Kapitel 13 - Freitag, 5.8. (*3*)


Atemlos kam er an seinem Arbeitsplatz an. Die Kollegen grinsten. Schon zwei Tage in Folge war ihr überpünktlicher Teamleiter kurz vor knapp zum Dienst erschienen. Abgehetzt, aber mit strahlenden Augen, das ließ durchaus Rückschlüsse zu, was ihn immer so sehr ablenkte, dass er die Zeit vergaß.

„Na, Tom, im Liebesstress?" Bastian grinste ihn an.
„Das kannst du annehmen! Verlieb dich lieber nicht so sehr! Da wird schnell mal die Zeit knapp!" riet er dem Junior.
„Bist du von Sinzing hergekommen? Da ist ein Riesenstau!" fragte Fabian
„Nein, ich habe Sina meine Wohnung gezeigt!"

„Und das ist ja eine sehr große Wohnung!"
„Eben! Bis wir einmal durch waren, war es halb sechs!" Er grinste die Kollegen an.
Ja, frotzelt nur, dachte er. Mir macht das gar nichts aus.
„Und jetzt? Wie kommt deine Hübsche nach Hause?"
„Gar nicht! Sie ist noch da!"

Fabian blieb der Mund offen stehen. „Eine Frau, alleine in deiner Wohnung? Na, jetzt glaube ich aber wirklich langsam an die Liebe!"
Tom verpasste ihm eine Kopfnuss. „Ich bin ja froh, dass ihr ein Opfer habt!"
Clemens kam dazu, wunderte sich, worüber die drei so lachten.
Fabian klärte ihn auf. „Also, unser Tom ist ja der erklärte Liebling aller Frauen zwischen 16 und 60!"

„Ja, das ist mir schon zu Ohren gekommen!" sagte der junge Arzt lächelnd.
„Klar! Sein Ruf eilt ihm meilenweit voran! Okay, wenn er also eine Puppe abgeschleppt hat, gibt es in seiner Wohnung gesperrte und freie Zonen, weil ihm seine Privatsphäre sehr wichtig ist! Und jetzt gibt es da seit ein paar Tagen Sina, die Hübsche. Und jetzt ist, man höre und staune, Sina, die Hübsche alleine in den heiligen Hallen! Und Tom lebt noch und atmet ganz normal!"

Der brachte das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht. „Weißt du, Fabian, was mich wirklich interessieren würde? Worüber ihr euch in einem Jahr den Mund zerreißt, wenn Sina und ich ein langweiliges Liebespaar sind!"
„O nein!" stöhnte der Kollege und wandte sich an ihren Junior. „Bastian, bist du bis dahin so weit, unseren Don Juan zu ersetzen? Oder Clemens, wie sieht es bei dir aus? Hast du auf dem Gebiet etwas vorzuweisen?"
„Tut mir herzlich leid, ich bin glücklich verlobt!"
„Also, Bastian, dann über mal fleißig. Nötige Tipps kannst du jederzeit bei deinem Chef abholen! Das gehört mit zur Ausbildung!"
Der erste Alarm unterbrach das Geplänkel. Vier Profis machten sich auf den Weg, Leben zu retten.
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Sina saß erst einmal fassungslos alleine in der Wohnung. Die Ereignisse überschlugen sich buchstäblich. Gestern hatte sie noch gegrübelt, wie es weitergehen sollte, heute saß sie hier in Toms wunderbarer Wohnung und wusste, dass sie sich hier schon wohlfühlen konnte. Es war immer ihr Traum gewesen, mitten in der Stadt zu wohnen!
So, jetzt musste sie sich erst einmal Wäsche und Kosmetikartikel besorgen. Sie genoss es unheimlich, einfach zu Fuß loszuziehen.

Im nahen Kaufhaus fand sie, was sie brauchte. Sie sparte nicht, das Haus mit all den finanziellen Belastungen war bald Geschichte, ihr Konto sah zurzeit gut aus. Sie kaufte sich ein paar teure Wäschesets, einen Morgenmantel aus kobaltblauer Seide, Socken, Pantoffeln, ein paar fetzige T-Shirts, eine coole Sweatjacke, eine obercoole Jeans, ein sehr sexy Nachthemd, eine Haarbürste, Duschbad und Körperlotion in einer aufregenden Duftnote, Shampoo, Gesichtscreme.

