Kapitel 127 - 2006 (*4*)
Zwei Wochen später, im März 2006, traf Sina und Tom der nächste Schicksalsschlag. Zwar nicht direkt und auch nicht sehr nah, aber verletzend!
Sarah war eine der ersten, die im Therapiezentrum des Vereines einen Entzug gemacht hatte. Sie war noch nicht lange auf Droge, Bernd, einer ihrer Streetworker hatte sie im Bahnhofsviertel aufgegabelt, wo sie auf den Strich ging.
Sie war 16 Jahre alt, bildhübsch. Er hatte sie einfach ins Auto gepackt, zur Einrichtung gebracht. Ein halbes Jahr später war sie clean, freute sich auf ihr Leben. Sie machte eine hauswirtschaftliche Ausbildung im Zentrum, verliebte sich in Luca, der schwer abhängig war. Mit siebzehn wurde sie schwanger.
Tom tobte, entließ die Leiterin der Einrichtung. Sie wäre verpflichtet gewesen, darauf zu achten, dass Süchtige in Therapie keine intimen Kontakte hatten, vor allem nicht zu ehemaligen Süchtigen und schon gar nicht ungeschützt.
Als Sarah im fünften Monat war, setzte sich Luca den goldenen Schuss, irgendwie war er an Drogen gekommen. Sina hatte Sarah in Verdacht, alle anderen Wege waren praktisch auszuschließen.
Sarah brach zusammen, verlor jeden Lebensmut. Sie brachte ihr Kind zur Welt, einen Jungen, den sie Dominik nannte. Ein halbes Jahr hielt sie noch durch, kämpfte, wurde therapiert, wurde umsorgt, doch die Schuld am Tod Luccas, des Vater ihres Kindes, brach sie. Sie wurde die zweite Drogentote in der Stadt in diesem Jahr. Ein neuer Tiefstrekord zwar, aber es waren immer noch zwei zu viel!
In ihrem Zimmer fand die Polizei einen Brief an Tom und Sina. In herzzerreißenden Worten bat sie die beiden, sich um ihren Jungen zu kümmern.
Sie überlegten nicht lange, es gab keine Diskussionen, sie waren sich sofort einig, dass Dominik ihr Kind Nummer fünf werden würde.
Wider Erwarten gab es dieses Mal Schwierigkeiten mit dem Jugendamt. Eine neue Mitarbeiterin kam zur Wohnungsbesichtigung und Überprüfung der Lebensverhältnisse vorbei.
„Der Junge hätte kein eigenes Zimmer!" bemängelte sie.
Sina sah sie verständnislos an. „Der Junge ist fünf Monate!" wandte sie ein.
„Das ist egal! Ein Kind, das zur Pflegschaft gegeben wird, braucht ein eigenes Zimmer." Sie blieb stur.
„Außerdem haben Sie beide zur Zeit keinen Job! Und so hoch ist das Pflegegeld auch nicht, dass sie davon ihre große Familie ernähren können!"
Ihm blieb einen Moment die Luft weg. Wollte dieses Weib wirklich andeuten, dass sie Dominik aufnehmen wollten, weil sie auf das Pflegegeld scharf waren?
Sina atmete tief ein. Tom wollte die Mitarbeiterin eigentlich warnen, denn ein Vulkanausbruch stand unmittelbar bevor.
„Jetzt hören Sie mir bitte zu!" Sina begann ganz leise, ihre Stimme war aber messerscharf. „Unser viertes Kind, Phillip, wurde als Kind einer drogensüchtigen Prostituierten geboren, lebte die ersten fünf Jahre in einem Abbruchhaus. Wo war da das Jugendamt? Aber okay, er hatte natürlich ein eigenes Zimmer, halt mit verschimmelten Wänden, aber immerhin! Und seine Mutter hatte ja durchaus einen Job!"
Sie stand ruhig auf, kam mit den Kontoauszügen und einer Mappe zurück. Sie knallte die Auszüge beider Konten vor der Mitarbeiterin auf den Tisch. „Lesen Sie die Zahlen! Und dann wiederholen Sie Ihren letzten Satz!" Die Kontostände beliefen sich jeweils auf mehrere Hunderttausend Euro.
