Kapitel 130 - 2007 (*1*)

An seinem 35. Geburtstag saß Tom auf der Terrasse, auf dem Schoß sein jüngstes Kind, die einjährige Leonie. Vor einem halben Jahr hatte er bei einem schrecklichen Einsatz ihre Eltern tot aus einem Autowrack geborgen. Als er gerade versuchte, sich zu fassen, hörte er ein leises Wimmern aus dem total zerstörten Fond. Er wappnete sich innerlich, ein schwer verletztes Kind vorzufinden.

Doch das kleine Mädchen hatte nicht einen einzigen Kratzer abbekommen. Ohne lange nachzudenken, hatte er das Kind mit nach Hause genommen, hatte natürlich den Polizisten am Unfallort Bescheid gegeben. Die beiden waren froh, dass das Kind erst einmal versorgt war.

Nachforschungen hatten ergeben, dass es außer einer Hippietante keine Verwandten gab. Die unterschrieb nur zu gerne die Vollmacht, dass Leonie bei den Bergmanns bleiben konnte. Nun hatten sie also tatsächlich das halbe Dutzend voll gemacht, dachte er lächelnd. Patrick hatte wohl so etwas geahnt, als er ihr Haus geplant hatte.

Er war wieder einmal glücklicher als je in seinem Leben. Er liebte seine kleine Krabbe tausend Mal mehr als am ersten Tag, sie schien für ihn auch so zu empfinden. Die Liebe nahm viel Platz in ihrem Leben ein, den Rest füllte die Liebe zu den Kindern, die alle einfach großartig waren. Er hatte es gewusst, dass sie die beste Mutter der Welt sein würde.

Er hörte von unten die Stimmen seiner Familie. Sina versuchte sich wie jedes Jahr an einer Geburtstagstorte für ihn, die wie jedes Jahr misslingen würde. Abends wollte sie kochen, aber er hatte sicherheitshalber Essen beim Partyservice bestellt. Ein paar Gäste würden kommen, keine große Party, morgen würden sie umziehen in das neue Haus.

Sie hatten tatsächlich eine Haushälterin gefunden, die schon in der Einliegerwohnung lebte. Eine Mitvierzigerin, Sophia, eine herzensgute Frau vom Typ Anna, die auch die Kinder sehr liebte. Sie war alleinstehend, ganz ohne Familie, wollte keine freien Tage, keinen Urlaub, sie war glücklich eine solche Familie gefunden zu haben. Sie zahlten ihr ein großzügiges Gehalt.
Lachen drang zu ihm hoch, er grinste. Wahrscheinlich hatte seine Süße gerade das verunglückte Backwerk aus dem Ofen geholt.

„Ich hole Kuchen!" hörte er Phillip sagen. Er sprang mit Leonie nach unten. „Ich komme mit!" rief er.
„O Gott!" stöhnte Sina. „Ich mach schon mal Platz im Kühlschrank!" Seine Maßlosigkeit beim Kucheneinkaufen war seit ihrem ersten gemeinsamen Tag der Running-Gag in ihrer Beziehung.
Er küsste sie. „Freches Biest!" flüsterte er ihr ins Ohr. Sie schmiegte sich wie ein Kätzchen an ihn, reagierte wie immer sofort auf seine Nähe.

„Nicht schon wieder küssen!" rief Annika, die ein recht vorlautes Mundwerk entwickelt hatte. Oft musste Phillip sie zurechtweisen.

Phillip, sein Großer! Das Kind, das er um keinen Preis der Welt damals haben wollte, hatte sich fantastisch entwickelt. Er war blitzgescheit, hochmusikalisch, technisch begabt, empathisch, kam mit allen gut aus, ohne unterwürfig zu sein, er war ein Prachtbursche. Natürlich durfte ein Vater sich das nicht eingestehen, aber von allen war er sein Liebling.

Phillip bewunderte seinen Vater grenzenlos, aber seine große Liebe galt nach wie vor Sina, an deren Seite er meistens anzutreffen war. Er vergaß ihr nie, wie sie damals an ihn geglaubt hatte, vom ersten Tag an.
Tom gab Leonie an Sina weiter, ging mit Phillip zur Wohnungstüre.

„Es kommen ungefähr 20 Leute, mit uns sind es dann einschließlich der Kinder 28! Nur als Denkhilfe!"
„Papa hat heute Geburtstag! Da darf er so viel Kuchen kaufen wie er will!" erklärte Annika schnippisch.

Tom musste lachen, sie war noch immer ein Papakind, auch daran hatte sich nichts geändert. Felix kam natürlich Sina zu Hilfe. „Aber wenn wir dann wieder so viel wegwerfen müssen, ist das auch nicht gut!"

