Kapitel 135 - In den Bergen (*1*)
Am nächsten Tag rief er Anna an, nahm kurzfristig frei für die vielen Überstunden, bestellte den großen Helikopter.
Sie packten ihre Kinder in den Bus, einen großen Koffer, fuhren nach Straubing und flogen nach langer Zeit wieder einmal in den Himmel.
Phillip strahlte. In ein paar Jahren werde ich die Familie fliegen! wusste er. Die Theorie hatte er schon drauf, er hatte alles aus den Lehrbüchern seines Vaters gelernt.
Anna begrüßte sie herzlich und tränenreich.
Christian hatte ein wenig Berührungsängste.
Wie sollte er dem Mann entgegentreten, der seinen Mädchen das Leben gerettet hatte, und der nun seine Kinder auf so fürchterliche Art und Weise verloren hatte?
Bei seiner Umarmung flossen bei beiden Männern ein paar Tränen.
Verdammt, ich weiß, wie du dich fühlst! Das Schicksal ist eine Hure! dachte Christian.
Ich bin noch immer froh, dass ich dir diesen fast tödlichen Schmerz erspart habe! dachte Tom.
Sprechen konnten sie nicht, brauchten sie aber auch nicht.
Sie bezogen den Neubau, den Anna und Christian nach langem Hick-Hack mit der Naturschutzbehörde hatten errichten können. Er war vor einem Jahr fertig geworden, sie hatten das Häuschen neben der Alm aber noch nie vermietet, Tom und seine Familie sollten es einweihen.
Dann war dieses furchtbare Verbrechen geschehen, sie hatten es aber nicht übers Herz gebracht, andere dort wohnen zu lassen. Sie hofften einfach, dass der Freund irgendwann wieder kommen könnte.
Sina lachte, als sie das Schild neben der Türe sah. „Onkel Toms Hütte" stand da.
Innen gab es vier kleine Schlafzimmer, ein Bad und eine Küche.
„Die hättet ihr euch sparen können!" merkte Tom trocken an, was ihm einen Knuff einbrachte.
„Könnt ihr immer noch nicht kochen?" fragte Anna belustigt.
„Nein!" riefen die vier Kinder im Chor.
„Und sie sollten es auch nicht mehr probieren!" fügte Lea hinzu.
„Freche Bande!" schimpfte Sina. „Wer hat euch denn erzogen?" Sie drückte sich an ihren hübschen Mann. Sie ignorierten beide den kurzen Schmerz, der bei der Besichtigung aufflackerte.
Ein Zimmer würde leer bleiben!
„Ein viel größeres Problem wird sein, wie wir unser Töchterchen dazu überreden können, uns auch mal ins Badezimmer zu lassen!" zog Tom seine Große auf.
Lea, die froh war, dass die Fröhlichkeit in die Familie hatte zurückkommen dürfen, hängte sich an den Arm ihres Vaters. „Väterchen, ich verspreche dir, dass ich mich eine Woche lang nicht duschen und frisieren werde!"
Alle lachten Tränen. Das wollten sie mal erleben, dass die hübsche Zwölfjährige sieben Tage lang ohne Kamm und Spiegel auskommen wollte!
Dominik und Leonie hielten sich wie so oft an der Hand. Sie hatten die Ereignisse des letzten Jahres nicht so recht verstanden, hatten nur gefühlt, dass die heile Welt ihrer Kindheit in Gefahr war zu zerbrechen.
Sie hatten im Gegensatz zu den Großen nie andere Eltern gehabt, hatten aber im letzten Jahr fast gemeint, sie gehörten nun zu Patrick und Marie, weil Tom und Sina sie nicht mehr wollten.
Aber dann hatte der Papa wieder gelacht, die Mama hatte wieder mit ihrer eigenen Stimme gesprochen, sie durften wohl doch zu Hause bleiben.
Aber hier in den Bergen war es auch schön. Der Papa hatte zwar wieder ein bisschen geweint, aber nicht so sehr, hatte auch nicht so traurig ausgesehen, wie in letzter Zeit.
Und Mamas Stimme war immer noch die ihre!
Tom und Sina nahmen ihre Jüngsten auf die Arme, küssten sie ab. Es waren schwere Brocken geworden, Sina ächzte unter Leonies Gewicht, aber sie hätte sie um nichts auf der Welt losgelassen. Sie fühlte die Verunsicherung bei den beiden, bat sie mit ihrem Herzen und ihren Zärtlichkeiten um Verzeihung.
Dann gingen alle zum Essen auf die Terrasse.
Andere Gäste bewunderten die perfekte Familie.
Der gutaussehende Mann mit seiner Bergretterweste, die schöne zierliche Frau, die eindeutig zu jung wirkte für den großen Jungen, die vier wunderhübschen, braven Kinder.
Da hatte das Schicksal sein Glückshorn aber ordentlich ausgeschüttet über diesen sechs, dachte der eine oder die andere.
Denn von dem schrecklichen, beinahe alles zerstörenden Schicksalsschlag ahnten sie nichts.
