Kapitel 41 - Dienstag, 23.8. (*1*)

Am Morgen flogen sie nach dem Frühstück ins Tal. Ein Mitarbeiter des Stützpunktes brachte sie zur Polizeistation. Ihr Abenteuer hatte sich schon herumgesprochen. Der Fahrer verschlang Sina mit den Augen, Tom ritzte im Geist die nächste Kerbe ein.

„Na, mit so einer schönen Kollegin möchte ich auch mal Dienst schieben!" Und nicht nur das, dachte der junge Mann.
„Sina ist keine Kollegin, sie ist mein Mädchen!" stellte Tom richtig und sah sie stolz an.
„Ah! Und da ist sie darunter und hat den Klops rausgeholt? Und dann war sie ganz alleine drei Stunden auf dem Berg? Hut ab, Mädchen! Das würden auch nicht viele Frauen machen!" wandte er sich an Sina.

„Was wäre denn die Alternative gewesen? Jemanden sterben lassen?" gab sie nur zurück.
„Ja, aber, so ganz ungefährlich war das für dich ja auch nicht!" Der Fahrer war noch ganz platt von ihrem Mut.
„Ich bin hart im Nehmen!" stellte sie fest.

Im Polizeirevier wurden sie herzlich begrüßte.
„Der Tom Bergmann! Na klar! Das hätte ich mir ja denken können, das du es warst, der unserem Bürgermeister das Leben gerettet hat!" Der Chef der Station schlug Tom auf die Schulter.
„Und seit wann habt ihr in Regensburg so hübsche Sanitäterinnen?" fragte er mit Blick auf Sina, der er dann höflich die Hand gab.

„Das ist meine Freundin!" stellte Tom wieder einmal richtig. „Sie ist Förderlehrerin, keine Kollegin!"
Er lächelte sie an. „Und das ist euer Bürgermeister? Der Riese?"
„Ja, Bürgermeister und größter Landwirt!"
„Ach, und wenn er mit dem Kühe füttern fertig ist, füttert er bei seinem Sohn weiter, oder was?" meldete sich Sina zu Wort.
Die Männer lachten.

„Kevin", der Polizist verdrehte die Augen bei dem Namen. „Kevin lebt nicht bei ihm. Er ist das Ergebnis eines Ausrutschers während seiner ersten Ehe. Er hat wohl angesäuselt ein wenig viel von seiner finanziellen Situation erzählt, da wollte es die Dame partout ohne Gummi machen, und er ist voll in die Babyfalle getappt!" Da fiel ihm ein, dass das vor Sina nicht gerade höflich war, sich so auszudrücken. „Sorry, so sollte man sich vor einer schönen Frau nicht äußern!"

„Ich bin schon ein paar Jahre volljährig!" wiegelte Sina ab.
Er sah sie prüfend an. „Aber nicht viele!"
„Ausweiskontrolle?" fragte Sina bloß.
Immer mehr Kollegen scharten sich um Sina und Tom. So ein hübsches Mädchen versüßte doch einmal einen Arbeitstag.

Sie brachten Kaffee und Kuchen, Mineralwasser, belegte Brötchen.
„Möchten Sie lieber Tee?"
„Oder eine Cola?"
„Koffeinfreien Kaffee?" Die Jungs überschlugen sich, Tom kam mit dem Kerben zählen gar nicht mehr nach!

Da klatschte er laut in die Hände. „Schluss mit der Balzerei! Sie ist meine Freundin! Und das wird sie auch noch sein, wenn wir hier raus gehen!" rief er grinsend. „Also! Protokoll! Wo?"
Er wollte seinen Urlaub schließlich nicht auf einem Revier verbringen, noch dazu auf einem mit so vielen gutaussehenden jungen Polizisten!
Alle lachten, führten die beiden in ein Dienstzimmer. Eine halbe Stunde später hatten sie das Protokoll unterschrieben.
„Du, Tom! Frag doch mal in Regensburg nach, ob es da freie Stellen für uns gibt! Also sechs von uns würden sich sofort versetzen lassen!" rief ihm einer nach.

