Kapitel 115 - Fabian und Andrea (*2*)
Im Zimmer nahm Sina Tom in die Arme.
„Ich habe mir so viele schöne Worte als Glückwünsche zu deinem Geburtstag ausgedacht! Aber jetzt kann ich dir nur wünschen, dass der Schmerz weniger wird!" Sie küsste ihn sanft auf seine weichen Lippen.
Er hielt sie lange fest.
Dann gingen sie zum Bettchen ihrer Kinder.
Als er seine hübsche Tochter und seinen hübschen Sohn sah, wusste er, das Leben würde weiter gehen.
Annika öffnete die Augen, seine Augen, lächelte ihn an, sagte: „Pama!" Felix öffnete die Augen, die Augen seiner Mutter, lächelte sie an, sagte: „Mapa!"
Sina und Tom lachten leise. Alle Versuche, den beiden Mama und Papa beizubringen, waren gescheitert.
Sie blieb stur bei Pama, er bei Mapa!
Tom wunderte sich, dass der Schmerz schon ein wenig kleiner geworden war.
Die Liebe seiner Kinder und seine Liebe zu ihnen hatten ihn schrumpfen lassen.
Als sie im Bett lagen, fielen ihm wieder seine entsetzlichen Worte ein. „Kannst du mir wirklich verzeihen, was ich heute zu dir gesagt habe?" fragte er leise, seine Augen baten um ein ja.
„Aber natürlich, Tom! Was wäre ich denn für eine Frau, wenn ich das nicht könnte!" antwortete sie. Er küsste sie liebevoll, sie streichelte sein Gesicht, streichelte ihn in den Schlaf.
Am nächsten Tag, als sie wieder zu Hause waren, fuhren sie zu Andreas Eltern. Die fielen ihnen um den Hals, bedankten sich herzlich, dass sie gekommen waren. Der kleinen Lea hatten sie noch nichts gesagt, sie hatten es nicht übers Herz gebracht, sie hatten irgendwie gehofft, das würde Sina, an der Lea so sehr hing, in ihrer feinfühligen Art machen.
Doch zuerst brachte der Vater einen Umschlag, beschriftet mit: Tom und Sina.
„Den sollen wir euch geben, falls ihnen etwas geschieht, hat Andrea gesagt!" erklärte er, wischte sich eine Träne aus den Augen. Die Enkeltochter sollte den Großvater nicht heulen sehen.
Die Eltern gingen mit dem Kind hinaus. „Wir lassen euch kurz allein!" erklärte die Mutter.
Sie öffnete das Kuvert, faltete den Bogen auseinander.
Sie lasen zu zweit, was ihre besten Freunde ihnen zu sagen hatten.
Liebe Sina, lieber Tom!
Wenn ihr diese Zeilen lest, sind wir nicht mehr am Leben, und unsere Tochter muss ohne uns aufwachsen. Meine Mutter hat multiple Sklerose, zu Fabians Eltern haben wir seit Jahren keinen Kontakt, wie ihr wisst. Wir haben lange zusammen überlegt, ob wir euch um diesen großen Gefallen bitten dürfen, sehen aber keinen anderen Weg für unser Herzblatt.
Ihr beide seid für uns der Bruder und die Schwester, die wir nie hatten, also Bruder und Schwester im Herzen. Wir möchten euch Lea anvertrauen und euch von Herzen bitten, sie in eurer Familie als Teil von ihr aufzunehmen. Wer, wenn nicht ihr, könnte sie den Verlust ihrer Eltern verkraften lassen! Ihr, die ihr so viel Liebe in euch tragt für alle Menschen, schenkt einen Teil davon unserer Tochter!
Wir hoffen in diesem Moment, dass ihr diesen Brief nie lesen müsst, dass wir ihn in 70 Jahren lachend zerreißen können.
Wenn das Schicksal anders entscheiden sollte, wünschen wir euch allen das Glück der ganzen Welt.
Andrea und Fabian
Sie weinten, heulten, flennten, bis sie keine Tränen mehr hatten.
Datiert war der Brief mit Weihnachten letztes Jahr, wohl nach der gemeinsamen Feier, als Lea den ganzen Abend an Sina gehangen war, an dem Tag, als die Kleine beschlossen hatte, eine Mama und eine Sinamama zu haben.
Sie hatten es ein wenig auf die Eifersucht auf die Zwillinge geschoben, aber Lea war zu den Kleinen herzallerliebst, von Eifersucht war keine Spur zu bemerken.
Beigelegt war ein letzter Wille, der die Vermögensverhältnisse betraf und eine Vollmacht ausgestellt auf Sina und Tom, damit sie im Sinne der Kleinen entscheiden konnten.