Wieder in der Wohnung räumte sie die Kosmetiksachen ins Bad, die Klamotten ließ sie in der Tüte. Sie wollte nicht in sein Ankleidezimmer in seiner Abwesenheit. Dann drehte sie noch einmal eine Runde durch die Wohnung. Im Arbeitszimmer hätte ihr Schreibtisch noch locker Platz, auch die Regale mit ihren Ordnern und Schulbüchern. Eine Weile stand sie vor dem Bett im Gästezimmer. Wie viele schöne Frauen sich wohl hier schon wohlig geräkelt hatten, stöhnend unter seinen Händen und Lippen?

Die Tränen traten ihr in die Augen, liefen die Wangen hinunter. Sie konnte nicht anders, sie musste diesem blöden Bett einen Tritt geben!
Doch dann schalt sie sich eine blöde Kuh! Natürlich hatte es vor ihr Frauen gegeben! Er war fast 30, sah fantastisch aus, warum hätte er denn wie ein Mönch leben sollen? Hauptsache war, dass es jetzt damit vorbei war!
Und wenn nicht? schrie ihr Herz.

Dann würde sie auch das überleben! Sie wusste es. Sicher konnte sie sich nie bei einem Mann sein, das hatte Max ihr eindrucksvoll bewiesen.
Aber sie war die Frau, die er gebeten hatte, zu ihm zu ziehen, nach nur vier Tagen, sie liebte er jetzt und heute, für die Zukunft konnte niemand eine Garantie geben! Sie wollte glücklich sein mit diesem wunderbaren Mann, jetzt!
Dann rief sie von ihrem Handy ihre Freundin und Nachbarin Sabine an.

„Hallo, Sabine, ich bin im Moment in Toms Wohnung, bleibe heute Nacht hier. Er hat zwar Dienst, aber er hat es zeitlich nicht mehr geschafft, mich heimzufahren!"
„Aber ich hätte dich doch holen können!"
„Nein, ist schon gut! Ich werde sowieso irgendwann hier einziehen!"
„Sina, lass dir Zeit! Überstürze nichts!"
„Ja, aber das Haus muss ich eh verkaufen! Wenn Max nicht mehr mit zahlt, stemme ich das alleine nicht!"

„Das verstehe ich schon! Klar! Du, übrigens, mein Bruder sucht was in der Nähe, soll ich ihn mal fragen?"
„Mensch Sabine, das wär's! Du hast doch den Schlüssel, er kann es sich auch gerne ansehen!"
„Und was hats du dir als Preis vorgestellt?"
„Na, so 250.000 Euro müsste ich schon verlangen!"
„Ich fang mal bei 300.000 an. Seine Frau hat vor kurzem einen Batzen geerbt, und sie verdienen beide gut!"
„Sabine, er ist dein Bruder!"
„Und du bist meine Freundin! Also, wenn sich schnell was ergibt, ruf ich dich auf dem Handy noch mal an! Tschau!"

Sina lächelte. 300.000 das wär's, da hätte sie ein dickes Polster!
Dann sah sie sich Toms CDs an. Kein schlechter Geschmack! Sogar ein paar Liedermacher waren darunter, ansonsten die Klassiker: Elton John, Queen , Billy Joel, Bruce Springsteen und viele andere. Aber auch eine umfangreiche Sammlung von Klassischer Musik. Das passte ja alles perfekt!

Das Bücheregal beinhaltete schwere Kost. Viele Sachbücher über Astrophysik und anspruchsvolle Literatur. Na ja, dass er intelligent war, wusste sie ja schon, schließlich musste er ein sehr gutes Abi gemacht haben, wenn er Medizin hätte studieren können!
Sie hatte plötzlich das Bedürfnis mit Patrick zu telefonieren. Als Zwillinge hatten sie eine ganz besondere Beziehung zueinander. Sie hing sehr an ihm, bedauerte immer, dass er in München lebte.
„Hallo, große Schwester!" Er hatte ihre Nummer erkannt, neckte sie immer, weil sie zwei Minuten vor ihm zur Welt gekommen war.
„Weiber!" scherzte er oft. „Immer müssen sie die Nase vorne dran haben!"

„Patrick, ich habe mich verliebt!" gestand sie unumwunden.
„Wow! Gott hat meine Gebete erhört! Ich hoffe, es ist nicht wieder so eine Niete wie Max!" Er hatte ihren Ex gehasst wie der Teufel das Weihwasser! Während ihre ganze Restfamilie Max sehr freundlich aufgenommen hatte, sie bestärkt hatte, ihn zu heiraten, hatte Patrick sie immer gewarnt. „Der ist falsch, Sina! Der ist nicht gut genug für dich!"

Und als Max sich dann so verändert hatte, als sie verheiratet waren, hatte ihm der Bruder mehr als einmal Prügel angedroht, wenn er nicht aufhören würde, sie so niederzumachen. Daraufhin hatte er sich wenigstens in Gegenwart ihres Zwillings zusammengerissen. Schließlich war Patrick ein Schrank von einem Mann!

