Kapitel 119 - Anfang Februar 2005
Tom war gerade aus dem Haus, als es läutete. Sina griff zur Türsprechanlage. „Ja, bitte?"
„Hallo! Ist Tom da?" fragte eine fremde weibliche Stimme. Sina schaltete den Bildschirm ein. Eine Frau mit einem Kind an der Hand.
„Wer sind Sie?" erkundigte sie sich.
„Simone Bergmann! Ich muss mit Tom sprechen!" hörte sie und erstarrte. Simone, seine Exfrau mit einem Jungen! Seinem Kind? Wie alt mochte es sein? Sie überschlug im Kopf die Zeiten. Sieben! Es müsste um die sieben Jahre sein, wenn.... Er sah jünger aus.
Sie drückte auf den Türöffner, schalt sich furchtbar leichtsinnig, musste aber jetzt Bescheid wissen!
Schweratmend kam die Frau, die fast Toms Leben zerstört hatte, die Treppen herauf, der Junge an ihrer Hand quengelte, wollte von ihrer Hand, trat nach ihr.
Simone ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich?" bat sie.
Sina erfüllte den Wunsch widerwillig. In diesem Moment kam Lea lachend ins Zimmer, stockte, als sie den Besuch sah. Phillip sah die Kleine, stürzte mit lautem Gebrüll auf sie zu. Das Mädchen fing an zu schreien, versteckte sich hinter Sina, die sie schnell auf den Arm nahm. Simone ohrfeigte den Jungen, dass er hinfiel.
Sina hatte das Gefühl in einem Albtraum zu sein. „Sind Sie verrückt, ihn so zu schlagen? Ist der Junge verrückt? Was wollen Sie?" schrie sie. Lea drückte sich ängstlich an sie. Sina brachte sie ins Zimmer zu den Zwillingen. „Bitte, Lea, bleibt hier ja?"
„Was ist das für ein böser Junge?" fragte das Mädchen ängstlich.
„Böser Junge! Böser Junge!" sang Annika. Die Zwillinge freuten sich über jedes neue Wort, das sie hörten. „Böser Junge! Böser Junge!" plapperte Felix nach.
„Ich weiß es nicht!" antwortete Sina, und hoffte, dass er kein Halbbruder ihrer Kinder war.
Sie ging zu Simone zurück. Sie brauchte Klarheit.
„Ist er Toms Kind?" fragte sie dann auch gleich.
Simone lachte zynisch. „Das wär's oder?" Sie sah Sina boshaft an. „Nein, keine Angst, Kleine! Der perfekte Mister Saubermann würde kein solches Monster produzieren!"
„Könnten Sie mir dann bitte erklären, was dieser Überfall soll?"
Simone wurde ernst. Schließlich wollte sie etwas von der kleinen Schönheit, die ihre Nachfolge angetreten hatte. Phillip räumte einstweilen die Kissen vom Sofa, sprang Trampolin auf dem Polster.
„Phillip, hör auf!" brüllte seine Mutter. Er streckte ihr die Zunge heraus. Sie stand auf, gab ihm die nächste Ohrfeige.
„Hören Sie auf, das Kind zu schlagen!" brüllte Sina, ging zu dem Jungen, hob ihn auf den Boden, strich ihm übers Haar. Er biss sie in den Arm. „Nettes Kind!" murmelte sie, er grinste sie frech an.
„Also, warum ich hier bin: Ich werde sterben, ich habe höchstens noch drei Monate zu leben. Ich wollte Tom bitten, sich um Phillip zu kümmern."
„Was?" Sina glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Und warum sollte er das?"
„Weil er ein Gutmensch ist?"
Sina schüttelte den Kopf. Sie war wohl in einem schlechten Film gelandet. „Aber das geht nicht! Nie im Leben! Wir haben schon drei Kinder!"