Andreas Eltern kamen zurück, lasen die Worte ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes. Sie nahmen es eher gefasst, hatten so etwas wohl vorhergesehen, hatten vielleicht auch keine Tränen mehr.
„Ich habe mit Andrea schon mal darüber gesprochen. Damals, als die Diagnose feststand! Und?" Sie sah Tom und Sina hoffnungsvoll an. „Seid ihr in der Lage, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen?"
Die beiden sahen sich nur kurz an, sahen uneingeschränkte Zustimmung in den Augen des anderen.
„Natürlich!" sagte Sina nur.
Den Eltern fiel ein Stein vom Herzen.
Sie liebten ihre Enkeltochter sehr.
Aber sie wussten auch, dass ein Kind junge Eltern brauchte. Sie waren bei Andrea schon nicht mehr die Jüngsten gewesen, Lea wären sie wohl auch ohne Krankheit nicht mehr gerecht geworden.
Tom kannten sie schon so lange wie Fabian, Sina hatten sie in den letzten Monaten ebenso in ihr Herz geschlossen wie ihren Mann.
„Gut! Ich danke euch im Namen meiner Tochter!" sagte der Vater.
Sie beschlossen, Lea bis nach der Beerdigung hier zu lassen, in der Zwischenzeit ihre Sachen aus der Wohnung zu holen. Sina würde nicht an der Beerdigung teilnehmen, stattdessen Lea auf ihr Leben bei den Bergmanns vorbereiten.
Sie holten die Zwillinge von Patrick und Marie ab, zeigten den Brief.
Marie sah ihren Mann an. „Wir haben auch so etwas verfügt!" gestand sie.
Da konnte Sina nur noch schwarzer Humor vor einem neuen Tränenstrom retten. „Freilich! Ihr macht euch alle vom Acker, und wir stehen dann mit einer Bude voll Kinder da!"
Alle lachten ein bisschen, das Leben musste weitergehen.
Zu Hause machten sie einen Rundruf, bestellten die unwiderstehlichen Zwei plus Oli, dann noch Marc und Bastian ein. Tom mietete einen Transporter. Die Männer brachten Sinas ehemaliges Bett und den Schrank ins Arbeitszimmer. Es wurde ein wenig eng, aber es ging.
Dann holten sie Leas Sachen und Möbel, richteten ihr Zimmer im ehemaligen Gästezimmer ein. Sie bauten auch gleich das zweite Bettchen der Zwillinge wieder auf. Es wurde Zeit, sie daran zu gewöhnen, alleine zu schlafen. Sie wurden zu groß für ein Bett. Es gab zwar am Abend ein mittleres Drama, aber die Eltern blieben hart. Einmal musste es sein!
Die Helfer setzte sich noch mit Sina und Tom zusammen, sie tranken eine Flasche Wein zusammen, tauschten Erinnerungen aus, dachten an Andreas Koch- und Backkünste, ihre Liebenswürdigkeit, an Fabians Humor, seine Selbstlosigkeit, seine Treue, wenn er einen zum Freund gewählt hatte, was ihm nicht so leicht gefallen war wie manchem anderen.
Er war als einziges Kind von wahnsinnig reichen, wahnsinnig ichbezogenen Eltern aufgewachsen, mit zehn ins Internat abgeschoben worden, war immer der Gehänselte, weil er damals klein und schmächtig war.
Der große kräftige Kerl war er erst ab seinem 16. Lebensjahr geworden. Ab da hatte er auch zurückgeschlagen, nicht mit Fäusten, aber mit Taten. Tom öffnete noch eine Flasche, Sina machte Brote, die fast schon heilige Marie hatte eingekauft.
Als sie wieder alleine waren, hielten sie sich lange im Arm. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn, sie waren schon wieder etwas lang, was ihm aber so gut stand, was ihr so sehr gefiel.
Mein Gott, was für Gedanken! Andrea und Fabian waren tot, und sie dachte über Toms Haare nach!
Aber sie hatte Sehnsucht nach Liebe, nach Zärtlichkeit, hatte so viel geweint in den letzten Tagen, würde noch so viel weinen in den nächsten Tagen, aber jetzt wollte sie ihn!
Er fühlte, wie sie sich an ihn presste, war ihr dankbar, dass sie fühlte wie er. Er brauchte ihre Nähe, ihre Weichheit, ihre Anschmiegsamkeit, ihre Liebe. Er brauchte sie. Er hatte ein schlechtes Gewissen bekommen, als er merkte, wie hart er wurde. Sein bester Freund und seine Frau waren tot, auf grausame Art und Weise gestorben. Und er hatte nichts anderes im Kopf als mit seiner Frau zu schlafen!