„Nein, er ist toll! Fast so hübsch wie du!"
„Sina, ein Mann ist nicht hübsch! Ein Mann ist im Höchstfall attraktiv!"
„Klar, außer er ist so hübsch wie du oder Tom!"

Sie wusste, dass sie ihn damit zur Weißglut treiben konnte! Aber er sah wirklich umwerfend aus. Groß, kräftig, blonder Strubbelkopf, braune Augen. Und dazu ein echter Frauenversteher! Die Frauen belagerten ihn, aber er hatte nur Augen für Marie, die er seit der zehnten Klasse kannte. Seit dem Abiball waren sie ein Paar. Marie war nicht sonderlich hübsch, aber eine Seele von Mensch, die Patrick vergötterte. Sina mochte sie gerne. Sie war der ruhende Pol in Patricks umtriebigen Leben.

„Jetzt erzähl mal von dem Glückspilz, der dein Herz erobern konnte!"
Patrick liebte Sina über alles, hatte gelitten wie ein Hund, als sie so unglücklich war, hatte sich den Mund fusselig geredet, um sie von Max wegzubringen. Hätte ihn am liebsten das eine oder andere Mal umgebracht, wenn er ihr vor der ganzen Familie so über den Mund fuhr.
Schon, als sie die Schule schmiss mit 16 war er verrückt vor Wut gewesen auf den Typen, aber da war er 16 wie sie, sein Wort hatte nicht viel gegolten.

Er war dann nach dem Abi nach München gegangen, weil er das Ganze nicht mehr ausgehalten hatte, weil er ernsthaft gefürchtet hatte, dass einmal der Gaul mit ihm durchgehen würde, dass er Max den Hals umdrehen würde.
Er hatte ihr den wahren Grund für sein Fortgehen nie gestanden, sie hätte es nur noch schwerer gehabt! Seit er gehört hatte, dass sie die Scheidung eingereicht hatte, bemühte er sich um einen Studienplatz in seiner Heimatstadt. Er konnte wieder nach Hause kommen.
Sina schwärmte eine halbe Stunde von Tom. Patrick war zufrieden mit dem, was er hörte. Schien ein guter Typ zu sein, der seine Schwester aufrichtig liebte, und den vor allem sie lieben konnte!

„Na, Sina, das hört sich doch alles gut an, sehr gut sogar! Und ich bin stolz auf dich, dass du so mutig vorwärts schaust! Und dass du auch nach deinem Herzen handelst!"
„Danke, Patrick, das wollte ich heute noch hören! Aber die Eltern und Susanne müssen einstweilen nichts davon erfahren , ja? Ich habe keine Lust auf Wenn's und Aber's und gute Ratschläge!"
„Ja, das verstehe ich gut! Was ihre guten Ratschläge dir eingebracht haben, musstest du zehn Jahre lang aushalten! Nur auf mich hat keiner gehört! Dabei war ich der Einzige, der ihn durchschaut hat!"

„Ich weiß, Brüderchen! Wie geht es euch, wie geht es Marie?"
„Immer noch alles bestens! Ich bin verliebt wie am ersten Tag in meine süße Maus, und ich glaube, Marie kann mich auch noch ganz gut leiden!" Im Hintergrund hörte Sina Maries Stimme.
„Hat sie Einwände?" fragte sie lachend.
„Nein, sie hat nur gesagt, dass ich es ihr leicht mache, mich leiden zu können!"
Sina rührte die Liebesgeschichte der beiden oft zu Tränen, oder hatte sie zu Tränen gerührt. Oft war sie ein wenig neidisch gewesen, wenn sie die beiden beobachtete. Aber jetzt hatte sie ihre eigene Lovestory!

„Dann grüße sie lieb von mir! Bis bald, Patrick!"
„Ja, bis bald! Und du, Sina, ihr könnt uns gerne mal besuchen!"
„Du willst ihn unter die Lupe nehmen!" vermutete sie.
„Auch, ja! Also, Tschau!"
Kaum hatte sie aufgelegt, rief Sabine an. „Du, Sina, mein Bruder wäre sehr interessiert an deinem Haus! 290.000 plus 10.000 für die Küche, und ihr könnt nächste Woche zum Notar!"
„Wow, Sabine! Du bist der Hammer!" Sina glaubte zu träumen. „Dann sag zu! Tausend Dank!" Sie legte auf, da läutete Toms Festnetzanschluss.

