denn nicht lieben?
„So, jetzt gib mal noch eine Runde aus! Sonst fange ich wieder zu Heulen an vor Glück, dann hast du die ganze Nacht eine schniefende Sina im Bett!" versuchte sie ihre Rührung in den Griff zu bekommen.
„Hauptsache, ich habe eine Sina im Bett!" flüsterte er in ihr Ohr und zündete noch zwei Zigaretten an.
„Ihr seid verlobt?" fragte Joe, als er den Ring an Toms Hand sah.
„Nein, verliebt!" erklärte der. „Nach unseren missglückten ersten Ehen haben wir beschlossen, nicht mehr zu heiraten, aber lieben werden wir uns immer!"
„Das ist ja eine nette Idee!" meinte Paul. „Liebesringe! Auf so etwas muss man auch erst kommen!"
„Auf so etwas kommt mein Tom!" erklärte Sina stolz, bekam für diese Aussage und vor allem für ihr liebevolles Lächeln einen langen Kuss.
Sie gingen wieder hinein, holten sich noch einmal etwas vom Büffet. „Ein bisschen Gulasch von Anna geht immer!" bestimmte Tom.
Und danach gingen auch noch ein paar Pfannkuchen mit Quarkfüllung.
„Ich freue mich schon auf die Waage morgen früh!" Tom hoffte, dass die zwei Wochen die fünf Kilos ihres süßen Körpers zurückbrachten.
„Aber bei 50 Kilo hörst du auf, mich zu mästen, oder?" bat Sina.
„Mal schaun!" Er grinste sie an. „Vielleicht gönne ich mir das eine oder andere Zusatzkilo!"
Gegen zwölf Uhr löste sich die Gesellschaft auf. Tom konnte nach ein paar langsamen Tanzrunden mittlerweile nur noch an den Reißverschluss an ihrem Oberteil denken. In Gedanken öffnete er ihn ganz langsam, küsste die weiche, duftende Haut, fuhr mit seinen geübten Fingern an ihrer Wirbelsäule entlang und dann....läutete sein Handy!
„Bergmann!" meldete er sich unwillig.
Es war die Einsatzzentrale im Ort.
„Tom, sind Sie fit? Wir haben eine Massenkarambolage auf der Autobahn. Wir brauchen einen Piloten, der den großen Transporthubschrauber fliegen kann. Sanitäter und Notärzte sind vor Ort, aber viele Schwerverletzte mit Brandwunden müssen nach Salzburg oder München geflogen werden."
„Bin schon unterwegs! Ich fliege mit dem Kleinen runter, macht den Großen fertig!" Er stieg schon in den Overall, zog die Weste über, küsste Sina kurz, die mitgehört hatte.
„Ich bete für alle!" sagte die nur.
Sie lief mit ihm zum Heli, winkte ihm nach.
Als sie zurück in die Almhütte kam, traf sie Anna und Christian.
„Einsatz?" fragte er.
„Ja! Auf der Autobahn! Viele Brandverletzte!" Tränen kullerten ihr über die Wangen. „Mein Gott! Die armen Menschen!"
Dankbar nahm sie einen Obstler und ein Glas Wein an. Dann führte Anna sie zum Hausaltar. „Komm, zünde eine Kerze an!" forderte sie Sina auf.
„Hier beten wir jeden Abend für Tom, seit ein paar Tagen auch für dich!" erklärte sie. „Und wir danken Gott für Menschen wie ihn!
Er wird wieder vielen helfen können, dein Tom!"
Sie gingen zurück, Sina trank das Glas Wein leer und noch ein zweites, rauchte noch eine Zigarette, weil sie so aufgewühlt war.
Dann ging sie ins Bett, schickte ein Stoßgebet für die Opfer, vor allem aber für Tom, in den Himmel und gleich ein Dankgebet für ihr Glück danach.
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Tom stieg in den großen Heli um, gab die Koordinaten ein, meldete seinen Start. Am Unfallort bot sich ihm ein Bild des Grauens. Zehn große Sankas, zwei Helis waren schon da, Feuerwehren aus der Umgebebung löschten, zogen Verletzte aus den zerstörten und brennenden Fahrzeugen.
Er wurde schon sehnsüchtig erwartet.
Ein Notarzt organisierte das Beladen mit zweien der Schwerstverletzten, stieg ein, übernahm die Versorgung an Bord. Sie brachten das Ehepaar nach München, starteten gleich wieder, brachten die nächsten nach Salzburg, dann zwei mit Knochenbrüchen nach Murnau, und zwei mittelschwer Verletzte wieder nach München.
Um sechs Uhr morgens waren alle versorgt.
Der Notarzt klatschte Tom ab. „Gut, dass sie erreichbar waren! Sie haben einen guten Job gemacht! Respekt!" Sie rauchten noch eine Zigarette zusammen. „Sie sind in Urlaub hier, habe ich mitbekommen?"
„Ja!" Tom musste direkt grinsen. „Urlaub ist gut!" Er erzählte von den Ereignissen der letzten Tage.
Der Notarzt grinste zurück. „Sie sind freier Pilot? Na, dann hat das wenigstens ordentlich Kohle gebracht!" Schwarzer Humor half eben immer, auch beim größten Grauen. Er unterschrieb Toms Einsatzprotokolle, damit mit der Abrechnung auch alles klappte. „Sie wären ein guter Arzt!" stellte der Doc fest.
„Ich fange im Oktober mit dem Studium an!" Tom war glücklich, das sagen zu können. Ja, er würde ein guter Arzt werden! 10 Jahre zu spät, aber noch früh genug hatte sich sein Weg geöffnet, und er würde ihn gehen, mit Sina würde er sein Lebensziel erreichen, das ihm Simone vermasselt hatte, Simone und seine Dummheit, die Dummheit eines 20jährigen.
„Das freut mich außerordentlich!" Dem jungen Arzt hatte Tom wirklich imponiert. Umsichtig und routiniert hatte er seine Arbeit gemacht.
Dann flogen die beiden nach Garmisch, der Doc wurde abgeholt, Tom stieg in den Kleinen um, flog zur Alm.
Um sieben Uhr morgens ließ er sich ins Bett neben seine süße Krabbe fallen, nahm sie in den Arm, küsste sie zärtlich und schlief ein, mit einem Lächeln im Gesicht, trotz des aufreibenden Einsatzes.
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