Tom tippte sich nur an den Kopf.
„Also ich bin mittlerweile bei sieben!" sagte er draußen zu ihr.
„Was sieben?"
„Kerben! Mindestens!"
Sina lachte über ihren Kasper und musste sich jetzt schon einmal einen Kuss abholen von dem Mann, der sie als einziger interessierte.
Der Chef kam aus dem Haus. „Ich fahr ins Krankenhaus! Der Peter ist ansprechbar. Wollt ihr mit?"

Im Auto erzählte er weiter. „Also, der Peter ist jetzt wieder verlobt, die erste Ehe hat den kleinen Kevin nicht überlebt! Und die beiden möchten nun, dass der Junge bei ihnen lebt, weil er bei seiner Mutter wirklich in einem schlimmen Milieu ist!"

„Da werden sie wenig Glück haben!" bedauerte Sina. „Das Kind gehört zur Mutter! Was die mit ihm anstellt, interessiert keinen Menschen! Ich habe da echt schon schlimme Dinge erlebt! Wir von der Schule schreiben seitenweise Gutachten, dass es Kindern beim Vater besser ergehen würden, die Richter entscheiden zu 98% für die Mütter. Die haben dann das Ziel erreicht, versorgt durch ein Kind zu sein, für das der Vater kräftig zahlen muss. Und manche geben das auch ganz offen zu, dass sie die Männer in die Babyfalle gelockt haben! Aber sie sind dann die armen allleinerziehenden Mütter, die dem Staat auf der Tasche liegen!"

Sie hatte sich direkt in Rage geredet.
Tom sah sie ernst an. Das Thema schien sie sehr aufzuregen. „Na vielleicht haben sie hier mehr Glück, der Vater ist Bürgermeister, hat Geld, eine Frau, die im Haus lebt?" gab er zu bedenken.

„Es wäre zu hoffen, obwohl mir das auch wieder sauer aufstoßen würde, wenn das Geld den Ausschlag gäbe!" Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. „Weißt du, oft sieht man schon bei der Schuleinschreibung die Zukunft eines Kindes ganz klar voraus. Die einen werden als Prinzen oder Prinzessinnen geboren, die anderen haben von Geburt an keine Chance! Aber auch das Geld garantiert ja nicht das Glück für ein Kind, viel wichtiger ist die Liebe, die dem Kind geschenkt wird!"

Und wieder gingen Tom die seltsamsten Gedanken durch den Kopf. Du könntest ein Kind sehr lieben, kleine Sinamaus! Du würdest es auch perfekt erziehen! Nicht zu einem verzärtelten Wesen, dem alles aus dem Weg geräumt wird, sondern zu einem lebenstüchtigen Menschen, einem tollen Menschen! Du hättest es echt drauf!

Bisher war der Gedanke an ein Kind der worst case für ihn gewesen. Deshalb schützte er sich immer mit Kondomen, auch wenn die Frauen versicherten, die Pille zu nehmen. Bei ihr kam er nach drei Wochen ins Grübeln! Er schüttelte den Kopf, wollte den Gedanken heraus bringen!
Mittlerweile waren sie am Krankenhaus angekommen.

Vater und Sohn lagen in einem Zimmer. Peter Wagner bedankte sich überschwänglich bei Tom und Sina. Seine Verlobte, ein hübsche große Frau, saß an seinem Bett.

„Ah, die Kleine mit der großen Klappe!" begrüßte Kevin Sina. Tom stockte der Atem. „Kevin!" ermahnte ihn sein Vater.
„Hat dir wohl nicht gepasst, dass dir jemand die Wahrheit gesagt hat, du Mops?" sagte Sina herausfordernd.

„Dieter, der neue Macker von meiner Ma sagt immer, Kochen ist Scheißweiberarbeit! Und Ma ist trächtig, kotzt den ganzen Tag! Irgendwas muss ich ja essen!" Den vier Erwachsenen verschlug es die Sprache bei seiner Ausdrucksweise, aber Sina war wenig beeindruckt.
Sie setzte sich ans Bett des Vierjährigen.

„Also erstens sagt man nicht trächtig bei einer Frau, sondern schwanger. Sag es nach, du plapperst ja den Mist auch nach, den Dieter erzählt. Also, sprich mir nach: Meine Mutter ist schwanger."
Verblüfft über ihre Ernsthaftigkeit sprach der Junge die Worte nach.
„Zweitens, sagt man nicht kotzen. Also: Meine Mutter muss sich übergeben."
Brav wiederholte er den Satz.