„Wir haben noch nie was wegwerfen müssen, du Dummkopf!" fetzte Annika ihren Bruder an.
„Annika!" schimpfte Phillip. Sie zog eine Schnute, hielt Felix ihre Hand hin. „Entschuldigung!" sagte sie kleinlaut.

Aber der Junge war noch nicht fertig mit ihr. „Du darfst aber nicht immer jemanden beleidigen, und dich dann entschuldigen! Du musst vorher überlegen, was du sagst!"

„Okay!" sagte Annika. Tom und Sina sahen sich an. Sie zuckte mit den Schultern. So ist er, der Prachtkerl, hieß das. Sie hatte nie den Hauch eines Vorwurfes gegen ihn erhoben, weil er damals so bockstur gewesen war, etwas wofür er ihr immer dankbar war.

Aber noch dankbarer war er ihr, dass sie damals nicht nachgegeben hatte.
Tom nahm Phillip bei der Hand. „Komm, Großer, kaufen wir eine Tonne Kuchen!" Lachend hüpften die beiden die Treppe hinunter.

„Also, wie viele Stücke sollen wir nehmen?" fragte Tom in der Konditorei.
„28!" antwortete Phillip grinsend.
„40!" bat Tom.
„30!"
„38"
„32!"
„36!"
„34!"
„Deal!" Tom schlug seinen Sohn ab.

„Aber sag Mama bitte, dass ich es versucht habe!" lachte der Junge.
„Logo!" versprach Tom. Sie trugen den Kuchen nach Hause. Sina war erstaunt, wie sehr ihr geliebter Mann sich zusammengerissen hatte. „Danke, Sohnemann!" sagte sie grinsend.

Nach und nach trudelten die Gäste ein. Tom hatte ein schlechtes Gewissen. Natürlich hatten sie heuer vor lauter Hausbau wieder einmal Sinas Geburtstag vergessen, aber seinen hatten sie fast immer gefeiert.

Doch er wusste, dass sie es ihm nicht im Geringsten nachtrug. Ihre Eltern, Patrick und Marie mit Vincent und Paula, Oli und Greta, Ben mit Melanie, Nick, Bernadette und Marc, der Professor und Josie, Robert, der Obdachlose bei ihrem ersten Weihnachtsfest, Bastian, Simon und Florian von seinem Team mit Freundinnen, Dr. Benno Gruber und Frau wurden auf die Dachterrasse durchgeschleust. Patrick übernahm das Kaffeekochen, Marie verteilte Kuchen.

„Ist aber heute knapp!" zog sie Tom auf.
„Du weißt doch, wie ich unter dem Pantoffel stehe!" antwortete er. „Jetzt schickt sie schon die Kinder mit zum Aufpassen!" Er zog seine Krabbe zu sich und knutschte sie zur Strafe kräftig ab. „Mein böses Mädchen!" flüsterte er in ihr Ohr.
Oh Oh! dachte Marie. Da werden sie bald wieder verschwunden sein, wenn sie sich so ansehen!

„Brauchen die uns eigentlich, die ganzen Typen da?" fragte er sie später leise. „So ein klitzekleiner Quickie?"

Sie grinste ihn an. Sollte sie diesem hübschen Kerl an seinem Geburtstag einen so heißen Wunsch abschlagen? Nie im Leben!
Sie schlichen sich die Treppe hinunter, an Patrick vorbei, ins Schlafzimmer, verschlossen die Türe. Und nachdem sie das geschafft hatten, musste es auch nicht unbedingt ein Quickie werden, da konnten sie sich auch ruhig Zeit lassen, sich zu streicheln, zu küssen, zu lieben.

„Ich liebe dich wahnsinnig!" stöhnte er, weil ihm das Gefühl für sie wieder einmal den Atem nahm. Er zerdrückte sie fast vor lauter Liebhaben. Dann zog er aus der Schublade eine Päckchen heraus, hielt es ihr hin.

„Für mich?" fragte sie erstaunt. Sie öffnete es, fand ein Bettelarmband mit sieben Anhängern. Sechs Figürchen von Kindern in unterschiedlichen Größen und ein großes Herz mit einem Saphir. Tränen schossen in ihre Augen. Sie deutete auf das Herz. „Das bist du?"
„Yep! Mein Herz hast du zwar schon lange, aber doppelt genäht hält besser, dachte ich." Er küsste die Tränen weg. Freudentränen schmeckten so gut.

„Danke!" brachte sie nur heraus.
„Wofür denn, Süße?"
„Für deine Liebe!" flüsterte sie.
„Wo sollte ich denn sonst hin damit?" gab er zu bedenken.

