Kapitel 116 - Fabian und Andrea (*3*)
An der Türe kam ihm Lea strahlend entgegen gelaufen. „Tompapa! Tompapa!" rief sie aufgeregt. „Sinamama hat gesagt, dass ihr jetzt meine Eltern seid! Mein Zimmer ist auch da! Ich habe die Zwillinge gefragt, ob es ihnen recht ist, sie haben nicht geschimpft!"
Tom hob sie hoch, drückte sie an sich, lächelte durch Tränen. „Das glaube ich dir, Schatz! Annika und Felix freuen sich doch, dass sie ein große Schwester bekommen haben!"
Lea sah ihn erstaunt an. Dieses Verwandtschaftsverhältnis war ihr noch nicht so ganz klar. „Ich bin jetzt eine große Schwester?" fragte sie sicherheitshalber nach.
„Ja, natürlich!" bestätigte Tom.
„Das war ich auch noch nie!" Lea war total überrascht.
Sina kam in den Flur, Tom setzte Lea ab, nahm seine Frau in den Arm, drückte sie fest an sich.
Das Mädchen lief zu den Zwillingen, spielte mit ihnen.
„Wie war es?" fragte Sina ihren Mann, der wieder einmal total verschwollene Augen hatte.
„Schlimm! Traurig!" Er küsste sie zärtlich. „Aber deine wunderbare Rede hat allen sehr gut getan!"
„Fein!" sagte sie nur.
„Und wie hat Lea es aufgenommen?" wollte Tom wissen.
„Ganz gut! Wie so etwas eben nur ein Kind aufnehmen kann! Mit dem Vertrauen, dass alles gut wird!"
Es klingelte. „Ich habe die anderen noch zu uns eingeladen!" gestand Tom.
„Prima!" meinte Sina nur und drückte auf den Türöffner. „Ich wollte das schon vorschlagen, als du gegangen bist!"
Tom lächelte. Er hatte es gewusst!
Bastian und Simon hatten Kuchen und Sandwiches besorgt, Tom kochte Kaffee.
„Gut, dass du nicht eingekauft hast!" scherzte Sina. „Sonst würden wir wieder in Kuchenbergen versinken!"
Tom zog sie in seine Arme, musste an den Tag denken, an dem er die Urkunde für seinen Doktor bekommen hatte, an dem er mit Fabian zusammen Kuchen gekauft hatte, viel zu viel natürlich, wie immer, aber letztendlich genau die richtige Menge.
Es wurde ein guter Nachmittag, ein wenig fröhlich, ein wenig traurig, alles im Sinn von Andrea und Fabian. Sina bat die Erwachsenen, mit Lea ganz normal umzugehen, sie nicht zu vorsichtig zu behandeln, sie nicht zu verzärteln.
Drei Tage später mussten Tom und Sina zum Notar. Das Vermögen, das Lea geerbt hatte, wurde auf ein Treuhandkonto gelegt, das Haus sollte verkauft werden, der Erlös ebenfalls angelegt werden. Sie unterschrieben die Vollmachten.
„Ihnen steht aber auch Unterhaltsgeld für die Kleine zu!" merkte der Notar an.
„Das brauchen wir nicht! So einen Floh bringen wir schon noch satt!" erklärte Tom, der wusste, dass Sina seiner Meinung war.
Am nächsten Tag waren sie aufs Vormundschaftsgericht bestellt, um die Adoption zu beantragen. Innerhalb eines Monates war alles erledigt, ihre Familie hatte ein neues Mitglied.
Zwei Wochen nach der Beerdigung kam ein Brief von einem Anwalt, der Fabians Eltern vertrat.
Sinngemäß hieß es darin, dass Lea keine Ansprüche auf das Vermögen der Großeltern erheben könne, und schon gar nicht die mit der Pflegschaft betrauten Personen. Tom und Sina waren fassungslos über so viel Gefühlskälte.
Wortlos holte sie ihre Digitalkamera, machte ein Foto von Lea, druckte es als Postkarte aus. Sie war mittlerweile sehr geschickt im Umgang mit den Geräten. Tom hatte ihren alten Computer entsorgt, ihr zum Geburtstag eine nagelneue EDV-Anlage geschenkt.
Auf die Rückseite der Karte schrieb sie. „Hallo, ich bin Lea! Euer Geld brauche ich nicht! Meine Liebe hätte ich euch gerne geschenkt, aber die braucht ihr nicht!"