„Aber Phillip muss sonst ins Heim! Geben Sie ihm doch eine Chance! Er hatte bisher kein schönes Leben!" Simone verlegte sich auf Betteln. Sie fühlte, dass die Kleine ein weiches Herz hatte. Wenn sie die knackte, hatte sie bei Tom eine Chance.
„Wo ist Tommi eigentlich?" fragte sie, gebrauchte provozierend den Kosenamen.
„Tom ist an der Uni!" antwortete Sina.
„An der Uni? Studiert er jetzt doch noch? Der Spinner! Und Sie halten ihn aus? Und das ist Ihre Wohnung?" Na, da hat sich ihr Ex ja scheinbar ein Goldeselchen geschnappt!
Sina hatte das Gefühl, Tom verteidigen zu müssen, auch wenn es ihr nicht richtig vorkam, der Verflossenen zu viele Einzelheiten aus ihrem Leben zu berichten. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Nein, sie wollte lieber schweigen. Sollte die kaputte Type doch von ihr denken, was sie wollte.
Wie durch ein Wunder hörte sie den Schlüssel im Schloss und kurz darauf seine Stimme: „Hallo, süße Sinamaus! Das Seminar ist ausgefallen! Grippewelle!"
Lea raste in den Flur, als sie seine Stimme hörte. „Tompapa!" rief sie und warf sich in seine Arme.
Die Zwillinge folgten ihr auf dem Fuß. „Papa Papa!" riefen sie. „Böser Junge! Böser Junge!" Sie freuten sich, ihre neuen Worte vorführen zu können.
Tom lachte laut. „Was? Was erzählt ihr da? Papa ist ein böser Junge?" Er setzte Lea ab, nahm Annika und Felix auf den Arm. Die beiden kicksten. „Da drinnen ist ein böser Junge!" klärte Lea ihn ganz ernst auf.
Toms Blut gefror in den Adern. Ein böser Junge bei Sina? Ein böser Mann? Warum war sie ihm nicht entgegengekommen? Er rannte die paar Schritte zum Wohnzimmer.
Er sah Simone am Tisch bei seiner Frau sitzen, sah den Jungen, der auf ihrem Sofa sprang wie ein Verrückter, nur aus den Augenwinkeln.
„Raus!" schrie er Simone an. Die Kinder zuckten zusammen. Phillip sah ihn interessiert an. Brüllende Männer, damit war er vertraut!
Er sah, wie seine Mutter aufstand. „Tommi, bitte!" flehte sie. Der Junge lief zu dem fremden Mann. „Bist du mein Alter?" fragte er.
„Was? Nein! Raus alle beide! Verschwindet!" Die Kleinen fingen an zu weinen. So kannten sie den Papa gar nicht. Sie steckten die Köpfe in Sinas Schoß, Lea klammerte sich an ihren Arm. Es war das reinste Chaos!
Simone griff nach Toms Arm. „Bitte! Tommi!" Er schleuderte sie weg.
„Fass mich nicht an! Und nenn mich nicht Tommi! Hau ab!" Er war kreidebleich, wollte zu Sina, zu seinen Kindern! Was wollte dieses Weib hier? Jetzt? Nach all den Jahren? Was wollte sie von Sina? Wer war dieses unmögliche Kind?
Phillip machte die weinenden Zwillinge nach: „Hu! Hu! Hu! Was für Babys!"
„Halt die Klappe!" fuhr Tom ihn an.
„Halt selber deine Klappe!" gab der Junge frech zurück.
Simone gab ihm die dritte Ohrfeige, die er auch vollkommen ungerührt hinnahm.
„Ich habe gesagt, Sie sollen den Jungen nicht schlagen!" brüllte Sina. Sie wäre aufgesprungen, wenn die Kinder sie nicht so blockiert hätten.
Phillip wunderte sich. Die hübsche Frau hatte jetzt schon dreimal gesagt, seine Mutter sollte ihn nicht schlagen. Dabei war er doch daran gewohnt, dass es immer Ohrfeigen hagelte.