Was sollte sie jetzt tun? Wenn es eine seiner Verflossenen war? Es läutete endlos, da fasste sie sich ein Herz und hob ab. „Christen bei Bergmann" meldete sie sich.
Es war eine Weile still am anderen Ende der Leitung. „Sag, das bitte noch einmal, Süße!" bat Tom.
Sina lachte. „Christen bei Bergmann!" wiederholte sie.
„Das klingt toll, Sinamaus! Das klingt so richtig! Christen bei Bergmann, so soll es bleiben, okay?" seine Stimme klang belegt.
„Ja, mein supertoller Supertom! Und wie es aussieht, wird es das auch ganz bald, wenn du es wirklich willst!"

„Hast du schon wieder Zweifel? Und warum redest du in einer Geheimsprache?"
„Nein, ich habe keine Zweifel! Und ich habe praktisch mein Haus verkauft, für einen Wahnsinnspreis! Der Bruder von Sabine, meiner Nachbarin und Freundin will es haben für 300.000 Euro!" jubelte sie.

Tom lachte. „Na, meine süße Sina! Wenn sie sich mal hat überreden lassen, fackelt sie nicht lange! Das ist wunderbar, das ist fantastisch, das ist phänomenal! Und nein, du wirst mich jetzt nicht fragen, ob es mir nicht zu schnell geht, ob ich wirklich sicher bin, weil du nämlich meine Meinung ganz genau kennst, und weil wir keine Spielchen spielen werden, in Ordnung?"
„Oui, mon General!"
„Du Clown! Jetzt weiß ich auch, warum dein Handy dauernd besetzt war!"
„Ah! Ich musste noch Patrick ein bisschen von dir vorschwärmen!"

„Bloß ein bisschen?" Er tat gekränkt.
„Na, ja! Vielleicht auch ein bisschen mehr! So eine halbe Stunde ununterbrochenen Redefluss!"
„Okay! Das klingt schon besser!" Er lachte glücklich. Sie klang vollkommen aufgedreht und zufrieden. „Und hast du in der Stadt alles bekommen, was du brauchst?"
„Jawollja! Und noch ein bisschen mehr!"
„Dann räum die Sachen ins Ankleidezimmer. Ich habe dir ganz links Platz gemacht!"
„Wann?"

„Weiß nicht! Ich glaube am Dienstagvormittag!" gestand er und lächelte vor sich hin.
Da fehlten ihr im Moment die Worte.
Ein paar Stunden, nachdem sie sich kennengelernt hatten, hatte er in seinem Ankleidezimmer Platz für sie gemacht?
Nein, da musste sie sich nun wirklich keine Sorgen mehr machen, dass es ihm zu schnell ging mit ihrem Einzug!

„Danke!" brachte sie schließlich hervor.
„Bitteschön! Und, Sina, noch eines, das Bett im Gästezimmer holt morgen Bastian, mein Kollege, mit ein paar Kumpeln ab, da stellen wir dann deines rein, das Bett, in dem ich dich das erste Mal lieben durfte, ja?" sagte er leise.
Jetzt konnte sie beim besten Willen die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Ja!" schluchzte sie. „Ich habe dem Bett gerade einen ordentlichen Tritt gegeben!" gestand sie.

Er lachte herzhaft. „Recht so, Mäuschen!" Ich hätte es im umgekehrten Fall nicht anders gemacht! dachte er. „Ich liebe dich, Sina!"
„Ich weiß!" sagte sie schniefend:
„Schlaf gut, kleine süße Krabbe! Und merke dir gut, was du träumst in der ersten Nacht in unserer Wohnung! Das soll ja in Erfüllung gehen!"
„Ja, Tom! Eine ruhige Nacht für euch! Und Tom? Du bist unglaublich! Wie könnte ich dich nicht lieben?" Sie legte auf, denn vor lauter Heulen hätte sie ja jetzt sowieso kein Wort mehr heraus gebracht!

Tom war glücklicher als je, wieder einmal! Seine Süße würde bald für immer bei ihm leben! Da schlug er sich vor den Kopf. Das was er ihr eigentlich sagen wollte, hatte er vergessen.
Er wählte noch einmal seine Nummer. „Christen bei Bergmann?"

Es klang wieder herzerwärmend schön.
„Entschuldige, Mäuschen, ich habe ganz vergessen, was ich dir eigentlich sagen wollte. Der Kühlschrank ist voll. Versprich mir, dass du dich bedienst, ja? Da steht auch eine Flasche Weißwein. Im Regal liegen ein paar Flaschen Rotwein, Wasser ist unter der Spüle, Knabbersachen sind im Schrank unter dem Fernsehapparat. Ansonsten such halt! Ich habe keine Geheimnisse zu verbergen, okay? Fühl dich nicht wie zu Hause, sei einfach zu Hause, bitte!"