Die Trauer, die für immer in einer Ecke ihrer grünen und blauen Augen wohnen würde, sahen sie nicht!
Als die Kinder im Bett waren, machten sich die Eltern auf zum Gipfel. Es war wieder eine klare Vollmondnacht, sehr mild, auch hier oben.
Sie kamen an ihrer Bank vorbei, erinnerten sich an die ganzen Tom-Bergmann-Geschichten, lächelten sich an, fühlten die Vertrautheit zwischen sich, fühlten, wie sie wieder die Gedanken des anderen denken konnten!
Sie gingen engumschlungen weiter, bis sie die Stelle erreicht hatte, an der Tom sie damals gefragt hatte, ob sie ein Kind von ihm möchte.
Sie schwiegen lange. „Ich habe einmal überlegt im letzten Jahr, was gewesen wäre, wenn ich dich nicht gefragt hätte? Wenn ich keine Kinder gewollt hätte? Aber da ist mir eingefallen, dass wir sie da ja schon gemacht hatten! Da war ich ein wenig beruhigter, weil ich nicht schuld war!" flüsterte er.
Sie sah ihn ruhig an, dachte an ihre eigenen Überlegungen, doch sie hatte in ihrem Schmerz seine letzte Schlussfolgerung nicht machen können!
„Nein, Tom! Keiner von uns beiden hatte je Schuld an irgendetwas! Es war immer die Schuld der Teufelin und vielleicht derer, die uns nicht vor ihr hatten schützen können!"
Er drehte sich um, küsste sie lange und zärtlich.
Ihre Lippen waren wieder samtweich, nicht mehr rissig und spröde.
Ihre Augen waren wieder strahlend dunkelblau, nicht mehr verwaschen vor Tränen.
Ihr Körper war wieder weich und anschmiegsam, nicht mehr kalt und abweisend.
Vor elf Jahren hatte er hier gedacht, nie glücklicher sein zu können als an diesem Tag. Er war noch viel glücklicher geworden, aber er war auch ein paar Mal durch die Hölle gegangen in diesen Jahren.
Beim letzten Mal hatte er dann gedacht, den Weg zurück nie wieder zu finden.
Und doch stand er heute wieder hier, mit der kleinen Krabbe im Arm, durfte sie wieder lieben wie damals.
Oder tausend Mal mehr?
Die Kinder, von denen sie damals geträumt hatten, verliebt, durchs Leben tanzend, verrückt vor Glück, waren ermordet worden.
Dieser Schmerz würde nie vergehen.
Aber sie waren noch eine Familie.
Ein verliebtes Paar mit vier wunderbaren Kindern.
Sie hatten das Recht darauf, glücklich zu sein.
Sie durften verliebt sein, trotz des Verlustes.
Sie mussten nicht in der Hölle bleiben, sie durften wieder in den Himmel fliegen durch ihre Liebe!
Als sie auf dem Rückweg wieder an ihrer Bank vorbeikamen, fühlten sie, dass sie auch die Verrücktheit wieder in ihr Leben lassen durften, die Verrücktheit und die Leidenschaft!
Er nahm sie auf den Schoß, sie fühlte seine Erregung, genoss es, seine Erregung zu fühlen.
Ihre Hände glitten unter seinen Pullover, fanden Haut, viel Haut, fanden überraschend viele harte Muskeln.
„Hast du trainiert? Wow! Du fühlst dich ja an wie ein junger Gott!"
Er hörte die Erregung in ihren Stimme, fühlte am Druck ihrer Hände ihre Leidenschaft.
„Ja!" antwortete er nur.
Er wollte ihr nicht erzählen, warum er im letzten Jahr so viel Zeit im Fitnesscenter verbracht hatte.
Doch sie verstand!
Und sie konnte es auch aussprechen. „Es gab ja keinen Grund, nach Hause zu kommen, nicht wahr?" flüsterte sie.
„Nein!" Die Tränen wollten zurückkommen, doch ihre Hand war dabei, die Knöpfe seiner Jeans zu öffnen, er stöhnte auf, vergaß alles Leid, als die Lust ihn überschwemmte.
Sie schob ihren Rock hoch, er befreite sie zärtlich streichelnd von ihrem Slip, zog sie auf sich. Sie ritt ihn verzückt, langsam, zärtlich, wilder, als er ihre Brüste unter ihrer Bluse streichelte, kniff, sie mit seine Zunge liebkoste, leicht daran knabberte.
Als der Orgasmus sie überspülte, wussten sie, dass das Lachen und die Leichtigkeit endgültig zurückgekommen waren.
Lachend brachten sie ihre Kleidung in Ordnung, lachend küssten sie sich, lachen knutschten sie, lachend streichelten sie sich, lachend tanzten sie unter dem Vollmond, lachend tranken sie von ihrem wiedergefundenen Glück.
Lachend kamen sie im Gastraum an, lachend tranken sie zusammen mit Anna und Christian eine Flasche Wein auf der Terrasse. Andere Gäste setzten sich zu ihnen.