Die Sachbearbeiterin wurde immer röter im Gesicht.
Als nächstes schob Sina ihr die Mappe hin, in der sie alle Zeitungsausschnitte gesammelt hatte, die je über sie beide und den Verein erschienen waren, regional und überregional.
Fotos von Preisübergaben, von Auszeichnungen bis zum Bayerischen Verdienstorden, seitenweise Lobeshymnen auf das junge Paar.
Die Mitarbeiterin des Jugendamtes verschaffte sich nur einen Überblick, war aber natürlich mehr als beeindruckt.
„Das wusste ich alles nicht!" versuchte sie sich zu verteidigen.
Und jetzt explodierte der Krater, der bisher nur leicht geraucht hatte.
Sina brüllte los, dass die junge Frau zusammenzuckte. „Dann hätten Sie sich, verdammt noch mal, vorher informieren sollen, bevor Sie hierher kommen und uns zutiefst beleidigen!"
Und um dem ganzen noch ein Sahnehäubchen zu verpassen, legte sie der Besucherin Toms Arbeitsvertrag vor die Nase. „Nur das eine noch, zum Thema: Sie haben keinen Job!" Säure konnte nicht ätzender sein als ihre Stimme.
Die Sachbearbeiterin konnte nicht schnell genug ihre Unterlagen zusammenkramen, war schon an der Türe, als ihr einfiel, dass sie ja noch eine Unterschrift brauchte. Hilfesuchend wandte sie sich an Tom, der alles wortlos beobachtet hatte. Er wusste, das Reden musste er seiner Kleinen überlassen!
Nun lächelte er die Frau beruhigend an.
„Kommen Sie nur noch mal rein! Wenn Sie Dampf abgelassen hat, wenn der Gegner am Boden liegt, wird sie wieder ganz friedlich!" meinte er lächelnd, nahm seine süße Furie in den Arm.
Sina kochte sogar noch Kaffee, wie durch ein Wunder war auch ein Kuchen im Kühlschrank zu finden.
Wahrscheinlich die fast heilige Marie! dachte Sina lächelnd.
Sie unterschrieben die Papiere, die Frau verabschiedete sich, war froh, die Naturkatastrophe überlebt zu haben!
Eine Woche später zog Dominik bei ihnen ein.
Der Junge schlief bei Phillip, der darum gebeten hatte, sich um den Kleinen kümmern zu dürfen.
Sina war am Boden zerstört wegen des sinnlosen Todes zweier junger Menschen. Tom hielt sie jeden Abend im Arm, liebte zärtlich ihren Kummer weg, tröstete sie, ließ sie weinen. „Wir können nicht alle retten!" erinnerte er sie.
„Aber wir müssten es!" antwortete sie.
Sie schrieb das Drehbuch für einen berührenden Videoclip: Zwei wunderschöne junge Menschen verliebten sich, bekamen einen wunderschönen Jungen, das Leben hätte besser nicht laufen können.
Dann der Cut: Der Mann entschied sich für Drogen, starb mit nicht einmal zwanzig Jahren, die Frau folgte ihm kurz darauf nach. Der wunderschöne Junge blieb allein zurück. Sie führte auch Regie, der Clip brach alle Rekorde im Netz, bekam eine Auszeichnung nach der anderen.
Nach dieser Arbeit fand sie wieder zu ihrem Optimismus zurück. Sie hatte das Gefühl, etwas getan zu haben, damit sich diese Schicksale nicht wiederholten. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Tod nicht so ganz sinnlos war!
Auch Dominik war ein sehr braves Kind. Er nahm die Liebe seiner Eltern und Geschwister lächelnd an, schlief durch, trank sein Fläschchen, schlief, wuchs und gedieh. Tom war überzeugt, dass es vor allem Sinas Verdienst war, dass alle ihre Kinder diese Ruhe hatten, so glücklich waren, so brav!