„Und jetzt heißt es also: Meine Mutter ist schwanger, deshalb muss sie sich übergeben!"
Wieder plapperte er alles nach.
„Und drittens hat die Kleine mir der großen Klappe dein Leben gerettet! Denn wenn ich das Notsignal nicht gesehen hätte, säßest du als menschlicher Eiszapfen noch immer in deiner Höhle! Was allerdings jetzt vielleicht auch gar nicht so schlecht wäre, wenn man dich so reden hört, du Mops!" Dabei strich sie ihm liebevoll übers Haar und über die dicken Backen. Er schloss die Augen, genoss die kleinen Zärtlichkeiten, Tränen rollten unter seinen Lidern hervor.

„Du bist die coolste Braut, die je gesehen habe!" flüsterte er.
„Würde Dieter sagen, denn Dieter ist ein Macker! Aber Kevin, der nette kluge Junge, würde sagen: Du bist die netteste Frau, die ich je getroffen habe!"

Er grinste sie an. „Du bist echt die netteste Frau, die ich je getroffen habe!"
Sie drückte seine Hand. Sie hatte austesten wollen, ob bei Kevin noch etwas zu retten war, oder ob er durch das Milieu, in dem er aufgewachsen war, schon zu viel Schaden angerichtet hatte.
„Und du bist zwar ein Klops, aber ich glaube, darin steckt ein sehr liebenswerter Junge!"

Tom sah und hörte den beiden atemlos zu. Was hatte sie zu den anderen Eltern gesagt: Ernst nehmen und Grenzen setzen! Dazu kam noch Liebe, und die Erziehung war perfekt!
Er küsste Sina leicht auf den Mund, wollte ihr seine Hochachtung zeigen.
„Hey, aufhören!" rief Kevin. „Die Kleine heirate ich!"
Tom lachte laut. „Kerbe Nummer acht!" flüsterte er in ihr Ohr. Und laut sagte er: „Da musst du aber noch arg an deiner Sprache arbeiten!"

In diesem Moment kam der Arzt herein, erkundigte sich eher unwillig nach Kevins Befinden. Er mochte den frechen Bengel mit der unflätigen Ausdrucksweise nicht.
„Guten Tag, Herr Doktor! Danke, mir geht es gut! Und Ihnen?"
Der Arzt sah ihn ungläubig an. „Was ist hier geschehen?" fragte er in die Runde. „Gestern hat es noch geheißen: Leck mich am Arsch, Doktortrottel"

„Ich darf nicht mehr wie ein Macker reden, sonst heiratet mich die Kleine mit der großen Klappe nicht!" erklärte er.
„Aha! Und die Kleine mit der großen Klappe, das sind Sie?" Lächelnd wandte er sich an Sina.
„Ja, Sie können aber auch Sina zu mir sagen!"

Der Arzt sah ihr tief in die Augen. „Wenn es Ihnen allerdings zu lange dauert, bis der junge Mann hier seine Sprachstörung überwunden hat, würde ich mich freuen, wenn sie einmal mit mir zum Essen gingen!" schlug er spontan vor, beeindruckt von ihrer Schönheit und ihrem Charme.
Tom ließ sich auf einen Stuhl fallen, bekam einen Lachanfall. „Hilfe!" japste er. „Ich komme mit dem Zählen nicht mehr mit!"

Der Arzt sah ihn verständnislos an. Sina war ihm eine Erklärung schuldig. „Das ist mein Freund, Tom Bergmann, der den Heli gestern geflogen hat!"
„Kumpel-Freund oder Partner-Freund?" Der junge Doktor sah noch eine winzige Chance.
„Er ist der Mann, den ich liebe!" Diese Antwort allerdings war eindeutig.

„Na, denn!" Er gab Tom die Hand. „Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Herr Bergmann! Sie ist wohl das Glück des Tüchtigen!" stellte er mit Blick auf Sina fest, bevor er sich um den Bürgermeister kümmerte.
Tom und Sina verabschiedeten sich. Gabi, die Verlobte begleitete sie hinaus, bedankte sich auch noch für ihren Einsatz.