Aber sie fühlte wie er! Er zog sie ganz nah an sich. „Lass mich dich lieben, Prinzessin!" bat er leise.
„Ja, Tom! Lass uns Liebe machen!" antwortete sie.
Er hob sie auf seine Hüften, ging langsam mit ihr ins Schlafzimmer, küsste sie auf dem ganzen Weg, zärtlich, sehr zärtlich, wie ganz am Anfang, als er noch Angst hatte, sie zu erschrecken mit zu viel an Leidenschaft.
Und genau so liebte er sie: Mit aller Zärtlichkeit, die er ihr geben konnte, wie beim ersten Mal, ohne irgendetwas zu fordern. Als er ihr zeigen wollte, wie gut es war, sich von ihm lieben zu lassen, dass sie nichts fürchten musste, dass sie sich ihm unbesorgt ausliefern konnte.
Danach wusste er, dass das die beste Art war, sie zu lieben: Voll Bewunderung, anbetend, gebend! Das wurde ihr und ihrer Schönheit am meisten gerecht. Natürlich machte es auch manchmal Spaß, etwas wilder zu sein im Bett, etwas frecher, etwas böse! Aber sie so zu lieben wie heute, wie beim allerersten Mal, war am schönsten!
Der Tag der Beerdigung kam. Andreas Eltern brachten Lea vorbei, Tom fuhr mit ihnen weg. Lea strahlte ihre Sinamama an. „Wo sind die Babys?" fragte sie.
„Die schlafen gerade ein bisschen!" antwortete Sina, küsste die Kleine auf ihre blonden Locken.
„Möchtest du etwas essen?" Sina wollte das notwendige Gespräch noch hinauszögern.
„Nein, ich habe bei Oma gegessen! Nudeln mit Sauce!" Sie sah verzückt aus.
„Ein Eis vielleicht?" Sina klammerte sich an jeden Strohhalm.
„Eis gibt es erst nachmittags! Sonst schimpft Mama!" erklärte Lea altklug. „Wo ist Mama?"
Sie hatte nicht allzu oft nach ihren Eltern gefragt, hatten die Großeltern erzählt. Das Mädchen hatte das Urvertrauen, dass Mama und Papa schon wieder zurückkamen.
Sina stiegen die Tränen in die Augen. Sie setzte sich auf das Sofa, zog die Kleine auf ihren Schoß. Normaler Weise hatte sie kein Problem mit Worten, fand meistens genau die richtigen. Aber ein solches Gespräch sollte niemand führen müssen! Niemand sollte einer Dreijährigen erklären müssen, dass die Eltern nicht mehr da waren für sie!
„Lea, weißt du was? Es ist etwas passiert! Mama und Papa kommen nicht mehr zu uns zurück!" Jetzt war es raus.
Lea lachte. „Aber zu mir schon! Bald, hat die Mama gesagt!"
„Nein, Lea! Sie kommen auch zu dir nicht mehr zurück!" Sina schluckte die Tränen hinunter. Sie musste sich zusammenreißen! Um des kleinen Mädchens Willen!
„Warum? Mama hat es versprochen! Und Papa auch!"
„Ja, Süße! Sie haben es versprochen! Und sie wollten auch unbedingt zu ihrem kleinen Mädchen zurück! Aber der liebe Gott hat sie zu sich holen wollen! Sie sind jetzt da oben, auf einer Wolke und sehen zu uns herunter!"
Sina hasste dieses Gequatsche von einem lieben Gott, der einer Dreijährigen die Eltern wegnahm.
Es konnte nichts Böseres geben als einen Gott, der so etwas zuließ!
„Und wer ist dann jetzt meine Mama und mein Papa?" Lea sah sie mit großen Augen an.
„Ich werde deine Mama sein und Tom dein Papa!" sagte Sina leise.
„Aber ihr seid doch schon die Eltern von den Zwillingen!" Lea verstand diese komische Welt nicht, auf der ihre Eltern plötzlich auf eine Wolke geholt wurden von einem lieben Gott, und auf der die Eltern von Annika und Felix plötzlich ihre Eltern sein sollten.
„Das geht schon, Süße!" Sina konnte die Tränen nicht mehr lange zurückhalten. „Tom und ich können Eltern von ganz vielen Kindern sein!"
Lea sah sie ernst an. „Und meine Eltern sind dann nicht böse auf mich, wenn ihr jetzt meine Eltern seid?" Mein Gott, was für ein kluges Mädchen die Kleine doch war.