Er hatte es gewusst, dass sie eine phantastische Mutter werden würde, wenn er auch keine Ahnung gehabt hatte, von wie vielen Kindern. Sie erhob nie die Stimme gegen eines von ihnen, sie nahm alles ernst, was sie zu bereden hatten, aber sie ließ ihnen auch nichts durchgehen. Ihre Konsequenz spürten alle.
Im Mai beschloss Tom, dass sie in Urlaub fahren würden.
„Du spinnst!" wehrte Sina ab. „Mit fünf Kindern!"
„Ja, willst du warten bis es sieben oder acht sind?" fragte er todernst.
Sie lachte und knuffte ihn. „Zuzutrauen wär's uns!"
„Eben! Wir waren außer auf der Alm noch nie in Urlaub!" gab er zu bedenken.
„Ich habe nichts vermisst!" versicherte sie.
Er zog sie in seine Arme. „Ich weiß, Süße! Ich auch nicht! Unser Leben war bisher ein einziger Traum!" Er küsste sie zärtlich, heiß, leidenschaftlich, merkte, wie schon wieder die Lust auf sie in ihm hochstieg. Aber die Kinder waren in ihren Zimmern, spielten, Dominik schlief, würde sich aber bald melden.
Er riss sich lächelnd von ihr los. „Später!" versprach er sich und ihr. „Ich liebe dich!" Das musste er ein paar Mal am Tag loswerden, weil es so sehr stimmte!
Er atmete tief durch. „Also, was hältst du von Kroatien? Es ist noch nicht so überlaufen und verbaut wie Italien."
„Dein Wunsch ist mir Befehl!" sagte sie grinsend.
Er sah in seinen Laptop, wo er die Seite mit Ferienhäusern hochgeladen hatte. „Wenn du wüsstest, was für ein Wunsch durch meinen Kopf spukt!" sagte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
Sie lächelte ihn süß an. Doch zum Glück sah er es nicht. Deshalb wandte er ja den Blick nicht vom Bildschirm, weil er ahnte, dass dieses Lächeln in ihrem süßen Gesicht auftauchen würde. Und dann müsste er die Kinder wahrscheinlich im Keller einsperren!
„Da hätte ich ein Ferienhaus. Eine kleine Anlage, nah zum Meer, nicht so weit zu fahren!"
Sie schaute sich die Bilder an. Es sah großartig aus. Toller Fernblick, mit Pool, kleiner Garten.
„Buchen!" sagte sie nur.
„Dein Wunsch ist mir Befehl!" sagte er grinsend.
„Wenn du wüsstest, was für ein Wunsch durch meinen Kopf spukt!" zitierte sie ihn.
Er zog seine süße Krabbe in seine Arme. „Könnte es sein, dass dieser Wunsch etwas mit schmusen, küssen, zärtlich sein, Liebe machen zu tun hat?" fragte er heiser.
„Durchaus!" Ihre Stimme klang nicht viel besser. Sie versanken in einem zärtlichen Kuss.
Annika und Felix schlichen sich grinsend an, sahen ihnen eine Weile zu. Sie waren es gewohnt, dass ihre Eltern ständig irgendwie aneinander klebten. Sie wollten sich zu den beiden kuscheln. Kuscheln war so schön!
Sie kamen vorsichtig näher, setzten sich auf den Rand des Sofas. Tom und Sina tauchten auf, nahmen die beiden in den Arm, kuschelten mit ihnen. Lea und Phillip kamen dazu, es wurde eine der wunderschönen Familienkuschelrunden, die sie alle so sehr liebten.
Eine Weile später meldete sich Dominik.
„Ich hole ihn!" rief Phillip und flitzte los. Er kam zurück, und alle schmusten den Kleinen ab, der glücklich quiekte.
Tom hatte Tränen in den Augen, wieder einmal. Konnte es mehr Glück auf der Welt geben, als das, was er im Moment erfuhr, auf diesem Sofa in dieser Wohnung mitten in der Stadt?
Als die Kinder im Bett waren, machten sie mit ihrer Urlaubsplanung weiter. Tom buchte das Haus für zwei Wochen, gab seine Kreditkartendaten für die Anzahlung ein.