Sina unterhielt den ganzen Tisch.
Endlich wieder einmal! dachte Tom vor sich hin lächelnd.
„Na, bei Ihnen hat das Glück aber auch ordentlich zugeschlagen!" sagte ein älterer Herr zu ihm.
Toms Miene verdunkelte sich nur eine Sekunde lang, Christian hielt die Luft an.
Tom wartete auf den Schmerz, wappnete sich gegen die hochsteigenden Tränen, aber beides blieb aus, in diesem Moment zumindest.
Sie hatten die Traurigkeit fortgelacht, hier in den Bergen auf ihrer Bank.
„Ja, das hat es!" antwortete er lächelnd.
Christian atmete auf. Gut, dass die beiden so stark sind! dachte er. Ich weiß nicht, ob ich das so hätte überwinden können!
Am nächsten Morgen telefonierte Tom mit Robbi in der Schweiz, verabredete sich mit der alten Truppe für den heutigen Tag. Der Kollege freute sich, von dem Deutschen zu hören.
Sie hatten von dem Drama aus Fernsehen und Zeitungen erfahren, waren fassungslos gewesen.
Sie hatten die Zwillinge als Babys kennengelernt, als der stolze Vater sie einmal mitgebracht hatte.
In den Jahren danach waren Tom und Sina immer alleine gekommen, hatten von ihren Familienzuwächsen erzählt, waren verliebt wie eh und je gewesen.
Sie hatten sich immer wieder über das Paar gewundert, das aussah, als wäre es einem Filmjournal entstiegen, das aber so unwahrscheinlich große Herzen hatte.
Dass gerade diese beiden großartigen Menschen ein solcher Schicksalsschlag treffen musste, machte sie fassungslos und demütig ihrem eigenen sorgenfreien Leben gegenüber.
Robbi sprach das Drama am Telefon nicht an. Er trommelte die Kollegen zusammen, die mittlerweile alle verheiratet waren und Nachwuchs hatten.
Es gab ein großes Hallo, als Tom den Heli aufsetzte. Die Jungs hatten Biergarnituren aufgestellt und den Grill angeheizt.
Sie waren froh, das Liebespaar lächeln zu sehen. Sie bemerkten die feinen Linien, die der Schmerz in ihre Gesichtern gezeichnet hatte, die grauen Haare an Toms Schläfen, die beim letzten Treffen noch nicht dagewesen waren, aber sie sahen auch das Glück, das aus ihrer beider Augen strahlte, wenn sie sich oder ihre Kinder ansahen.
Sie waren froh, dass die Liebe stark genug gewesen war, das Schreckliche zu überwinden.
Es wurde ein großes Familienfest. Sie bemerkten die Blicke, die die größeren Mädchen ihrem Sohn zuwarfen, der sich aber lieber mit den Männern über Hubschrauber unterhielt. Sein Sachverstand verblüffte alle.
Tom platzte fast vor Stolz auf dieses unglaubliche Kind, das auf dem Weg war, ein Mann zu werden. Den Stimmbruch hatte er schon hinter sich, seine wunderbare Singstimme hatte sich vom hellen Sopran des Kindes in einen klaren Tenor verwandelt.
Er war nach wie vor der erste Solosänger der Domspatzen, immer noch Klassenbester und ein sehr begabter Pianist, dazu noch technisch wirklich hochbegabt.
Die Pubertät schien an ihm vorbeigegangen zu sein. Vielleicht hatte auch Sina recht mit ihrer Theorie, dass Probleme der Pubertät nur Erziehungsprobleme waren. Wenn man Kindern in diesen Jahren alles durchgehen ließ, entwickelten sie sich eben zu kleinen Monstern, behauptete sie.
Immer öfter dachte Tom daran, wer wohl der Erzeuger dieses Prachtkerls war.
Lea stand im Mittelpunkt des Interesses der Mädchen. Sie frisierte, flocht Zöpfe, ließ sich Zöpfe flechten. Die Kleinen spielten ausgelassen mit den Schweizer Kindern Fangen und Verstecken.
Alle lachten über Sina, über die Art, wie sie Geschehnisse des Alltages karikierte, wie sie das Weltgeschehen auf den Punkt brachte.
Sie muss wieder schreiben! dachte Tom. Die Welt brauchte ihren Humor.
Und sie war jetzt auch wieder fähig dazu, er fühlte es.
Der Tag unter Freunden hatte ihnen und ihren Kindern gutgetan!
Glücklich flogen sie zurück.
Robbis hübsche Tochter hatte Phillip seine Handynummer entlockt.
Der wunderte sich nachträglich darüber. „Was will die denn mit meiner Nummer?" fragte er seine Mutter. Tom grinste vor sich hin.
„Sie wird sich halt in dich verliebt haben!" antwortete sie lächelnd, strich dem Sohn übers Haar.
Der lief rot an. „So ein Quatsch!" wies er derartige Ambitionen weit von sich.
Tom grinste intensiver. Warte noch ein Jährchen, Sohn. Dann wirst du das nicht mehr als Quatsch abtun.
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