„Nein, Lea! Die sind sogar sehr glücklich! Die haben Tom und mir einen Brief geschrieben, bevor sie auf die Wolke gegangen sind! Dass wir jetzt deine Eltern sein sollen, weil sie ja nicht mehr da sind!"
„Aha!" Lea war dann mal einverstanden. Vielleicht kamen Papa und Mama ja auch wieder zurück von ihrer Wolke, bis dahin hatte sie dann eben eine Sinamama und einen Tompapa.
Die Beerdigung war eine einzige psychische Qual. Tom war froh, dass Sina das erspart blieb, obwohl er auch nicht hätte tauschen wollen! Der Kleinen erklären zu müssen, dass ihre Eltern nicht mehr zurückkommen würden, hätte ihn total überfordert. Aber Worte waren Sinas Ding, sie würde es schaffen, wer denn sonst?
Die Kirche war rappelvoll, Fabian und Andrea waren sehr beliebt gewesen. Auch viele Unfallopfer waren gekommen, denen er das Leben gerettet hatte, zum Teil auch aus den Bergen oder dem bayerischen Wald.
Von Mund zu Mund hatte sich die schreckliche Nachricht verbreitet.
Fabians Eltern hatten es nicht für nötig befunden, ihre derzeitige Weltreise zu unterbrechen, hatten dafür einen protzigen Kranz liefern lassen, der den anderen Blumenschmuck nahezu erdrückte.
„Wir trauern um unseren einzigen, geliebten Sohn" stand auf der Schleife.
Tom packte die Wut, als er die Worte las.
Andrea wurde nicht einmal erwähnt!
Und: geliebter Sohn!
Dass er nicht lachte!
Als Fabian sich weigerte zu studieren, trotz sehr gutem Abitur, war er aus dem Gedächtnis der Eltern verschwunden, wobei er auch vorher schon dort nicht allzu gegenwärtig gewesen war! Aber mit einem Rettungsassistenten konnte man eben nicht so protzen vor den Freunden, wie mit einem Dr. was auch immer! Sie hatten sowohl seine Heirat als auch die Geburt seiner Tochter ignoriert.
Der Gottesdienst schleppte sich dahin. Andreas Mutter hatte Tom nach vorne in die erste Reihe gebeten, wusste, neben den Eltern war er dem jungen Paar am nächsten gestanden.
Bei der Trauerrede des Priesters horchten die Trauergäste auf. Seine Worte trafen alle mitten ins Herz, charakterisierten die beiden so gut, dass alle staunten. Alle außer Tom, der wusste, dass seine Sina die Rede geschrieben hatte.
„Was die sonst immer alles verzapfen! Nichtsagender Lebenslauf, den alle kennen, und dann so Sätze wie: Er war ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft!" Sie hatte den Pfarrer angerufen, ihm vorgeschlagen, ein paar wichtige Dinge aus Andreas und Fabians Leben aufzuschreiben. Der hatte das Angebot dankend angenommen, ihren Text eins zu eins übernommen.
Sie berichtete so anschaulich über Gefühle, Gedanken und Ereignisse aus dem Leben des Ehepaares, dass alle Trauernden das Gefühl hatten, sie wären mitten unter ihnen. Kleine Anekdoten charakterisierten die Verstorbenen, ließen manches Lächeln in den Gesichtern aufleuchten.
Andrea hätte gesagt: „Jetzt esst mal was Gutes, und dann ist gut mit dem Gejammere!" Und Fabian: „Schluss mit der Trauer! Jetzt feiert das Leben!"
„So leicht werden wir alle es nicht haben, aber irgendwann einmal werden wir den beiden gehorchen!" schloss der Geistliche.
Andreas Eltern lächelten leicht, der Tränenstrom war kurz versiegt.
Die Mutter flüsterte Tom zu: „Das hat Sina geschrieben, oder?"
„Ja!" antwortete er leise.
„Sag ihr, wir danken ihr von Herzen! Wir hatten ein wenig Angst vor der Rede, dass sie den beiden nicht gerecht wird! Aber sie hat ein solches Talent, etwas auszudrücken!"
„Ja, ich weiß!" sagte er, und ein großes Glück durchflutete ihn.
Am Grab gab es dann endlos Beileidsbekundungen, aber irgendwann einmal war auch das überstanden.
Tom stützte Andreas Mutter, die an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt war.
Leichenschmaus gab es keinen, den Eltern fehlte die Kraft dazu. Tom lud spontan die engsten Freunde ein, mit zu ihm nach Hause zu kommen. Er überlegte kurz, Sina zu fragen, wusste aber, dass sein Mädchen keine Einwände haben würde.
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