Sie lächelte durch die Tränen. „Na, da gäbe es bestimmt die eine oder andere Interessentin!" scherzte sie.
„Nicht interessiert!" sagte er nur. „Für mich nur die Beste! Da bin ich eigen!"

Er küsste sie liebevoll.
„Sollten wir nicht wieder nach oben?" fragte sie lächelnd.
„Und was ist mit meinem versprochenen Quickie?" Er tat sehr enttäuscht.
Sie lachte leise. „Hast du Alzheimer?"

„Bei der Liebe schon! Volle Kanne! Ich weiß nie, haben wir jetzt schon oder nicht?" Er grinste sie mit seinen Dackel-Lausbubenaugen an, seine Hände waren schon eine Weile unterwegs, ließen sie keuchen. „Braves Mädchen!" lobte er, bevor er in sie eindrang und sich schnell noch einen Kick abholte.

Um sechs Uhr bekam sie einen Riesenschreck. „Ich wollte doch kochen!" rief sie und sprang auf.
Er zog sie wieder zurück. „Du weißt, was auf Mordversuch steht!" warnte er.
„Frecher Kerl!" maulte sie.

„Sina! Du hast tausend Qualitäten! Aber hausfrauliche gehören nun einmal nicht dazu, finde dich endlich mal damit ab!"

In diesem Moment läutete es, Patrick lief nach unten, ließ die Caterer herein. Er war sehr erleichtert, hatte Panik geschoben, dass Sina wirklich kochen und damit die ganze Familie und den Freundeskreis ausrotten würde.

So aber gab es leckere Salate, kalten Braten, frisches Brot, Dessert. Alle langten kräftig zu, bedankten sich bei Tom, dass er ihnen Sinas Kochkunst erspart hatte. Die nahm die Frotzeleien mit Humor, wo sie Recht hatten, hatten sie Recht!

Es wurde ein fröhlicher Abend, Sina unterhielt die Gesellschaft zum größten Teil. Die Arbeit für die Kabarettisten, es waren noch ein paar bekannte Namen dazugekommen, hatten ihren Humor noch geschliffen, Tom lachte Tränen über seinen Clown, wurde aber auch immer heißer auf sie.

Um Zwölf warfen sie die Gäste hinaus, am nächsten Tag um Acht würde das Umzugsunternehmen vor der Türe stehen. Die Kinder schliefen schon, Patrick und Marie waren eher gegangen. Sie mussten sich Morgen um achtfachen Nachwuchs kümmern!

„Wirst du die Wohnung vermissen?" fragte Sina, als sie mit einer letzten Zigarette an der Brüstung standen und auf die Stadt hinuntersahen.
„Ja, weil ich hier die glücklichste Zeit meines Lebens verbringen durfte, nachdem ein kleiner Sina-Floh hier eingezogen war! Nein, weil ich die glücklichste Zeit meines Lebens in dem neuen Haus verbringen werde!"

Sie sah ihn sprachlos an.
„Ha! Habe ich einen Punkt gemacht?" Er geschah nicht oft, dass er sie mit Worten besiegte. Sie nickte lächelnd. „Oui, mon General!"
„Und du?" fragte er dann.
„Selbe Antwort!"

Sie tranken ihr Glas leer, gingen engumschlungen nach unten. Er spürte ihre Müdigkeit, nahm sie in den Arm, streichelte sie sanft in den Schlaf, ließ seine Gedanken noch ein wenig in die Vergangenheit reisen.

Nach der Trennung von Simone hatte er die gemeinsame Wohnung aufgegeben, war zu seinen Eltern in sein altes Zimmer zurückgezogen, wollte sich erst wieder neu orientieren. Es fehlte ihm dort an nichts, nur mit den Damenbesuchen war es etwas schwierig.

Er musste sich immer Frauen suchen, zu denen sie gehen konnten für eine oder zwei Nächte. Dann waren seine Eltern verunglückt, er hatte das Haus verkauft, zusammen mit den Lebensversicherungen hatte er diese Wohnung bezahlen können. Er wollte etwas mit dem Erbe machen, das im Sinne seiner Eltern war, etwas Dauerhaftes schaffen.

Fünf Jahre hatte er hier alleine gelebt, von abwechselnden weiblichen Übernachtungsgästen abgesehen.
Dann kam die Krabbe in sein Leben, von da an war die Wohnung ein Zuhause. Zuerst für ein Liebespaar, dann für ein Ehepaar, schließlich für ein Elternpaar von mittlerweile sechs Kindern.

Nie hatte er beim Kauf gedacht, dass er hier so unendlich glücklich werden würde.
Der Abschied von diesem Heim fiel ihm schon schwer, aber das neue Haus war schön geworden, der Garten war gut für die Kinder, die Nähe zu Patrick und Marie wunderbar. Er freute sich auf diesen Neuanfang.


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