Tom hoffte, jede Minute aus diesem Albtraum aufzuwachen. Seine Zwillinge weinten, Lea war kurz davor, seine Süße sah ihn mit ängstlichen Augen an! Das konnte nicht wirklich geschehen!
Er atmete tief durch, er musste sich beherrschen!
Er baute sich vor Simone auf. „Was willst du?"
„Ich werde sterben!" sagte sie, hoffte auf Mitleid. Sie hatte vor dem Besuch noch eine kräftige Prise geschnupft, war relativ relaxt, der Gedanke an den eigenen Tod ließ sie im Moment ziemlich kalt. Sie begann die Situation sogar etwas zu genießen. Das Leben von Mr. und Mrs. Perfekt ein wenig durcheinander zu bringen!
„Und? Was habe ich damit zu tun? Du hast Jahre lang Gift in dich hineingepumpt, da ist es kein Wunder!"
Simone wollte sich einsichtig zeigen, ihn nicht weiter herausfordern. „Ich weiß! Aber ich habe ein Kind!"
„Und? Was hat das mit mir zu tun?"
„Ich wollte dich bitten, dich um Phillip zu kümmern!" sagte sie kleinlaut.
Tom bekam fast einen Lachanfall. Diese Bitte war ja wohl mehr als absurd!
„Was soll ich? Mich um dein Kind kümmern? Bist du vollkommen verrückt?"
„Tom! Bitte! Um der alten Zeiten willen!" Sie wollte sich noch nicht geschlagen geben.
Sina sah atemlos von ihr zu ihm, von ihm zu ihr.
Jetzt begann Tom wirklich zu lachen. „Das glaube ich jetzt nicht! Du tauchst nach Jahren hier auf, belästigst meine Frau, erschreckst meine Kinder und appellierst ausgerechnet an die alten Zeiten? Die Zeiten, in denen du mich ausgenommen hast wie eine Weihnachtsgans, um Drogen zu kaufen? Du bist vollkommen irre! Noch verrückter als in den alten Zeiten!"
Seine Stimme war leise, beherrscht, aber messerscharf. „Und jetzt geh bitte! Sonst rufe ich die Polizei!"
Simone spürte, dass sie verloren hatte. Na denn! Tänzelnd ging sie in Richtung Flur, Tom merkte, dass sie high war. „Komm, Phillip! Wir gehen!" Sie fasste ihn hart am Arm, zog ihn grob hinter sich her.
Der brüllte zum Abschied die heulenden Kinder noch einmal laut an. Es machte ihm Spaß, die Biester zu erschrecken, die eine Mutter hatten, die etwas dagegen hatte, dass seine Mama ihn schlug.
Tom ging mit in den Flur, öffnete die Wohnungstüre. Simone versuchte noch einen Augenaufschlag, versuchte ihn anzufassen. „Wir hatten doch auch schöne Zeiten, Tom!" wagte sie einen letzten Versuch.
„Ja!" sagte er kalt. „Jedes Mal, wenn ich mich daran erinnere, muss ich kotzen!" Er schob sie hinaus, knallte die Türe ins Schloss.
Die Familie Bergmann tauchte langsam wieder aus dem Wahnsinn auf. Tom kniete neben Sina, hielt sie umschlungen, die Kinder gleich mit. „Verzeih, Süße! Bitte verzeih mir!" flüsterte er.
Sie sah ihn erschrocken an. „Was kannst du denn für diese Verrückte?"
„Nichts! Das ist schon klar!"
„Ich bin froh, dass du eher gekommen bist!" Ihr wurde jetzt erst bewusst, dass sie eigentlich mit Simone alleine gewesen wäre die ganze Zeit. Wie wäre sie die denn wieder losgeworden?
Tom kochte Kaffee, machte die Gläschen für die Kleinen, kochte Nudeln mit Soße für Lea, machte Brote für sich und Sina. Er musste sich ablenken. Die Kinder beruhigten sich schnell durch die alltäglichen Tätigkeiten.