Danach konnte er endlich mit seiner Planung der Nacht weitermachen. Allerdings, viel Planung brauchte es nicht! Sie konnten ganz gut ohne Planung eine Nacht zusammen verbringen!
Eigentlich ja schon immer! Sie fingen einfach einmal an, sich zu küssen, der Rest ergab sich dann schon von selbst. Und in dieser Nacht war der Rest ausgefüllt von zärtlicher Liebe, abgelöst von etwas wilderer Liebe, gefolgt von heißer Liebe. Sie hatten dieses Mal Lust auf alle Varianten, lebten ihre Lust einfach aus, weil sie es konnten, weil sie es wollten, weil sie sich lieben wollten, eine Nacht lang.
Weil sie nicht genug von einander bekamen, weil sie die Hände nicht voneinander lassen konnten. Weil sie wieder einmal dieser Rausch erfasste, den sie nur miteinander erleben konnten!
„So eine Urlaubsplanung turnt ganz schön an!" merkte Sina an, als sie wieder sprechen konnte.
Tom schnappte einmal mehr nach Luft vor Lachen. Das war ja klar, dass seine wunderschöne, heiße Krabbe so einen trockenen Kommentar abgeben musste!
„Ich, ich glaube ..... nicht," japste er, „dass wir zum Anturnen eine Urlaubsplanung brauchen!"
„Stimmt auch wieder!" waren ihre letzten Worte, bevor sie wegtrifftete.
Tom sah sie an, seine unglaublich schöne Ehefrau, seine Wahnsinnsgeliebte, seine beste Freundin, die fantastische Mutter seiner fünf Kinder, und die Liebe zu ihr machte ihn wieder einmal atemlos.
Er versuchte wieder einmal sein grenzenloses Glück zu fassen, diese Frau gefunden zu haben!
Er erinnerte sich an den Abend im Club, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Als er sich verliebt hatte in ein hübsches Mädchen, das lachend mit den Frauen am Tisch gesessen hatte, die gar nicht in die Disco gepasst hatten.
Das ihn etwas schüchtern angelächelt hatte, das ihn mit diesem Lächeln mitten in sein Herz getroffen hatte. Das ihm sein Leben erzählt hatte an einer Bar in seinem Lieblingsclub, das ihm zugehört hatte, als er ihm sein Leben erzählt hatte.
Er dachte an den ersten Tanz mit ihr, als er gehofft hatte, die Zeit möge stillstehen, damit er sich ein Leben lang mit ihr zu sanfter Musik bewegen konnte. Er dachte an ihren ersten Kuss, als er dachte, die Sehnsucht nach ihr nicht überleben zu können.
Er dachte an den Donaustrand, als die Leidenschaft sie das erste Mal erwischte, als die Pettingrunde ihnen beiden so viel Glück gab. Er dachte an das erste Mal, als er sie lieben durfte, an die wahnsinnigen Gefühle, die er empfunden hatte, als er mit einer Frau zusammen diese Leidenschaft erfahren durfte, die er liebte.
Alles, was vorher gewesen war, zählte nicht mehr, war nichts gegen das, was er mit ihr erlebte.
Er war als Mann neugeboren worden in ihren Armen. Sie war seine erste Frau gewesen, und sie würde die letzte sein! Er liebte sie, er würde sie immer lieben, er war glücklich, er war so unendlich glücklich!
Er wollte nicht schlafen, er wollte dieses Gefühl in sich genießen! Doch dann wurde er sich bewusst, dass er ruhig schlafen konnte, weil dieses Gefühl auch morgen noch da wäre, und übermorgen, und in zehn Jahren auch noch!
„Ich liebe dich so sehr!" Einmal musste er es trotzdem noch aussprechen. Sie öffnete ein Auge, lächelte ihn an. „Ich weiß, Tom! Nichts weiß ich so sicher wie das!" flüsterte sie.
Und damit war alles gesagt, was wichtig war! Sie wusste, dass er sie liebte! Er wusste, dass sie ihn liebte! Er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, denn Träume erlebte er ja am Tag genug, wahr gewordene Träume!
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