Sie legte die Karte vor Tom auf den Tisch. Er las, lächelte, hob zustimmend den Daumen.
„Bringen wir sie gleich zur Post!" schlug er vor.
Sie machten sich auf den Weg. Jeder hatte seinen Zwilling an der Hand, die mittlerweile schon recht sicher laufen konnten, in der Mitte führten sie Lea.
Sie boten einen wunderschönen Anblick, viele Blicke folgten ihnen.
„Ich sollte mir ein neues Auto kaufen!" gab Tom unterwegs zu bedenken. Sie fuhren fast alles mit dem Bus oder mit dem Rad, aber wenn sie doch einmal mit dem Auto fahren müssten, wären beide Autos zu klein für drei Kindersitze.
„Einen Kombi?" Sie wollte ihn eigentlich aufziehen.
„Oder einen Kleinbus?" Er schoss mit noch größerem Kaliber zurück. „Vielleicht ist ja unsere Familienplanung noch nicht abgeschlossen?"
„Hör bloß auf! Aller guten Dinge sind drei!" stöhnte sie.
Zum ersten Mal seit dem Unfall blitzte das Lausbubenlächeln auf seinem Gesicht auf. „Aber ich denke, planen sollten wir nichts!"
Lachend liefen alle zur Post. Sie kauften Briefmarken nach Marbella, der Adresse, unter der Fabians Eltern gemeldet waren.
Danach lud Tom seine Familie zu einem Eis ein. Annika und Felix hätten eine Dusche gebraucht, als die Kugel endlich aufgeschleckt war. Lea aß brav und wohlerzogen aus dem Becher, putzte dann den Kleinen den Mund ab. Tom und Sina hielten sich glücklich an den Händen, lächelten ihre drei Kinder an.
„Na, du bist aber eine ganz brave!" lobte eine Frau am Nachbartisch.
Lea strahlte sie an. „Sagst du das meiner Mama?" bat sie
Die Frau lachte. „Na, deine Mama sieht das doch! Sie sitzt doch da!"
Das Mädchen sah sie verwundert an. „Nein, meiner richtigen Mama! Die auf der Wolke da oben ist! Wenn du ihr sagst, dass ich brav bin, kommt sie vielleicht wieder zurück!"
Den Erwachsenen schossen Tränen in die Augen. Was für Gedanken die Kleine marterten!
Die fremde Frau durchschaute sofort die Situation. Sie strich Lea übers Haar. „Ach, Kind! Die Mama ist doch nicht fortgegangen, weil du nicht brav warst! Deine Mama wäre nie fortgegangen von dir, sie wollte das nicht! Aber manchmal passiert eben etwas Schlimmes, und dann müssen Menschen gehen, verstehst du?"
Lea sah sie mit großen Augen an. So ähnlich hatte es ihr Sina auch schon erklärt. „Aber meine Sinamama und mein Tompapa bleiben bei mir!"
„Ja, ganz sicher! Und sie haben dich ja auch ganz fest lieb, nicht wahr?" Die fremde Frau zeigte viel Verständnis für die Kleine. Lea lachte wieder. „Ich weiß!" sagte sie fröhlich.
Tom schnappte sich die Zwillinge. „Kommt, wir waschen euch mal das Gesicht! Sonst glauben die Leute, wir haben zwei Monster und eine hübsche Tochter. Lea, hilfst du mir?" Er fühlte instinktiv, dass Sina sich mit der Frau austauschen wollte.
Sibylle gab Sina ihre Karte: Dipl. Psychologin Sibylle Winter.
„Wollen Sie darüber sprechen?"
Und aus Sina brachen die Worte heraus. Sie erzählte von dem Unglück, von Andreas und Fabians Brief, von der Adoption Leas. Von ihren Sorgen, ob sie alles richtig machten, von Susanne, die die Geburt der Zwillinge nicht verkraftet hatte, von ihrer Angst, dass Lea ähnlich reagieren würde.
Tom sah, als er aus dem Gebäude kam, wie intensiv seine Krabbe ins Gespräch vertieft war, fühlte, wie sehr sie es brauchte, sich einer vollkommen Unbeteiligten anzuvertrauen.
Er ging mit den Kindern zu ihr, küsste sie auf die Wange. „Ich gehe schon mal vor! Lass dir Zeit, Süße!"
„Danke!" antwortete sie und küsste ihn auf den Mund. Sie strich über seine Haare, war glücklich über sein Verständnis. Sie brauchte dieses Gespräch mit dieser fremden Frau jetzt, und er spürte das! Er war unglaublich!