„Glauben Sie, das klappt mit Kevin und uns? Ich mag ihn schon irgendwie, aber ich habe auch Angst, dass wir ihn nicht mehr hinkriegen! Dass die Gene von seiner Mutter stärker sind!"
„Ich bin pädagogische Optimistin!" erklärte Sina. „Das ist die Richtung, die an die Macht von Erziehung glaubt. Ich habe es oft genug erlebt, was man mit Konsequenz und Liebe erreichen kann! Die pädagogischen Pessimisten dagegen glauben nur an die Vererbung, an die Gene, eine Ansicht, die ich für zu traurig halte!"

Tom hing wieder einmal gebannt an ihren Lippen. Hatte dieses süße schlaue Ding eigentlich auf alles eine Antwort? Wie konnte man mit 25 so abgeklärt, so weise, so lebensklug sein?
Auch Gabi war beeindruckt von dem jungen Mädchen. „Übrigens, ich habe das studiert, ich bin Förderlehrerin, also ich plappere nicht irgendein Halbwissen aus." Das beruhigte und überzeugte Gabi vollends.

„Und wenn Sie jemanden brauchen, der in einem Sorgerechtsstreit für Sie aussagt, rufen Sie mich an. Bei meinen Schülern darf ich das nicht, da gelte ich als befangen, aber ich hätte ein paar gute Argumente vorzubringen!" Sie nannte Gabi ihre Nummer, die sie ins Handy einspeicherte. Christen, Sina, Engel, tippte sie dazu. Dann ging sie zurück zu Peter und Kevin.
Tom legte den Arm um sie, führte sie hinaus.

„Und du sagst heute gar nichts mehr?" fragte sie schelmisch.
Er sah sie an, schüttelte den Kopf, lächelte, marterte sein Hirn auf der Suche nach Worten. „Ich bin sprachlos!" brachte er schließlich hervor.
Sie sah ihn verwundert an. „Warum das denn?"

„Wie du mit Kevin gesprochen hast, mit Gabi! Wie kann ein 25jähriges Mädchen so weise sein?"
„Weise? Ich bin doch nicht weise! Das ist mein Job! Das habe ich gelernt!" erklärte sie. „Wenn du mir erzählst, dass die Knochen am großen Zeh Sesamknöchelchen heißen, sage ich doch auch nicht, du bist weise!"

Toms Augen wurden noch größer, dann begann er zu lachen. „Ich wette, du bist die einzige Nichtmedizinerin, die das weiß!"
„Mein Gott, so was schnappt man auf!" Sie grinste ihn an.

„Organ, das den Körper mit den wichtigsten Hormonen versorgt?"
„Die Schilddrüse!"
„Aufgaben der Bauspeicheldrüse?"
„Produktion von Insulin!"
„Aufgaben des Blindarms?"
„Keine! Ist ein Relikt der Evolution!"
„Aufgeschnappt?" fragte er, konnte vor Lachen kaum noch sprechen.

„Na ja! Ich hatte mal viel Zeit zum Lesen!" räumte sie ein.
„Und was hast du so gelesen? Ich schätze mal, nicht Rosamunde Pilcher?"
Sie zögerte. Die Antwort würde zu erfunden klingen.
„Also?"

„Unter anderem auch mal was über Medizin oder Astrophysik!"
Er atmete tief ein. „Und wo sind die Bücher?"
Sie sah an ihm vorbei. „Bei meinen Eltern! Ich habe sie immer in den Schutzumschlag eines Romans gesteckt und sie oben in meinem alten Zimmer versteckt, wenn ich fertig damit war!" Ihre Stimme wurde immer leiser.

Auch seine Stimme war sehr leise geworden. „Und deine Eltern haben sich nicht gewundert?"
Sie zuckte mit den Schultern. „Max mochte eben keinen Blaustrumpf! Da hatte ich mich nun mal zu fügen!"

Er nahm sie in den Arm. Wann würde er wohl alle schrecklichen Details ihrer Vergangenheit erfahren haben? Sie war misshandelt worden, nicht körperlich, nicht sexuell, aber seelisch! Doch nichts hatte sie brechen können, nichts hatte ihren Lebensmut besiegt! Was für ein Mädchen!
 



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