Jetzt ging der Alarm wieder los, er wusste, sie hörte ihn durchs Telefon.
„Also bis morgen früh, und rechne damit, dass ich dich aufwecke!"
Sie war gar nicht zu Wort gekommen, aber das machte nichts! Sie hatte eh schon wieder einen Kloß im Hals. Mein Gott, was für ein Mann! Konnte der echt sein? Oder war einer ihrer Tagträume, mit denen sie sich oft über ihre Einsamkeit hinweggetröstet hatte, plötzlich zum Leben erwacht?

Sie suchte sich eine Flasche Rotwein aus, fand den Öffner. Ein Glas konnte sie mit viel Mühe erreichen, die Hängeschränke hingen sehr hoch. Sie musste grinsen. Das war der Nachteil, wenn man sich einen so großen Mann aussuchte!
Sie sah die Knabbersachen durch, auch hier hatten sie den gleichen Geschmack. Sie nahm eine Tüte Flips, suchte eine Schüssel, füllte sie, trug sie mit dem Weinglas auf die Dachterrasse.

Sie stand eine Weile an der Brüstung, sah auf die Straße hinunter. Viele Menschen waren in der warmen Augustnacht noch unterwegs, Lachen und Stimmen drangen nach oben.
Gut, so ruhig wie in Eilsbrunn würde es hier nicht sein, aber um sie pulste das Leben. Sie könnten jederzeit irgendwohin gehen, auf einen Cappuccino , ein Eis, ein Glas Wein, ins Kino, ins Theater, in die Disco.

Sie konnten aber auch hier oben sitzen, dem Leben zuhören.
Sie konnten Freunde einladen oder Kabarettisten im Fernsehen ansehen. Sie konnten lesen oder lachen oder sich lieben. Sie konnten zum Essen gehen, sich etwas bringen lassen oder gemeinsam kochen.
Sie konnten ihr Leben genießen, weil sie jung waren, frei, verliebt, verknallt. Weil sie sich vertrauten, weil sie an ihre Liebe glaubten, weil sie auf ihr Glück vertrauten!
Weil sie sich liebten!

Wieder musste Sina die Hand auf ihr Herz pressen, weil sie Angst hatte, es würde vor Glück platzen. Die Freundinnen hatten sie in diese Disco geschleppt, und sie hatten ihr ein neues Leben geschenkt.

Sie setzte sich auf einen der bequemen Stühle, legte die Beine auf einen zweiten, trank einen Schluck Wein, aß ein paar Flips, sie konnte es sich erlauben, sie hatte zwei Kilo abgenommen seit Montag!
Dann rauchte sie genussvoll eine Zigarette, die erste seit zwei Tagen.
Sie sah auf die Uhr, erst neun.
Sie sollte ihre Schwester wieder einmal anrufen.
Sie hatten jetzt nicht den Draht zueinander wie sie und Patrick, irgendwie hatte sie schon immer das Gefühl gehabt, dass Susanne eifersüchtig war auf die tiefe Verbundenheit zwischen den Zwillingen.
Sie war nur zwei Jahre älter, aber sie trennten Welten.

Die Ältere war absolut pragmatisch, eigentlich ein Mensch gewordener Taschenrechner, und Stefan passte eins zu eins zu ihr!
Nach der Trennung von Max hatte es heiße Diskussionen zwischen den Geschwistern gegeben. Susanne war der Meinung gewesen, Sina müsste das aussitzen, eine Scheidung wäre ein Skandal!

Patrick hatte sie böse beschimpft deswegen, konnte ihre dummen Worte nicht fassen!
Susanne hatte auch immer Probleme damit, dass der Bruder so großzügig von den Eltern unterstützt wurde.
Wenn, dann mussten alle Geschwister gleich behandelt werden!
Immer wieder Zahlen!
Zahlen und Geld!

Susanne kam auch nicht klar mit Marie, die Deutsch und Mathe auf Lehramt studiert hatte, ihr Referendariat aber nie angetreten hatte, weil sie nach Garmisch gemusst hätte, und sie sich von Patrick nicht trennen wollte.
So jobbte sie in Kitas in Brennpunktvierteln für einen Hungerlohn, war aber glücklich und zufrieden dabei.
Sina hatte größte Hochachtung vor dem, was sie tat!

Sie hatte Patrick einmal gefragt, warum sie nicht heirateten.
„Wozu?" hatte er gefragt. „Ist so ein Papier eine Garantie für Liebe?"


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