Sie wandte sich wieder ihrer Gesprächspartnerin zu, erzählte weiter. Sybille hörte fassungslos zu. Sie hatte die junge Familie eine Weile beobachtet, hatte leichten Neid in sich aufsteigen gefühlt.
Eine wunderschöne Frau, ein toller Mann, eine bildhübsche superbrave Tochter, total niedliche Zwillinge.
Manche Menschen werden schon vom Glück verwöhnt, hatte sie gedacht.
Und jetzt hatte sie die Geschichte dieser jungen Frau gehört und dachte: Wie kann ein Mensch so viel Leid aushalten?
Laut sagte sie: „Sie sind eine außergewöhnliche Frau, wenn ich das sagen darf."
„Nein!" wehrte Sina lächelnd ab. „Ich bin eine Frau, die liebt und geliebt wird!"
„Ich denke mal, Sie werden sehr geliebt, und zwar, weil Sie so außergewöhnlich sind!" Sybille war eine Menschensammlerin. Sie sammelte Schicksale von Menschen. Sie interessierte sich für Geschichten, die Menschen ihr erzählten. Aber diese Geschichte der jungen Familie toppte alles, was sie bisher gehört hatte.
„Sie haben Angst, dass sich Ihr Leben bei Lea, Annika und Felix wiederholt? Nein, Sina! Das glaube ich nicht! Bei Ihrer Schwester sind viele Faktoren zusammengekommen. Als wichtigsten würde ich eine ausgeprägte Neurose sehen, das ist einfach eine Krankheit, die zu behandeln ist. Dann gab es sicher Erziehungsfehler. Ich vermute, dass Ihre Mutter eher schwach ist, Ihr Vater sehr dominant. Die Mutter hat viele Probleme mit der Tochter ihrem Mann verheimlicht, um nicht seinen Unmut auf sich zu ziehen. Sie ging den Weg des geringsten Widerstandes, in dem sie Susanne viel durchgehen ließ. Ihr Vater war beruflich sicher sehr gefordert, hat sich aus der Kindererziehung meistens herausgehalten. Er hatte einen Stammhalter, einen Kronprinzen, wie Sie ihn nennen, das genügte ihm."
Sina hing nahezu atemlos an ihren Lippen.
„Bei Ihnen sehe ich die Situation genau anders. Ihr Mann wollte ein Kind, aus dem dann zwei geworden sind, während seines Studiums, weil er Zeit mit ihm verbringen wollte. Er hat das letzte Semester ausgesetzt, weil ihm die Zeit mit diesen Kindern so wichtig ist. Sie ziehen erziehungsmäßig an einem Strang, sie können über alles mit einander sprechen. Sie lieben sich!"
In Sina löste sich ein Knoten. Diese Frau, die sie kaum kannte, hatte die Hauptangst ihres Lebens aufgelöst. Sie griff nach ihrer Hand. „Sie hat der Himmel geschickt!" sagte sie dankbar.
„Vielleicht!" Sybille lächelte. Sie dachte immer viel darüber nach, welch seltsame Zufälle es im Leben oft gab, welche Windungen das Schicksal manchen Menschen auferlegte. Dass sie dieses Eiscafé heute besucht hatte, sich an den Tisch neben der Bilderbuchfamilie gesetzt hatte, die kleine Lea angesprochen hatte, konnte ein Zufall sein, konnte Schicksal sein, konnte aber auch der Wink einer höheren Macht sein.
Sina stand auf.
Sybille hielt sie noch kurz auf, steckte ihr eine Visitenkarte zu. „Rufen Sie mich bitte an, wenn Sie jemanden zum Reden brauchen. Jemanden, der die Dinge von außen sieht, objektiv! Ich lebe alleine, habe viel Zeit, wirklich! Ich möchte auch nicht Ihre Familie kennenlernen, ich möchte meine Objektivität behalten! Ich möchte für Sie da sein!"
Sina sah sie dankbar an. Sie verstand die Gedankengänge der Psychologin. Im Freundeskreis und unter Verwandten kannten sie alle Tatsachen, redeten eigentlich immer im Kreis. Eine Außenstehende hatte einfach einen anderen Blickwinkel.
Zu Hause erzählte sie Tom von dem Gespräch. Er nahm sie in den Arm, war dankbar, dass sie diese Frau kennen lernen durfte.