Sina war ihm dankbar, sie hatte keine Kraft mehr. Sie schleppte sich zum Sofa, kuschelte sich mit den Kindern darauf, sah Tom zu. Er sah umwerfend aus, wie er mit geschickten Händen alles erledigte. Er sah immer wieder zu ihnen hinüber, war froh, dass sie sich alle langsam wieder beruhigten.
Er brachte zuerst die Gläschen für die Zwillinge, stellte dann den Teller für Lea auf den Tisch.
„Essen fassen!" rief er betont fröhlich.
„Böser Junge! Böser Junge!" trällerten Annika und Felix und lachten sich kaputt dabei.
Lea grinste. „Die sind lustig, die zwei!" Sie küsste ihre kleinen Geschwister.
Die Eltern hielten sich den Bauch vor Lachen. Alles war wieder gut!
Am Abend, als die Kinder im Bett waren, zog Tom seine süße Frau auf seinen Schoß.
„Na, das war ein Tag heute!" flüsterte er in ihre wunderschönen langen Locken. Immer wieder hatte sie sie abschneiden wollen in den letzten Monaten, weil sie so viel Arbeit machten, immer wieder hatte sein bittender Dackelblick gewonnen.
Tagsüber hatte sie sie meistens hinten zusammengebunden, es war einer seiner Lieblingsmomente, wenn er abends den Haargummi löste, wenn die Kinder im Bett waren.
Sie sah ihm in die Augen, diese wunderschönen grünen Augen. „Der Junge tut mir leid!" sagte sie.
„Nein! Nein! Bitte nicht, Krabbe! Bitte, komm mir nicht so!" Er streichelte ihr schönes Gesicht. „Denk nicht mal im Traum daran! Das ist ein Monster, kein Kind!"
Sie fuhr mit den Händen durch sein Haar. „Ich weiß! Aber er tut mir trotzdem leid! Ich hasse es, wenn Kinder von Geburt an keine Chance haben!"
Tom küsste sie vorsichtshalber, um etwaige Ideen in ihrem schönen Köpfchen gleich zu zerstreuen.
Sie schmiegte sich an ihn wie ein Kätzchen, er kraulte sie wie ein Kätzchen.
„Wollen wir noch einen Film ansehen?" fragte er.
„Ja, den, der letzte Woche gekommen ist!" bat sie.
Sie bestellten sich alle Liebesfilme, die je gedreht worden waren. Sie wussten nicht warum, aber sie liebten es, aneinander gekuschelt die Lovestorys anderer anzusehen, zumindest immer teilweise.
Er legte die DVD ein, schenkte ein Glas Wein ein, stellte ein Schale mit Knabberzeug auf den Tisch. Sie genossen ihre Zweisamkeit, genossen den Film, genossen ihre Nähe. Bald schon genossen sie, wie so oft, ihre Nähe am meisten, stoppten den Film, tranken das Glas leer, tranken küssend den Wein von ihren Lippen, fühlten sich so nahe, so vertraut, so eins miteinander, taumelten ins Schlafzimmer, sich küssend, küssend, küssend.
Noch immer machten ihre Küsse sie atemlos, erregten sie gegenseitig bis zum Anschlag!
Nie vorher hatte einer von beiden so geküsst, nie vorher war einer von beiden so geküsst worden. Ihre Küsse waren perfekt, aber sie hatten ja auch reichlich geübt, seit sie sich kannten.
Genauso verhielt es sich mit den Zärtlichkeiten, die sie sich schenkten, deren Intensität sie auch nie erfahren hatten, bevor sie sich getroffen hatten.
Und auch alles, was folgte in dieser Nacht wie auch in allen Nächten zuvor, hatten sie so noch nie erlebt, konnten sie nur mit sich erleben. Und auch das hatten sie reichlich geübt in den letzten Monaten. Aber irgendwie hatten sie das Gefühl, sie müssten in den nächsten Jahren immer noch mehr üben.
Glücklich schliefen sie engumschlungen ein.
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