„Das ist toll, Süße! Das tut dir sicher gut, wenn jemand von außen hin und wieder mit dir spricht!"
Sina musste ihn küssen. Was für ein Mann! Keine Eifersucht, kein: Was musst du mit fremden Leuten sprechen?, kein: Was hast du denn für Probleme? Nur Verständnis, immer, für alles!
„Ich liebe dich, Tom Bergmann!" hauchte sie.
„Das solltest du auch!" zog er sie auf, um seine Rührung etwas in den Griff zu bekommen. Sie küssten sich eine ganze Weile, versuchten, nicht den Kopf zu verlieren. Hätten es wohl nicht geschafft, wenn nicht Lea angeflitzt gekommen wäre.
„Wir haben Hunger, Hunger, Hunger!" sang sie.
Sina sah Tom an. „Essen? Abendessen? Haben wir einen Plan?"
„Um Gottes willen! Bloß keinen Plan! Aber wir können mal in den Kühlschrank schauen!" Er spielte die Panik gut. „Oder in die Speisekarte für die Bestellungen!"
„Perfekt! Sind wir heute noch einmal Rabeneltern!" Sie nahmen sich die Listen vor, die Kinder saßen auf ihrem Schoß. Lea wollte natürlich Nudeln mit Soße, für sich bestellten sie einen Gemüseauflauf, da konnten sie die Zwillinge mitfüttern.
Bis der Bote kam, spielten sie Fangen in der Wohnung. Lea war total süß zu den Kleinen, ließ sich immer wieder erwischen wie eine Erwachsene. Alle lachten, Annika und Felix krähten wieder einmal vor Vergnügen, Lea strahlte glücklich. Sie waren eine Familie mit drei Kindern, und es fühlte sich an, als wäre es nie anders gewesen.
„So, jetzt schmeißen wir alle in die Wanne!" bestimmte Tom nach dem lustigen Abendessen. Die drei plantschten, kicksten, spritzten, bis das Badezimmer schwamm. Die Eltern trockneten die Kinder ab, kitzelten sie, schmusten sie ab, legten die Zwillinge in ihre Betten, Tom hatte Lea auf dem Arm.
Felix sah sie mit seinen dunkelblauen Augen an. „Mama Papa Lea!" sagte er.
Annika sah sie mit ihren hellgrünen Augen an. „Papa Mama Lea!" sagte sie.
Tom und Sina sahen sich verwundert an, Lea strahlte. „Das habe ich ihnen heute gelernt!"
Er warf seine neue Tochter in die Luft. „Du bist echt toll, Mädchen!" Dann brachten sie auch ihre Älteste ins Bett, die geboren worden war, lang, bevor sie sich kennengelernt hatten.
Sie schalteten die Babyphone ein, sahen sich an, versanken ineinander.
„Ich liebe dich, und ich muss dich jetzt lieben!" hauchte Tom in ihr Ohr.
Sie taumelten ins Schlafzimmer, versanken in Leidenschaft, in Zärtlichkeit, in Liebe, die sie sich schenkten.
Es war nicht mehr so einfach, ihre Bedürfnisse nach Nähe zu befriedigen. Manches Mal hatten sie auch ein, zwei Tage Pause in Kauf zu nehmen, was sie mit Humor schafften. Manches Mal schafften sie nur einen Quickie, wenn ihnen der Sinn nach einer langen Liebesnacht stand.
Aber oft konnten sie sich auch noch stundenlang der Liebe widmen, der zärtlichen Liebe, der leidenschaftlichen Liebe, der wilden Liebe!
In dieser Nacht konnten sie wieder einmal die Hände nicht voneinander lassen. Sie hatten es schon beim Betreten des Schlafzimmers gespürt, dass in dieser Nacht keiner von beiden viel Schlaf finden würde.
Wenn sie sich so atemlos von ihren Kleidungsstücken befreiten, wenn sich ihre Augen so verdunkelten, wenn sie das Gefühl hatten, nicht genug Hände zu besitzen, um sich gegenseitig gut zu tun, wenn sie fürchteten, zu verbrennen, zu ertrinken an der Leidenschaft, wenn sie so hungrig nach einander waren, dann wussten sie, es würde eine Nacht der Nächte werden.
Und sie wussten, aus diesen Nächten und aus ihrer grenzenlosen Liebe kam die Kraft, das Leben zu meistern.
In dieser Nacht wussten sie noch nicht, was dieses Leben noch von ihnen fordern würde.
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